Hamburg. Die Sozialsenatorin steht beim Kampf gegen Corona in der ersten Reihe. Hier spricht sie über Briefe von Querdenkern – und Persönliches.

Vor vielen Wochen hatten sich Hamburgs Gesundheits- und Sozialsena­torin Melanie Leonhard und Abendblatt-Chefredakteur Lars Haider zu einem Gespräch verabredet – in der Hoffnung, am Jahresende auch auf das Ende der vierten Corona-Welle und damit vielleicht das Auslaufen der Pandemie blicken zu können.

Es ist anders gekommen, die große Krise geht weiter. Und die Frau, die heute in unserer Podcast-Reihe „Entscheider treffen Haider“ zu Gast ist, steht beim Kampf gegen das Virus in der ersten Reihe. Ein Gespräch über ihr Leben als Pandemie-Senatorin, „kluge“ Ratschläge von Politikern aus Süd- oder Ostdeutschland, über Olaf Scholz und Karl Lauterbach – und die Entwicklung in Südafrika, die Hamburg Mut machen könnte.

Das sagt Melanie Leonhard über …

… die Frage, ob es ihr so geht wie vielen, die angesichts der Pandemie nicht mehr können und sehr müde sind:

„Natürlich hatte ich gehofft, dass man Ende Dezember einen Schlussstrich unter die Pandemie setzen und darüber sprechen kann, was wir daraus lernen. Das ist jetzt erkennbar nicht der Fall. Ich habe mir angewöhnt, bestimmte Sachen in dieser Pandemie nicht mehr zu hinterfragen. Es ist, wie es ist, und wir arbeiten Tag für Tag, so gut wir können. Anders würde man nach 20 Monaten Pandemie auch gar nicht zurechtkommen.“

… Momente, in denen sie im zu Ende gehenden Jahr abschalten konnte:

„Es gab wenige dieser Momente. Ich hatte zwei, drei Tage im Sommer, an denen ich mit meiner Familie wandern war, da war die Pandemie für ein paar Stunden ganz weit weg.“

… ihren Alltag als Pandemie-Senatorin:

„Mein Morgen beginnt mit den ersten Impfzahlen, mit den Nachrichten darüber, was sich in Sachen Pandemie in der Nacht zugetragen hat. Anfang Dezember ging es zum Beispiel darum, wie viele Patienten aus anderen Bundesländern nach Hamburg gekommen sind, was in den Krankenhäusern und anderen Einrichtungen los war. Es geht morgens sehr früh los mit den ersten E-Mails, weshalb ich angefangen habe, mir Verhaltensregeln aufzulegen. Eine ist, dass ich das Handy wenigstens erst dann anmache, wenn ich im Bett sitze … Und abends bin ich ab 23 Uhr nicht mehr online, weil ich sonst überhaupt nicht abschalten könnte.“

… der kritischste Moment des Jahres 2021:

„Ich glaube, das war das erste Adventswochenende, an dem die Nachrichten von einer neuen Virusvariante aus Süd­afrika kamen und es schon wieder darum ging, ob wir den Hamburger Flughafen schließen sollen. Da hatte ich ein Déjà-vu, weil genau ein Jahr zuvor die ersten Nachrichten von einer Variante aus Großbritannien eintrafen, die besonders ansteckend sein und sich schnell verbreiten sollte … Die Erinnerung an die vergangene Weihnachtszeit kam wieder hoch, und ich ahnte, dass das alles wieder von vorn losgehen könnte.“

… Bürgermeister Peter Tschentscher, ihren Chef, der auch Arzt ist:

„Es ist gut, dass wir einen Bürgermeister haben, der Arzt ist, weil ich ihm bestimmte Dinge nicht erklären muss. Wenn ich sage, dass eine Virusvariante in ihrer Verbreitungsgeschwindigkeit schon ziemlich dicht an der von Masern ist, weiß er, um was es geht und was das bedeutet.“

… schnelle Entscheidungen, wie Hamburg sie vor Weihnachten getroffen hat:

„Zeit spielt in der Pandemiebekämpfung eine wahnsinnig wichtige Rolle. Eine zu spät ergriffene Maßnahme muss manchmal viel länger dauern als eine, die man schnell umgesetzt hat. Es ist nicht schön, dass wir das vor Weihnachten verkünden mussten. Aber wir verbinden damit die Hoffnung, dass bestimmte Einschränkungen nicht zu lange aufrechterhalten werden müssen. In Hamburg sind die Zahlen in den vergangenen Tagen schneller hochgegangen als in anderen Bundesländern. Wir hoffen, dass wir mit dieser Entwicklung auch schneller durch sind. Wenn man sich den Verlauf der Omikron-Welle in Südafrika ansieht, kann man, Stand jetzt, diese Hoffnung haben. Nach allem, was wir bisher wissen, wird rechtzeitiges und konsequentes Handeln belohnt.“

… das nicht aus der Welt zu bekommende Gerücht, dass die Impfungenunfruchtbar machen könnten:

„Es gibt ohne Ende Frauen, die geimpft und inzwischen schwanger sind. Trotzdem ist dieses Gerücht, für das es keinerlei wissenschaftliche Belege gibt, weiter im Umlauf, und auch ich frage mich, warum das so ist. Wahrscheinlich hat es mit menschlichen Urängsten zu tun, mit den Sorgen um die eigenen Nachkommen, die dieses Gerücht besonders bedienen. Im deutschsprachigen Raum kommt zudem noch eine Skepsis gegenüber Dingen, die von außen in den Körper eingebracht werden, dazu. Das betraf früher bestimmte Medikamente, das betraf auch die ersten Impfstoffe.“

… die Reaktionen der Menschen auf die Corona-Politik:

„Der Ton ist im vergangenen halben Jahr schon aggressiver geworden. Und damit meine ich nicht nur Briefe von Querdenkern oder Impfgegnern, die ich bekomme, sondern auch Reaktionen von Unternehmern, die ihre Geschäfte wegen der Pandemie nicht öffnen können oder aufgeben müssen, von Menschen, die keinen Boostertermin erhalten, oder von Geimpften, die keine Lust mehr haben, auf Ungeimpfte Rücksicht zu nehmen. Ich werde inzwischen selbst beim Einkaufen im Supermarkt angesprochen. Der klassische erste Satz lautet: „Sie sind doch die Leonhard …“ Wobei es nicht immer Kritik gibt, es sind auch freundliche Kommentare dabei.“

… eine Impfpflicht:

„Wir kommen an einer Impfpflicht nicht vorbei, wenn wir die Pandemie in diesem Winter nicht in den Griff kriegen. Und sie wäre aus meiner Sicht verfassungsrechtlich auch unbedenklich. Wichtig ist, dass alle anderen Instrumente ausgeschöpft sind, aber darauf läuft es ja ziemlich zu. Wir haben einen Sommer lang auf Argumente und Anreize gesetzt, was in den Bundesländern unterschiedlich funktioniert hat. Allmählich müssen wir den Schaden für die Gesellschaft nicht aus der Sicht derjenigen bewerten, die sich gegebenenfalls impfen lassen müssen, obwohl sie es nicht wollen. Entscheidend muss allmählich die Perspektive jener sein, die sich immer noch einschränken müssen, obwohl sie längst geimpft oder sogar geboostert sind. Die sind deutlich in der Mehrheit. Ich bekomme viele Briefe von diesen Menschen, die unruhig und ärgerlich werden, was ich verstehen kann. Die möchten einfach nicht noch so einen Winter erleben.“

… Ministerpräsidenten, die viel in Talkshows auftreten und fordern, während in ihren Ländern die Infektionszahlen explodieren:

„Ich will nicht verhehlen, dass ich schon manches Mal etwas in der Zeitung gelesen oder im Fernsehen gesehen habe und erst einmal die Tür zumachen musste, um laut zu schreien. Am wenigsten gern hat man handlungsleitende Hinweise von anderen Politikern: Es ist immer angeraten, vor der eigenen Tür zu kehren, bevor man anderen vorwirft, dass sie nicht richtig sauber machen.“

… die Suche nach einem Bundesgesundheitsminister:

„Ich wusste, dass es im Bund eine Menge gute Leute gibt, die dafür infrage kommen, und war gar nicht in Sorge, dass das auf mich hinauslaufen könnte. Es wäre allein schon sehr schwer zu begründen gewesen, nach einem Kanzler und einem Kanzleramtsminister und einem Regierungssprecher auch noch eine Ministerin aus Hamburg zu berufen. Außerdem finde ich es in Hamburg sehr schön.“

… Karl Lauterbach:

„Ich wusste, dass er in der engeren Auswahl ist. Man trifft Personalentscheidungen vor seinem eigenen Hintergrund, aber auch in der Zeit und in der Lage, in der man gerade ist. Es ist auf jeden Fall nicht unplausibel aus Sicht von Olaf Scholz, einen Arzt, der auch Epidemiologe ist, in einer solchen Situation zum Gesundheitsminister zu machen.“

… den Kanzler Olaf Scholz:

„Ich habe im Bekanntenkreis schon das ganze Jahr vorhergesagt, dass Olaf Scholz Bundeskanzler wird, auch, wenn ich dafür belächelt wurde. Es war ganz klar und kein Geheimnis, dass der Erfolg der CDU sehr eng mit der Person Angela Merkel verknüpft war. Als sie nicht mehr zur Wahl stand, war das Rennen offen, und ich hatte nie einen Zweifel daran, dass Olaf Scholz eine echte Chance hat.“

… ihre Doppelrolle als Sozial- und Gesundheitssenatorin:

„Ich bin die Hälfte meiner Zeit Pandemiesenatorin und die andere Hälfte Sozial- und Gesundheitssenatorin. Wobei man diese beiden Felder nicht voneinander trennen kann, weil die Folgen der Pandemie in alle meine anderen Be­reiche reinwirken. Das beginnt beim Arbeitsmarkt, geht über die Situation in den Frauenhäusern bis hin zur frühkindlichen Bildung. Das hängt alles eng miteinander zusammen, weswegen ich es auch richtig finde, dass Soziales und Gesundheit in einer Behörde zusammengeführt worden sind. Die Chancen, Dinge ganzheitlich zu betrachten, sind dadurch sehr groß.“

… ihr persönliches politisches Berufsziel:

„Ich habe es vor nicht einmal zehn Jahren für völlig unmöglich gehalten, Politik als Beruf zu machen. Insofern bin ich sehr vorsichtig geworden mit Karrierewünschen. Die Dinge kommen manchmal anders, als man denkt.“