Hamburg. Die Lage rund um den Bahnhof in Altona ist kaum noch zumutbar. Die Anwohner sind frustriert. Doch eine Lösung ist nicht in Sicht.
Von den meisten Hamburgerinnen und Hamburgern unbemerkt, hat sich rund um den Bahnhof Holstenstraße binnen weniger Jahre eine weitgehend offene Drogenszene entwickelt. Die Abhängigen konsumieren mittlerweile öffentlich und mitten am Tag harte Drogen, belästigen Passanten und Geschäftsleute vor Ort. Und: Die Szene dringt auch in die bürgerlichen Wohnstraßen der näheren Umgebung vor. Ein Termin vor Ort.
Schon von Weitem ist die Gruppe der Abhängigen zu sehen, die im Inneren des Bahnhofs Holstenstraße neben den Fahrkartenautomaten zusammensteht. Eine Pfeife wird angezündet, Rauch steigt auf. Die Passanten schlagen ihre Jackenkragen hoch, versuchen sich irgendwie durch die Gruppe zu zwängen. Ohne ungewollte Berührung ist kaum ein Durchkommen möglich, und mit Gepäck haben es die Bahnhofsnutzer doppelt schwer.
Ein Mann schiebt seinen Kinderwagen auf die Gruppe zu, dann dreht er kopfschüttelnd um und läuft außen an der S-Bahn-Unterführung vorbei. So sieht er aus, der Alltag am Bahnhof Holstenstraße.
Drogen-Hotspot Holstenstraße: Anwohner verzweifelt
Nur wenige Hundert Meter entfernt liegt die Suttnerstraße mit dem Bertha-von-Suttner-Park – eine grüne Oase mitten im Gewusel der Großstadt. Wohnblocks aus den 1950er-Jahren wechseln sich mit schmucken Neubauten ab, der Lärm der großen Ausfallstraßen wird abgeschirmt, es gibt überraschend viel Grün. Isabel Maaß ist eine besonnene Frau. Seit 2009 wohnt sie an der Suttnerstraße, aber die Zustände vor Ort belasten sie zunehmend.
Beim täglichen Hundespaziergang registriert sie immer wieder Müll, Fäkalien und bröselige Reste irgendwelcher harter Drogen. Den hübschen Kinderspielplatz kann sie von ihrem Hauseingang aus sehen, aber auch Dealer und deren „Kunden“ beim täglichen Austausch. „Es ist wirklich distanzlos geworden“, sagt Maaß, „mittlerweile verstecken die das Zeug nicht mal mehr.“ Sie ist kämpferisch: „Man kann nicht immer wegsehen“, sagt sie, „man muss auch mal Stellung beziehen.
Anwohner wandten sich an Bezirksamt Altona
Viele Familien sind in den vergangenen Jahren hierhergezogen und haben mit den Alteingesessenen schnell eine bunt gewürfelte Nachbarschaft gebildet. Freundschaften sind entstanden, man kennt und grüßt sich. Die Menschen in diesem gemischten Milieu sind von Haus aus tolerant und lassen sich nicht leicht aus der Ruhe bringen. Doch mittlerweile reicht es ihnen. Sie haben eine Anwohnerinitiative gegründet und sich mit konkreten Vorschlägen und Forderungen an das Bezirksamt Altona gewandt.
Christian C., der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, lebt mit seiner Familie seit 2014 ebenfalls hier – „jahrelang sogar sehr gerne“, wie er sagt. Doch er ist zunehmend desillusioniert. „Wir sind nun seit Monaten alle miteinander im Gespräch, aber was sind denn die Ergebnisse?“ Von „Worthülsen“ spricht er. Und davon, dass man inhaltlich aktuell auf demselben Stand sei wie im Sommer, als sich die Initiative an die Stadt gewandt hatte. Maaß und Christian C. berichten von Süchtigen, die die angrenzenden Treppenhäuser als Toiletten und für den Drogenkonsum nutzen.
Auch für Kinder ist Situation belastend
„Neulich kam ich mit meinen beiden Kindern die Treppe runter, als ein Pärchen im Treppenhaus gerade sein Drogenbesteck auspackte“, sagt Christian C. „So wachsen die Kinder hier mittlerweile auf. Das muss man sich mal vorstellen.“ Es werde auch enorm viel gestohlen, berichtet er – Jacken und Kinderroller, eben alles, was sich schnell „verticken“ lässt. Doch die beiden Anwohner wollen nicht falsch verstanden werden.
Immer wieder machen sie klar, dass sie auch Mitgefühl mit den Drogenabhängigen haben und dass sich ihr Zorn vor allem gegen die Dealer richtet. „Meine Kinder erleben immer wieder, dass die Süchtigen vertrieben werden“, sagt Christian C., „dass die Polizei kommen muss und Ähnliches mehr. Ich versuche ihnen dann zu erklären, dass das eben keine ,bösen Menschen‘ sind, sondern dass die Hilfe brauchen.“
Verstärkter Einsatz von Polizei und Stadtreinigung
Die Bezirkspolitik hat reagiert und sieht die Entwicklung vor Ort bereits auf dem richtigen Weg. „Aufgrund der aktuell angespannteren Situation rund um den Holstenbahnhof wird seit einigen Wochen mit zusätzlichem Personal aufseiten der Stadtreinigung und der Polizei gearbeitet“, sagt Mike Schlink, Sprecher des Bezirksamts, auf Abendblatt-Anfrage.
„Die Bezirksversammlung und das Bezirksamt sind bemüht, zum einen den Einsatz der Straßensozialarbeit zu erhöhen und zum anderen den Kontakt mit den Bürgerinnen und Bürgern vor Ort zu intensivieren. Dazu gibt es inzwischen einen moderierten Austausch, der erneut am 23. November stattfinden wird.“
„Es geht in eine gute Richtung"
Zweimal hat es diesen Austausch zwischen Bezirksamt, Anwohnerinitiative, Gewerbetreibenden, Polizei und Sozialarbeitern bislang gegeben. Moderiert wird er von Carsten Hokema, Pastor an der Christuskirche am Suttnerpark und ebenfalls Anwohner. Er ist vom Einsatz des Bezirksamts und der Polizei angetan und sieht erste Erfolge: „Es geht in eine gute Richtung. Seit die Polizeipräsenz verstärkt wurde, ist die Dealerei deutlich zurückgegangen. Das spricht sich rum.“
Diesen Eindruck bestätigt auch die Polizei selbst: „Bei polizeilicher Präsenz im Bereich des Bahnhofsumfelds findet eine wahrnehmbare Verdrängung von Betäubungsmittelkonsumenten statt“, sagt ein Sprecher auf Anfrage. „In dem betreffenden Bereich werden dauerhaft zwei Beamte des Besonderen Fußstreifendienstes eingesetzt.“
Konsum von Crack und Herion im Bahnhofsbereich
Christian C. ist da skeptischer. „Man muss doch mal deutlich sagen: Die Polizei geht hier verstärkt Streife, aber sobald die weg sind, ist alles gleich wieder wie vorher.“ Aufgeben und Wegziehen kommt für ihn nicht infrage, aber er sagt auch: „Wir hören viele Worte, aber es gibt zu wenig Taten.“ Wie brisant die Lage ist, zeigt sich daran, dass seit Juni drei schriftliche Kleine Anfragen zum Thema an den Senat gestellt wurden.
Laut Polizei werde im Bahnhofsbereich überwiegend Crack und Heroin konsumiert. Doch warum ist ausgerechnet der Bahnhof Holstenstraße zum Drogen-Hotspot mutiert? „Das Bezirksamt Altona beobachtet seit längerer Zeit, dass sich vermehrt Menschen mit einer Drogen- oder Alkoholabhängigkeit im Bereich rund um den S-Bahnhof Holstenstraße aufhalten“, sagt Bezirksamtssprecher Schlink.
„Es ist wie eine Art Drogentourismus“
„Die Anzahl der Kernklientel beläuft sich auf etwa 60 Personen. Zum Teil sind aber auch neue
Personengruppen mit eigenen Suchtproblematiken im Umfeld des Bahnhofs anzutreffen“, so Schlink. „Dabei ist grundsätzlich festzuhalten, dass das Bahnhofsumfeld von vielen als Ort wahrgenommen wird, um am Leben im öffentlichen Raum teilzunehmen. Darüber hinaus gibt es eine gute Erreichbarkeit.“
Im Klartext bedeutet das: Es kommen seit einiger Zeit deutlich mehr Abhängige aus anderen Gegenden zur Holstenstraße – ein Eindruck, den auch die Anwohner teilen. „Es ist wie eine Art Drogentourismus“, sagt Christian C. „Immer wieder tauchen hier neue Gruppen auf, das ist ganz deutlich zu beobachten.“
Lage am Bahnhof hat sich verschärft
Auch Sozialarbeiter Florian Pittner, der im Bereich rund um die Holstenstraße im Einsatz ist, erlebt hautnah, dass sich die Lage verschärft hat. Er arbeitet für den Verein „Palette“, der zusammen mit „fördern und wohnen“ seit Februar 2020 eine Begegnungs- und Beratungsstelle für Obdachlose und Suchtkranke an der Stresemannstraße 150 betreibt: „Die Szene hat sich partiell nach hier verlagert“, sagt er, „der Peak war im Sommer 2021.“
Vertreibung der Abhängigen sieht Pittner nicht als Lösung des Problems: „Sie verschwinden ja nicht, sondern tauchen woanders wieder auf.“ Sein Vorschlag: „Man muss intensiv in Sozialarbeit investieren, städtebauliche Maßnahmen treffen und die nötige Infrastruktur schaffen.“
„Drug-Free-Zone“-Schilder sollen sensibilisieren
Die Infrastruktur zu verbessern – das ist auch ein Teil der Maßnahmen, die sich die Beteiligten des runden Tischs zum Ziel gesetzt haben. Dazu gehören beispielsweise die Installation öffentlicher Toiletten oder das Aufstellen von Spritzencontainern. Um die Situation insgesamt weiter zu befrieden, wurde auch der sogenannte Trinker-Kiosk am Düppelplatz entfernt, so Bezirksamtssprecher Schlink. Darüber hinaus plane das Bezirksamt in Altona-Nord eine weitere Station der Straßensozialarbeit für Menschen bis 27 Jahre zu etablieren.
Allerdings fordern die Anwohner auch eine „Sensibilisierung“ der Abhängigen und Wohnungslosen. Sie sollen verinnerlichen, an bestimmten Orten wie vor der Kita am Bertha-von-Suttner-Park, vor Geschäften, auf dem Spielplatz oder in Hauseingängen keine Drogen zu nehmen und sich an die Regeln der Drogenambulanz in der Holstenstraße zu halten. Um das deutlich zu machen, wurden bereits „Drug-Free-Zone“-Schilder an den betreffenden Orten aufgehängt. Ein erster Schritt, immerhin.
Passanten werden von Junkies belästigt
Nicht nur Anwohnerinnen und Anwohner sehen das Problem, sondern auch die Gewerbetreibenden vor Ort. „Die Familien, die hier wohnen, werden doch komplett allein gelassen“, sagt Ugur Düzagac, Betreiber der direkt am Bahnhof gelegenen Schanzenbäckerei. „Einige Eltern haben mir gesagt, dass sie ihre Kinder nicht mehr eigenständig zum Brötchen holen gehen lassen.“ Seiner Meinung nach gehe die Politik in den Gesprächsrunden zu sehr auf die Interessen der Abhängigen ein. „Beim letzten Mal wurde nur darüber geredet, dass sie eine Dixi-Toilette bekommen und kein Wort über Kinder und Familien verloren.“
Düzagac erlebe täglich, dass Passanten und Kunden von Junkies belästigt werden. Darauf angesprochen würden manche auch handgreiflich. „Die Polizei ist dann manchmal erst da, wenn die schon wieder weg sind“, kritisiert er. Nach wie vor werde regelmäßig öffentlich Crack oder Heroin konsumiert. „Die machen das auch vor Kindern. Von der Verschmutzung der Gehwege ganz zu schweigen.“ Dieses Problem sieht auch Sozialarbeiter Pittner: „Es geht natürlich nicht, dass Spritzen rumliegen oder dass sieben Leute im Bahnhof stehen und Crack konsumieren und da Familien mit ihren Kindern vorbei müssen.“
Drogen-Hotspot Holstenstraße: Blume fordert bessere Beleuchtung
Auch Pastor Hokema sagt: „Ich toleriere den öffentlichen Konsum nicht, ich weiß aber, wie schnell jeder in so eine Situation geraten kann.“ Die Vorsitzende des Altonaer Sozialausschusses, Katarina Blume (FDP) kritisiert: „Alle bislang vorgeschlagenen Maßnahmen sind nicht der große Wurf, das muss man mal deutlich sagen.“ Die Untätigkeit der Sozialbehörde ist für sie „nicht hinnehmbar“, sie fordert für die Gegend unter anderem eine höhere Reinigungsfrequenz und eine bessere Beleuchtung. Doch Blume weiß auch: „Wenn die Szene vom Suttnerpark weggedrängt wird, ploppt sie andernorts wieder auf. Das Problem geht viel tiefer.“
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Altonas Bezirksamtsleiterin Stefanie von Berg (Grüne) mahnt zur Geduld und fordert von allen Seiten Verständnis: „Ich nehme die Sorgen der Anwohnerinnen und Anwohner und Gewerbetreibenden vor Ort sehr ernst.“ Das gelte aber auch für die Nöte der Hilfsbedürftigen auf der Straße. „Mir ist bewusst, dass hier eine schnelle Lösung gewünscht wird“, so von Berg, „ich möchte aber eine gute, nachhaltige Lösung erreichen. Und deswegen setzen wir im Bezirksamt auf einen intensiven Austausch mit vielen Beteiligten.“