Hamburg. Petersen, Sieveking, Hagenbeck – diese Namen kennt fast jeder in der Stadt. Auftakt zur Serie über große hanseatische Traditionen.
Er war eine Persönlichkeit mit vorzüglichen Manieren, exzellenten Kontakten und ausgeprägtem Gewinnstreben. Er wusste, wie man schwarze Zahlen schreibt. Männer seines Formats brauchte die aufstrebende Hansestadt Mitte des 18. Jahrhunderts. Internationaler Handel belebte Hamburgs Wirtschaft. Wer als Pfeffersack mit solidem Geschäftsgebaren, pekuniärer Weitsicht und Wagemut einzahlte, durfte sich über ein sattes Plus auf der Habenseite freuen. Unter dem Strich profitierten alle davon.
Der Siebenjährige Krieg war just überstanden, da machte sich 1764 Jaques de Chapeaurouge auf den Weg nach Hamburg. In Genf gehörte seine Familie seit dem 15. Jahrhundert zu den maßgeblichen Dynastien. Aus dem Französischen übersetzt heißt Chapeaurouge „Roter Hut“. Man bekleidete höchste politische und diplomatische Ämter. Rasch bewies der Neuling urhanseatische Tugenden. Er verfügte über ein einnehmendes Wesen – in jeder Beziehung.
Forierendes Atlantikgeschäft
Herr de Chapeaurouge, ein politisch aufgeklärter Mensch, startete im Handelshaus Diodati & Poppe nahe der Börse, wurde Teilhaber und trug zum florierenden Atlantikgeschäft bei. Ob Waffen oder Zucker, Hauptsache, der Taler rollte. Er heiratete eine Marie Elisabeth Hadorne, erwarb das Hamburger Bürgerrecht, wurde Reeder. Im östlich der Stadt gelegenen Dorf Hamm ließ er ein komfortables Landhaus errichten, den Hammer Hof.
Ein schlauer Schachzug, denn alsbald wurde de Chapeaurouge unter Hausarrest gestellt. Bei einer umfangreichen Getreidelieferung hatte er die revolutionäre Regierung Frankreichs und englische Auftraggeber über den Tisch gezogen, nachdem er die durch Britannien blockierte Ware nach Freigabe in Livorno verkaufte, dies den Franzosen verschwieg - und doppelt kassierte. Das gab Ärger.
300 Seiten starke Chronik
„Seinem Nimbus in Rathaus und Kaufmannschaft tat dieses krumme Geschäft keinen Abbruch“, sagt sein Nachfahre Jean Jaques de Chapeaurouge gut 250 Jahre später. Genüsslich erzählt er diese Episode aus einer an Erlebnissen reichen, fast sechs Jahrhunderte alten Familiengeschichte. Sie ist Bestandteil einer 300 Seiten starken Chronik, an der Jean Jaques de Chapeaurouge seit zehn Jahren arbeitet. Bestimmt ist das Werk ausschließlich für den Privatgebrauch. Die Kinder sollen später von ihren Wurzeln wissen. Das Buch ist eine Geschichte für sich.
Jean Jaques de Chapeaurouge sitzt neben Ehefrau Dorothee und Tochter Isabeau im Wohnzimmer des rot geklinkerten Privathauses in den Elbvororten. Die beiden erwachsenen Söhne studieren außerhalb. Zwei agile Hunde sorgen für zusätzliches Leben daheim. Das Gebäude zeugt von solidem, stilvollem Bürgertum; indes herrscht keinerlei Protz. Gediegen ist die korrekte Beschreibung. So hielt es die Familie von jeher.
Apple an den Jungfernstieg geholt
Motto: Wohlstand muss erarbeitet werden. Dorothee, aufgewachsen in Hameln, und Jean Jaques lernten sich während des Studiums in Göttingen kennen. Sie ist Betriebswirtin, er Jurist. Als Projektentwickler hat er den Bau markanter Gebäude wie des Metropolis-Hauses, des St.-Petri-Hofs oder die Neugestaltung des Neuen Walls verantwortet. Er hat Apple an den Jungfernstieg geholt und kümmert sich mit seinen Partnern in der HPE Hanseatische Projektentwicklung aktuell um namhafte Traditionshäuser am Bremer Marktplatz.
„Ja, wir gehen bewusst mit unserer Familiengeschichte um“, sagen die beiden erwachsenen de Chapeaurouges unisono. Geschenkt indes gebe es dafür nichts. „Ich mache mir darüber gar nicht viele Gedanken“, bemerkt die 16-jährige Tochter. Auch sie steht mit beiden Beinen auf dem Erdboden. Zuvor hatten Freunde auf diskrete Nachfrage bestätigt: „Es handelt sich um eine normale, sympathische Familie.“
Generationsübergreifendes Fest
Soziales Engagement gehört dazu. Immer schon. Die „Niederländische Armen Casse von 1585“ und andere Stiftungen sind schon lange Betätigungsfeld hanseatischer Familien. Die „Armen Casse“ kümmert sich – ohne Getöse - um bedürftige Hamburger. Sie ist ein stiller, wirkungsvoller Wohltäter der Hansestadt. Dorothee de Chapeaurouge engagiert sich mit viel Herzblut für die Stiftung „Ein Platz für Kinder“. Bedrohten Kindern werden Schutzhäuser zur Verfügung gestellt.
Damit der Spaß nicht zu kurz kommt, organisieren beide in Allianz mit drei anderen Ehepaaren den „Insel Ball“ im Hotel Atlantic. Dieses generationsübergreifende Fest, aus einer 1946 etablierten Teeveranstaltung hervorgegangen, gilt als der vornehmste private Ball Hamburgs. Er wird im Zweijahresrhythmus zelebriert. Im Januar 2019 werden wieder 420 Gäste dabei sein.
Paul de Chapeaurouge erhielt Berufsverbot
Frau de Chapeaurouge schenkt aus einer Silberkanne Tee nach. Die Petits Fours schmecken nach mehr. Ein Moment der Muße gibt Gelegenheit, den Blick zwischen dem altehrwürdigen Mobiliar, den Ölgemälden und den Bücherregalen umherschweifen zu lassen. Das Blättern in der Chronik, in alten Unterlagen und den privaten Fotoalben macht Freude. Es handelt sich um Hamburger Geschichte zum Anfassen. Erstaunlich, wie viele Jahreszahlen, Namen und Fakten Jean Jaques de Chapeaurouge zusammengetragen hat. Ehefrau Dorothee unterstützt ihn nach Kräften.
Beide profitierten vom profunden Wissen des Onkels Edmund de Chapeaurouge. Der mittlerweile verstorbene frühere Bundesverwaltungsrichter hatte ein Faible für die Historie seiner Sippschaft. Immer zu Weihnachten pflegte Onkel Edmund ein Brevier zu verschicken, gespickt mit historischen Fakten, aber auch Döntjes. Dieses Wissen bereichert nun die Chronik.
Calvinistische Reformation vorangetrieben
Das fast fertige Buch enthält die Wurzeln der de Chapeaurouges in Genf. Die Urväter trieben die calvinistische Reformation voran, unterstützten die Aufklärung in Europa und die Revolution in den USA, hielten Mitte des 18. Jahrhunderts engen Kontakt zu Jean-Jacques Rousseau, dem großen Philosophen der Aufklärung. Die Norddeutschen staunten, als Jaques de Chapeaurouge vor seiner Villa in Hamm die Trikolore hissen ließ – als Zeichen der Sympathie für die Französische Revolution.
Diesen Idealen eines freien, liberalen Geistes blieb der Hamburger Zweig der Dynastie treu. Die Schweizer Seite ist heutzutage ausgestorben. Während sich Jaques de Chapeaurouge nach 1764 in Hamburg als Kaufmann einen Namen machte, brillierten seine Nachfahren auch in politischen Ämtern. Dazu trug die teilweise Verschmelzung der nunmehr hanseatischen Familie de Chapeaurouge mit dem Clan der Sievekings durch Hochzeit bei.
Übergriffe der SA
Um eine lange Geschichte kurz zu machen: Jaques’ Sohn Jean Dauphin de Chapeaurouge war während der Franzosenzeit zwischen 1806 und 1814 Erster stellvertretender Bürgermeister Hamburgs. Paul de Chapeaurouge, Großvater von Jean Jaques, bekleidete von 1925 bis 1933 das Senatorenamt. Als er sich gegen die Übergriffe der SA wehrte, erteilten die Nazis dem Notar Berufsverbot und versuchten ihm den Prozess zu machen.
Nach Kriegsende vertrat der Liberalkonservative Paul de Chapeaurouge gemeinsam mit dem Sozialdemokraten Adolph Schönfelder den Stadtstaat Hamburg im Parlamentarischen Rat. Beiden zählten also zu den „Vätern des Grundgesetzes“. De Chapeaurouge wurde später Fraktionsvorsitzender der CDU in der Bürgerschaft. Er starb 1952.
1993 wurde Alfred de Chapeaurouge im Familiengrab auf dem Ohlsdorfer Friedhof bestattet. Der Diplomat und Notar genoss als Grandseigneur der Hamburger CDU und als visionärer Europapolitiker einen gleichfalls erstklassigen Ruf. Der Hanseat saß 30 Jahre in der Bürgerschaft, davon 16 als deren Erster Vizepräsident. An der Seite Konrad Adenauers war Alfred de Chapeaurouge einer der Architekten der deutsch-französischen Freundschaft.
Zurück in die Gegenwart. Sein Sohn Jean Jaques entschuldigt sich für einen Moment. Mit zwei Schätzen kehrt er zurück. Der eine ist ein etwa zwei Jahrhunderte altes, gerahmtes Ölgemälde des Schweizer Künstlers Pierre-Louis Bouvier. Abgebildet ist der Hamburger Kaufmann Corneille Guillaume de Chapeaurouge (1774–1819). Und in einer Schatulle wird eine uralte Stofftasche mit dem Wappen des Geschlechts de Chapeaurouge verwahrt.
Familienbande werden gepflegt
Die Familienbande werden gepflegt. In Wuppertal lebt der Kunstprofessor Donat de Chapeaurouge, in Frankfurt der älteste Bruder Ami Dauphin de Chapeaurouge. Zudem wohnen zwei Vettern in Buenos Aires. „Irgendwann“, sagt Dorothee de Chapeaurouge bei einer weiteren Tasse Tee, „wird es wieder ein Familientreffen geben.“ So wie es zum guten Ton in einer der ältesten und vornehmsten Dynastien Hamburgs gehörte.