Hamburg. Ärzte fordern bevorzugte Belieferung von Praxen in sozial schwachen Stadtteilen. Fegebank: Andere Reihenfolge könnte sinnvoll sein.
Nein, sie sind nicht die „Treiber“ der Corona-Pandemie. Die Kinder, Jugendlichen sowie die Menschen aus sozial schwächeren Stadtteilen Hamburgs, die im Infektionsgeschehen besonders auffallen, befeuern die hohen Zahlen an Neuerkrankungen ja nicht willentlich und aktiv. Darauf weisen Ärzte aus verschiedenen Stadtteilen hin, mit denen das Abendblatt über die „Hotspots“ der Infektionen sowie die auffälligsten Gruppen von Neu-Patienten gesprochen hat.
Doch es ist unübersehbar, dass die aktuellen Inzidenzen von über 200 im Bezirk Mitte mit Billstedt und Horn, der Veddel und Wilhelmsburg so weit entfernt sind von den gut 80 in Eimsbüttel mit Rotherbaum, Hoheluft, Lokstedt und Niendorf.
Und die Verteilung der Testzentren über die Stadt (siehe Karte unten) sagt einiges über "abgehängte Stadtteile" aus. Die meisten Einrichtungen dieser Art finden sich in den "wohlhabenderen" Stadtteilen sowie in der City. Südlich der Elbe dünnt es sich aus.
Corona-Impfungen: "Priorisierung und Reihenfolge ändern!"
Am Donnerstag sagte Wissenschafts- und Bezirkssenatorin Katharina Fegebank (Grüne) bei einem Besuch in Harburg: Angesichts der hohen Corona-Infektionszahlen in sozial benachteiligten Stadtteilen könne es sinnvoll sein, die Impfprioritäten zu ändern und die Hotspot-Stadtteile stärker ins Visier zu nehmen. „Es sieht so aus, als seien in der dritten Welle nicht mehr bestimmte Altersgruppen besonders gefährdet, sondern bestimmte Quartiere in den Großstädten, in denen viele Menschen auf engem Wohnraum zusammenleben.“
Darauf könne man auch mit der Impfpriorisierung reagieren, indem man die Arztpraxen hier bevorzugt beliefert und die Reihenfolge flexibler handhabt, sagte Fegebank. „Allerdings können wir das nicht auf Landesebene entscheiden, sondern wir müssen uns beim Bundesgesundheitsministerium und der ständigen Impfkommission dafür einsetzen.“
"Erst die Skifahrer, dann die Armen"
Im Hamburger Bezirk Harburg fand der Auftakt einer Aufklärungskampagne statt, die das Ziel hat, in breiten Teilen der Bevölkerung das Gefahrenbewusstsein für die Pandemie zu schärfen und die Schutzmaßnahmen von Masken und Abstand bis hin zur Kontaktvermeidung und der Ausgangssperre zu verdeutlichen. Fegebank sagte: „Waren es in der ersten Welle die Ski-Urlaubs-Rückkehrer, die die Krankheit in die wohlhabenden Bezirke Eimsbüttel und Altona brachten, verlagert es sich jetzt auf die Armen, die weniger Möglichkeiten haben, sich zu schützen.“
Spektakulärster Teil der Harburger Kampagne sind Stelzenläuferinnen, die mehrsprachiges Informationsmaterial sowie Masken im Zentrum des Bezirks verteilen. Wichtige Multiplikatoren sind aber auch die großen Wohnungsbaugesellschaften, Stadtteilinitiativen, Jugendzentren und Sportvereine. Harburgs Bezirksamtsleiterin Sophie Fredenhagen sprach von „niedrigschwelligen Angeboten“.
Forderungen der Ärzte auf der Veddel
Ärzte auf der Veddel fordern eine bessere Versorgung mit Impfstoff gegen das Coronavirus in den wenigen Praxen des Quartiers mit hohem Anteil an sozial Schwachen und Migranten. In keinem anderen Hamburger Stadtteil sei die Zahl der Neuinfektionen mit dem Virus so hoch wie auf der Veddel. Armut sei ein eigenständiger Risikofaktor für eine Corona-Infektion, sagte die Sozialarbeiterin Tina Röthig von der Poliklinik. Die Einrichtung mit insgesamt rund 20 Ärzten, Sozialarbeitern und medizinischen Fachangestellten wird von den Patienten getragen, deren Behandlung über die Krankenkassen abgerechnet wird, sowie von Stiftungsgeldern und Mitteln des Bezirks.
Röthig sagte, in der vergangenen Woche habe man für die Hausärzte der Poliklinik weniger als 20 Impfstoffdosen bekommen. Dabei sei die Nachfrage sehr groß. Es klingt absurd: Weil es nur wenige Ärzte auf der Veddel gebe, würden die auch nur mit wenig Impfstoff beliefert. Mit jeder Dosis Biontech bekomme man eine von Astrazeneca geliefert. Und durch das schlechte Image von Astrazeneca gebe es mehr Diskussionen mit den Patienten, die man in mühevoller Kleinarbeit identifiziert und zur Spritze eingeladen habe.
"Krasse Corona-Müdigkeit"
Trotz des wöchentlichen Infostandes und der Angebote auf Türkisch und Albanisch gebe es auf der Veddel eine „krasse Corona-Müdigkeit“. Maßnahmen wie die Ausgangssperre träfen die Bewohner des Quartieres viel härter. Viele Menschen hier wohnten in beengten Verhältnissen und könnten sich weder im Job noch im Nahverkehr in Bussen und Bahnen aus dem Weg gehen. Die Poliklinik hat gerade eine weitere Praxis an der Wilhelmsburger Straße übernommen. Der Arzt Kolja Nolte sagte: „Eine besondere Berücksichtigung von stärker betroffenen Regionen bei der Vergabe von Impfdosen wäre kein Novum in Deutschland. Grenzregionen zu Frankreich oder Tschechien haben ebenfalls mehr Impfdosen erhalten. Letzten Endes ist es also eine Frage des politischen Willens.“
Die frühere Staatsministerin im Bundeskanzleramt und Integrationsbeauftragte Aydan Özoğuz (SPD) spricht sich im Abendblatt dafür aus, verstärkt auf junge Leute zuzugehen: „Wie bei allen anderen sind vor allem Jugendliche pandemie-müde. Wir müssen sie alle gewinnen, auf die Regeln zu achten – auch, um ihre Familien zu schützen und deutlich machen, dass das eine gemeinsame Aufgabe ist.“
Aydan Özoğuz über Inzidenzen und Querdenker
Sie beobachte in muslimischen Gemeinden gerade während des Fastenmonats Ramadan, dass „die Jüngeren die Älteren mitversorgen und ihnen Einkäufe vor die Tür stellen. Viele wissen um die Einsamkeit der Älteren. Und sie kennen ja mittlerweile Menschen, die eine schwere Corona-Erkrankung durchgemacht haben und wissen um die Gefährlichkeit des Virus.“
Auf der Veddel und in Wilhelmsburg leben sehr viele Jüngere, darauf wies auch der frühere Arzt Manuel Humburg hin, der im Verein Zukunft Elbinsel Wilhelmsburg aktiv ist. Die Bundestagsabgeordnete Özoğuz warnte zudem: „In jedem Fall sollte man darauf achten, dass man keine Bevölkerungsgruppen stigmatisiert. In Sachsen, Bayern oder Thüringen haben wir auch hohe Inzidenzen, ohne dass dort besonders viele Menschen mit Migrationshintergrund leben. Auch bei den sogenannten Querdenkern, die bei ihren Kundgebungen oft nah beieinanderstehen, finden sich soweit erkennbar kaum Menschen mit einer Migrationsgeschichte.“
Özoğuz bemüht sich um Aufklärung
Die Menschen in Hamburgs sozial schwächeren Stadtteilen haben außerdem Schwierigkeiten, sich durch das Dickicht möglicher Corona-Hilfen zu kämpfen. „Wo wir verstärkt helfen sollten, ist, das bürokratische deutsche Hilfesystem zu verstehen. Da haben einige Probleme, vor allem Einzelhändler, Kleinunternehmer oder aber Selbstständige. Da steht man schnell mittellos da, weil man wegen der bürokratischen Hürden nur schwer nachvollziehen kann, wo und wie finanzielle Hilfen beantragt werden können“, sagte Özoğuz. Sie bemühe sich mit Finanzsenator Andreas Dressel sowie mit Parteifreund Olaf Scholz aus dem Bundesfinanzministerium um Aufklärung.