Harburg. Chefärzte der Asklepios Klinik Harburg warnen eindringlich vor Lockerungen: Die schwerst erkrankten Patienten werden immer jünger.
Das Asklepios Klinikum Harburg ist der zweitgrößte Krankenhausstandort der Stadt und hat eine der größten Intensivstationen. Der Chefarzt der Lungenabteilung, Priv.-Doz. Dr. Gunther Wiest, und Dr. Martin Bachmann, Chefarzt der Intensivmedizin, sprechen über die Corona-Lage, nötige Verschärfungen und Wege aus der Krise.
Hamburger Abendblatt: Wie dramatisch ist die Lage?
Martin Bachmann: Die Lage ist sehr angespannt, auch wenn sie sich regional unterscheidet. Hier in Harburg haben wir sehr viele Covid-19-Fälle. Wir hatten immer, zehn, zwölf, mitunter bis zu 15 Patienten auf der Intensivstation. Inzwischen mussten aber alle Kliniken in Hamburg mehr Patienten aufnehmen.
Seit Monaten liegen relativ konstant 75 bis 90 Patienten aus Hamburg auf den Intensivstationen. Steigen die Zahlen auch, weil viele Auswärtige hier behandelt werden?
Bachmann: Das ist nicht so einfach zu trennen. Wenn jemand aus Lüneburg anruft, nehmen wir den Patienten natürlich auf, wenn wir die Kapazitäten haben. Die Fallzahlen steigen überall, auch in Schleswig-Holstein und Niedersachsen. Als Zentrum für Schwerstkranke sind wir dann gefordert.
Fürchten Sie, dass die dritte Welle die zweite Welle übertreffen wird? Damals hatten wir in der Spitze 117 Intensiv-Patienten, nun sind wir bei 106.
Bachmann: Ja, das fürchte ich. Die dritte Welle scheint mindestens das Ausmaß der zweiten Welle zu erreichen, wahrscheinlich wird sie noch größer. Die Menschen, die heute erkranken, landen erst in zwei bis drei Wochen auf der Intensivstation. Da die Infektionen ansteigen, dürfte auch die Zahlen der Schwerstkranken wachsen.
Werden die Patienten jünger?
Gunther Wiest: Ja, vor allem auf den normalen Stationen ist dieser Trend unverkennbar.
Bachmann: Eindeutig. Wir behandeln nun sogar einen durchtrainierten jungen Mann Ende 20 ohne Vorerkrankungen mit schwerem Lungenversagen. Das hatten wir vorher nie. Auch Mittdreißiger und Mittvierziger erkranken, dafür haben wir weniger Patienten über 80.
Liegt das an den Impfungen?
Wiest: Ja. Der Fokus verschiebt sich auf die Nichtgeimpften. In der ersten Welle hatten wir hauptsächlich Hochbetagte. Heute sind bei uns von 37 Patienten nur noch sechs älter als 80. Das hat sich gedreht: In der ersten Welle waren nur 20 Prozent unter 80. Heute liegen hier vor allem Patienten in der Altersgruppe der 50 bis 80-Jährigen – die, die noch nicht geimpft sind. Die Impfungen helfen uns unglaublich – wenn wir sie nicht hätten, hätten wir Situationen wie in Italien oder New York im Frühjahr 2020.
Bachmann: Uns helfen die Impfungen – und der Lockdown. Ohne die scharfen Maßnahmen wären wir Richtung Frankreich, Tschechien oder Portugal unterwegs. Als Intensivmediziner sind wir uns einig: Wir brauchen einen härteren Lockdown. Nun mussten wir die erste Schwangere behandeln, die wir dann ins UKE verlegt haben, da dort eine gynäkologische Abteilung ist. Auch dort ist man nun am Rand der Leistungsfähigkeit. Die Lage ist überall angespannt, aber die Zusammenarbeit der Hamburger Intensivstationen und die Hilfe klappt gut.
Wiest: Die schwer kranken Jüngeren wechseln oft auf die Intensivstation – in der ersten Welle bei den Hochbetagten kam es dazu nicht, weil viele per Patientenverfügung Intensivmedizin ablehnten. Nun werden schwer kranke Jüngere auf der Normalstation behandelt, um die Intensivkapazitäten zu schonen.
Wie wirken sich die Mutationen aus?
Bachmann: Wir sehen einen Unterschied in der Schwere der Verläufe und eine Änderung der Verläufe. Wir müssen die Patienten anders behandeln. Zu Beginn kannten wir die Krankheit nicht. Wir lernen aber jeden Tag hinzu und können inzwischen bessere Prognosen abgeben. Bei Hochbetagten mit Vorerkrankungen kann man die Intensivmedizin kaum voll ausreizen. Bei den Jüngeren müssen wir alles geben, oft liegen sie sehr lange bei uns, bis zu zwei Monate. Es gibt Kliniken, die noch immer Patienten aus dem Beginn der zweiten Welle behandeln.
Haben sich die Behandlungsmöglichkeiten in den letzten Monaten verbessert?
Bachmann: Ja, das heißt aber nicht, dass die Menschen die Intensivstationen schneller verlassen. Wir wenden seit der ersten Welle eine Cortisontherapie an, die die Prognose verbessert. Wir müssen weniger Menschen beatmen. Und die, die beatmet werden müssen, haben eine bessere Perspektive.
Wiest: Viele medikamentöse Behandlungen sind in der Öffentlichkeit hochgejubelt worden und dann in der Versenkung verschwunden. Eine Ausnahme sind die Gerinnungshemmer gegen Thrombosen und das entzündungshemmende Kortisonpräparat Dexamethason. Sie helfen, dass viele Kranke schneller das Krankenhaus verlassen können und weniger Menschen sterben. Skeptisch bin ich bei dem kortisonhaltigen Asthmaspray Budesonid – ich glaube nicht, dass es Kliniken nachhaltig entlasten wird.
Bachmann: Wir hatten in Hamburg den Vorteil, dass Klaus Püschel am UKE früh die Verstorbenen seziert hat. Wir ließen uns alle Ergebnisse schicken und stellten schnell fest, dass Blutgerinnsel ein Problem sind. Diese sind trotz der konsequenten und hoch dosierten Gabe von Heparin extrem schwer zu behandeln. Covid verursacht nicht nur Thrombosen, sondern auch Blutungen. Diese Krankheit ist wahnsinnig komplikationsreich und komplex – ich habe in 30 Jahren noch nie so kranke Patienten behandeln müssen.
Stehen wir also immer noch am Anfang?
Bachmann: Was die Gerinnungsstörungen betrifft, haben wir noch nicht der Weisheit letzten Schluss gefunden.
Wiest: Der Einsatz prophylaktischer Blutgerinnungshemmer hilft gerade auf den Normalstationen. Sie kann Thrombosen vermeiden. Das ist zweifellos ein Fortschritt. Je länger die Pandemie läuft, desto mehr werden wir lernen.
Wer wird denn krank? Kürzlich hieß es, vor allem Migranten seien betroffen.
Wiest: Am Anfang der ersten Welle erkrankte die bürgerliche Mitte – Skifahrer, Geschäftsreisende, Ärzte auf Kongressen. Es waren die Wohlhabenden und Gebildeten, die verreisen konnten. Diese Klientel ist schnell vorsichtig geworden. Mit fortlaufender Pandemie kamen dann immer mehr Menschen, die wirtschaftlich nicht so gut dastehen, ein niedrigeres Bildungsniveau haben und auch sehr viele mit Migrationshintergrund – das ist Tatsache.
Bachmann: Überall da, wo Menschen auf engem Raum zusammenwohnen, steigt das Risiko. Dort kann man die Kranken nicht isolieren, und es leben in vielen Fällen mehrere Generationen in einem Haushalt. Dann landen unter Umständen mehrere Familienangehörige auf der Intensivstation. Hinzu kommt der kulturelle Hintergrund – das meine ich ohne Wertung. Wir wissen von einigen Angehörigen, dass es schwer ist, vor allem die älteren Generationen von bestimmten traditionellen oder religiösen Handlungen abzuhalten, wie etwa dem Gang in die Moschee. Das hat nichts mit Ignoranz zu tun, aber mit kulturellen Prägungen. Wir haben auf den Intensivstationen einen bunten kulturellen Mix an Patienten.
Welche Risikofaktoren lösen einen schweren Verlauf aus?
Bachmann: Bis vor Kurzem hatten wir auf der Intensivstationen fast nur Patienten mit starkem Übergewicht, Bluthochdruck, Gefäßsklerose, Herzerkrankungen und Diabetes. Bis auf einen Patienten hatten wir überhaupt keinen Kranken ohne Diabetes. Wo eine Bevölkerung lebt, in der diese Risikofaktoren häufig vorkommen, folgen viele schwere Verläufe. Deshalb sind die meisten Skiläufer aus der ersten Welle auch nicht auf der Intensivstation gelandet.
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Wie groß ist das Risiko, sich etwa beim Einkaufen anzustecken?
Wiest: Die Aufenthaltsdauer ist kurz, nur wenige kommen in die Läden. Das ist unproblematisch. Das Problem sind enge Räume mit schlechter Luftzirkulation, in denen sich viele Menschen lange aufhalten. Deshalb halte ich Flüge für gefährlich, wo Menschen eng zusammensitzen und manche die Maske abnehmen, um zu essen.
Bachmann: Wenn sie die Regeln konsequent einhalten, ist das Risiko gering, sich zu infizieren. In der ersten Welle haben sich hier im Haus von 80 Mitarbeitern, die ausschließlich Covid-Patienten versorgt haben, nur drei angesteckt. Und bei zweien sind wir nicht sicher, ob die Infektion nicht außerhalb der Klinik erfolgt ist. Mit der britischen Mutation wächst die Ansteckungsgefahr, aber auch da schützen die AHA-Regeln.
Hierzulande macht sich nun eine Pandemiemüdigkeit breit ...
Bachmann: Wir können alle nicht mehr. Trotzdem hält sich der allergrößte Teil an die Regeln.
Wiest: Leider reichen wenige, die sie ignorieren. Wenn sich alle an die Regeln halten außer zum Beispiel der 18-jährige Sohn, bekommt die ganze Familie ein Problem – und damit auch die Kliniken. Manche Regeln sind ja auch unverständlich: Warum etwa der Botanische Garten in Groß Flottbek schließen muss, verstehe ich nicht. Dann weichen mehr Menschen etwa an die Elbe aus. Aber wir müssen Regeln setzen: Ein Tempolimit von 50 verhindert ja auch, dass die Leute mit 130 durch die Stadt rasen.
Es gibt die Horrorvorstellung der Triage, die Einteilung der Kranken nach ihren Überlebenschancen. Fürchten Sie die Triage?
Wiest: In der Normalstation müssen wir definitiv keine Triage machen – in der Intensivmedizin ist es schwieriger.
Bachmann: Das Thema beschäftigt uns, wir bewegen uns am Rande der Triage. Die Logistik ist schwierig: Personen können nicht überall in Norddeutschland ohne Weiteres beatmet oder im Extremfall mit einem Lungenersatzverfahren (ECMO) versorgt werden. Manchmal dauert es eine Weile, bis sich eine Klinik unter den auf diese Therapien spezialisierten Zentren findet. Wir haben nicht mehr viel Luft nach oben bis zum Katastrophenmodus wie in der ersten Welle, als viele Operationen abgesagt wurden und alle verfügbaren Kräfte aus anderen Bereichen zusammengezogen werden mussten, um die sog. Reservebetten zu mobilisieren.
Wie viel Prozent Luft haben wir noch?
Bachmann: Das ist schwer zu sagen. In Hamburg haben wir schätzungsweise noch zirka zehn Prozent freie Kapazitäten und dann noch die Reserve. Der limitierende Faktor sind aber nicht die Betten, es ist das Personal.
Wiest: Wenn wir alle nicht lebenswichtigen Operationen unterlassen, hätten wir natürlich eine Reserve.
Bachmann: Es ist nicht trivial. Noch immer ist Winter. Und wir haben Operationen, die seit der ersten Welle verschoben worden sind. Wir brauchen die bestausgebildeten Mitarbeiter für die Covid-Patienten, die bekommen sie nicht so schnell. Das Gute ist, dass das deutsche System materielle Ressourcen etwa bei Beatmungsgeräten hat, die anderen Staaten fehlen.
Die Schweiz und Schweden gehen andere Wege und lassen die Pandemie eher laufen. Sind Sie froh, in Deutschland zu arbeiten?
Wiest: Die Gesundheitssysteme in Europa unterscheiden sich erheblich. Die Schweiz ist das Mekka für Ärzte und Pflegepersonal, die besser bezahlt sind und oft nur die Hälfte der Patienten behandeln müssen. Da gibt es dann eben auch mehr Reserven.
Bachmann: Mir ist ein Punkt wichtig: Die Pflegekräfte und Ärzte, die seit 14 Monaten fast durchgängig unter Höchstbelastung auf den Stationen arbeiten, geraten derzeit etwas in Vergessenheit. Ihr Job ist ein wahnsinniger Kraftakt. Sie sehen jeden Tag dem Tod ins Auge. Sie betreuen viele Stunden lang Covid-Patienten und sind am Abend zu Hause noch immer dem Thema ausgesetzt – überall ist Covid-19. Ich verstehe die Bevölkerung, die nicht mehr kann. Aber was sollen Ärzte, Therapeuten, Pfleger sagen? Sie sind die ersten, die unter steigenden Zahlen leiden. Ganz ehrlich: Mir fehlt gerade ein wenig die gesellschaftliche und politische Wertschätzung.
Wiest: Mir auch. Wenn Lehrer im Distanzunterricht oder Beamte im Homeoffice dieselben Corona-Prämien bekommen, läuft etwas schief.
Wann ist das Schlimmste überwunden?
Wiest: Im Sommer wird es besser, wenn die Bevölkerung durchgeimpft ist. Am Ende der kalten Jahreszeit sollte sich die Lage entspannen – wahrscheinlich können wir in den Sommerurlaub fahren.
Bachmann: Ich tippe auf August, September.