Im Überseeclub sprach Hamburgs Ehrenbürgerin Kirsten Boie über die dramatische Leseschwäche der Schüler. Wir dokumentieren die Rede.
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
ich empfinde es als große Ehre, hier im Übersee-Club zu – und ich hoffe: im Anschluss auch mit Ihnen – sprechen zu dürfen. Für diese Einladung bedanke ich mich sehr herzlich bei Herrn Behrendt! Der Übersee-Club ist schließlich ein Ort, an dem hochrangige Politker:innen, bedeutende Wissenschaftler und Vertreter der Kultur gesprochen haben; und immer waren die Reden zumindest im Kern auf die Zukunft gerichtet. Nicht umsonst war das Motto des 100-jährigen Jubiläums im letzten Jahr „Raum für Zukunft“.
Im Übersee-Club geht es um Argumente und Ideen – und das ist es, worauf ich auch am heutigen Abend setze. Und nicht so sehr um meine Ideen geht es, die ich Ihnen aber natürlich sehr gerne vorstellen will: Ich hoffe vielmehr, dass meine Worte vielleicht den Anstoß geben für Ideen, die Sie im Zusammenhang mit unserem heutigen Thema „Lesen“ zur Lösung des Problems beisteuern können, und ich sehe einige Gesichter, von denen ich weiß, dass dieses Thema seit Langem auch schon ihr Thema ist.
Sollten Sie gehofft haben, heute einen entspannten Abend mit einer Kinderbuchautorin zu verbringen, und da erwartet man doch eigentlich Heiteres, Anekdotisches, dann muss ich Sie ein bisschen enttäuschen. Es wird sehr viel um Zahlen gehen; und das sind keine schönen Zahlen, sondern solche, die Sie hoffentlich – dafür entschuldige ich mich schon im Voraus – ebenso erschrecken werden wie mich seit vielen Jahren, und das leider in zunehmendem Maße.
Keine ehrlichen Finger bei Harry Potter
Aber beginnen will ich doch mit einer kleinen Geschichte – einfach, weil in ihr der Ursprung meiner Irritation und meiner intensiven Beschäftigung mit unserem Thema liegt.
Irgendwann um die Jahrtausendwende herum hatte ich eine Lesung in zwei 6. Klassen einer Hamburger Hauptschule – damals gab es diese Schulform in Hamburg noch. Die Kinder waren höflich, ruhig, versuchten ganz offenbar, sich gut zu benehmen; und da wir uns gerade auf dem Höhepunkt der ersten Welle des Harry-Potter-Hypes befanden, fragte ich, wer von ihnen denn schon einen der Bände gelesen hätte.
Sie erinnern sich: Harry Potter ging damals durch alle Medien, ich konnte also davon ausgehen, dass auch in der Hauptschule die Kinder schon davon gehört hätten.
Und tatsächlich meldeten sich fast alle – was mich nicht stutzig machte, sondern, naiv, wie ich damals noch war, wirklich freute. Als ich danach aber eins meiner Bücher hochhielt, aus dem ich vorlesen wollte, und nach dessen Titel fragte – „Könnt ihr das eigentlich auch ganz hinten lesen?“– folgte ein sekundenlanges Schweigen; dann sah ich, wie sich die Lippen der Kinder beim Buchstabieren bewegten, bis schließlich eine Handvoll Finger zaghaft in die Luftgingen, und einer der Mutigen las den Titel stockend vor.
Stockend. Einen kurzen Buchtitel. In der 6. Klasse. Und das war einer der wenigen, die sich überhaupt freiwillig gemeldet hatten. Wie gut also konnte der Rest der Kinder lesen? Die Finger bei Harry Potter waren jedenfalls keine ehrlichen Finger gewesen.
Lese-Inkompetenz der Schüler bleibt oft verborgen
Für mich war das ein Schlüsselerlebnis. Nach einigen Jahren am Gymnasium war ich als Lehrerin an die Gesamtschule Mümmelmannsberg gewechselt, damals eine der bei den Versuchs-Gesamtschulen in Hamburg, und hatte neben meinen Oberstufenkursen auch in der Mittelstufe unterrichtet. Und nicht ein einziges Mal hatte ich mich gefragt, ob die Kinder die Texte, die ich ihnen zu lesen gab, auch tatsächlich lesen konnten.
Davon war ich immer ausgegangen, ganz selbstverständlich, wie das auch heute viele Lehrer tun, obwohl eine Studie schon vor Jahren gezeigt hat, dass Lehrern und Lehrerinnen die Lese-Inkompetenz ihrer Schüler:innen häufig verborgen bleibt: Buchstabieren können die Kinder und Jugendlichen ja, Wörter zusammenziehen auch, allerdings stockend – nur müssen sie auf diese Schwerstarbeit so viel von ihrer Konzentration verwenden,dass sie danach nicht auch noch sagen können, was sie denn gelesen haben, sie haben es schlichtweg nicht verstanden.
Ich würde gerne versuchen, Ihnen zu verdeutlichen, was ich damit meine. Dazu zeige ich Ihnen jetzt einen Text:
Jetzt sehe ich manche von Ihnen Ihre Lippen genauso bewegen wie damals in der 6. Klasse die Schüler, denn Sie tun etwas, was wir alle eigentlich längst nicht mehr tun, wenn wir lesen, Sie buchstabieren. Normalerweise raten wir uns quasi durch einen Text. Wir erkennen Wörter, ganze Satzteile und Sätze durch ausreichendes Lesetraining und jahrelange Lese-Erfahrung auf einen Blick. Weil das Lesen darum so schnell geht, weiß unser Kurzzeitgedächtnis am Ende eines Satzes auch noch, was an seinem Anfang stand. Und das ist die Voraussetzung dafür, dass wir ihn auch verstehen: Denn wenn die ersten Wörter längst aus dem Kurzzeitgedächtnis gefallen sind, wenn wir die letzten entziffern, verstehen wir den Satz logischerweise nicht.
Lesen: Nur Übung macht den Meister
Das Gleiche gilt dann natürlich für das Verständnis ganzer Texte, aber auch beschrifteter Grafiken. Das Einzige, was hier hilft, ist üben, üben, üben – wie beim Klavierspielen oder beim Fußball. Nur dadurch steigern wir allmählich unsere Lesegeschwindigkeit im notwendigen Maße. Und da wir nicht erwarten können, dass die Kinder das freiwillig zu Hause tun oder dass alle Eltern die Zeit, Kraft oder das Wissen aufbringen, um sich jeden Tag mit ihrem Kind hinzusetzen, ist genau das Aufgabe der Schule. Unser jahrelanger Ansatz: Lesen soll Spaß machen, deshalb bloß nicht zu viel Zeit auf langweiliges Üben verschwenden! war falsch. Damit das Lesen überhaupt Spaß machen kann, muss ich erstmal verstehen, was ich lese.
In Hamburg hat man das begriffen, gerade in der letzten Woche fand hier die Auftaktveranstaltung zur Ausweitung des enorm erfolgreichen BiSS-Lesetrainings verpflichtend für alle Schulen der drei schwierigsten Sozialindices statt, alle übrigen Schulen können freiwillig daran teilnehmen. Bei diesem Training wird von Klasse 2 bis 4 an mindestens vier Schulvormittagen der Woche jeweils 20 Minuten das Lesen trainiert – keineswegs dumpf, sondern mit verschiedenen, von den Kindern sehr gerne angenommenen Methoden und Spielen.
Unser Gehirn ist nicht für das Lesen ausgestattet
Aber warum ist es überhaupt so schwierig, Lesen zu lernen? Erlauben Sie mir einen kurzen Exkurs. Als das menschliche Genom entstand, vor vielen 100.000 Jahren, mussten die Menschen noch nicht lesen können: Das Lesen und Schreiben entwickelten sich erst vor ca. 4000 Jahren an verschiedenen Punkten im östlichen Mittelmeerraum.
Darum enthält unser Gehirn keinen Bereich für das Lesen. Jedes Kind wird laufen lernen, auch wenn sich niemand darum kümmert; jedes Kind wird sogar Sprache entwickeln, selbst wenn niemand mit ihm spricht – Sie kennen die grausamen Experimente aus dem Mittelalter. Denn dafür ist unser Gehirn ausgestattet. Nicht aber für das Lesen.
Darum entwickelt jeder von uns seinen eigenen Weg über unterschiedliche Synapsen, verknüpft unterschiedliche Hirnzellen, bis er oder sie schließlich am Ziel angekommen ist. Dass fast alle von uns das hinkriegen, ist beinahe ein Wunder. Denn mit dem Lesen geht der Mensch weit über das hinaus, was die Natur ursprünglich für ihn vorgesehen hatte. Und darum fällt es uns auch heute noch so schwer.
Was nach dem PISA-Schock passierte
Kurz nach meinem Schlüsselerlebnis in der 6. Klasse – bei dem ich all dies übrigens noch nicht wusste –, und nachdem ich mich gefragt hatte, ob es vielleicht nur an dieser einen Schule so düster aussähe, aber im Rest des Landes wäre alles in Ordnung, wurden wir 2001 überrumpelt vom sogenannten PISA-Schock, an den sich die Älteren unter Ihnen bestimmt noch erinnern: 21 % der Neuntklässler in Deutschland konnten laut PISA, einer repräsentativen Untersuchung der OECD-Länder, nicht so lesen, wie es für ihren weiteren Lebensweg und eine Berufsausbildung nötig gewesen wäre, sie erreichten bei der PISA-Untersuchung nicht einmal den Mindeststandard und waren damit funktionale Analphabeten.
Monatelang kreisten in den Medien Berichte um dieses erschreckende Ergebnis, das niemand erwartet hätte, aber auch niemand anzweifelte. Aus allen Bundesländern – Sie wissen: Bildungsföderalismus! – reisten Lehrkräfte nach Finnland, das mit seinen Leseleistungen an der Spitze der untersuchten Länder stand, um von den Finnen zu lernen. – Das war vor 22 Jahren. Und eigentlich hätte damals jedem klar sein können, dass die Ergebnisse der Studie nicht einfach nur etwas über den Ist-Zustand der Schulen aussagten, sondern auch über unser aller Zukunft; dazu komme ich noch.
Jedenfalls hätte man doch erwartet, dass nun schnellstens etwas passiert wäre, um diese Situation zu heilen und Deutschland für die Zukunft zu rüsten.
Mehr Analphabeten in Klasse 9 als in Klasse 4
Sie ahnen, was kommt. Ende 2017 ergab die IGLU-Studie, das ist eine vergleichende Studie für Viertklässler in sämtlichen OECD-Ländern und darüber hinaus, in etwa das gleiche Ergebnis wie PISA 16 Jahre vorher: 18,9 % aller Viertklässler in Deutschland – Kinder mit Beeinträchtigungen oder einem kürzeren Schulbesuch in Deutschland als einem Jahr hatten übrigens gar nicht teilgenommen – 18,9 Prozent waren auch hier funktionale Analphabeten.
Und nein, sollten Sie sich jetzt damit beruhigen, dass die Kinder die notwendige Lesekompetenz ja in den kommenden Schuljahren der Sekundarstufe 1 immer noch erwerben können: Das passiert keineswegs. In der Sekundarstufe 1 ist Lesenlernen kein Thema im Unterricht mehr, es wird im Gegenteil in allen Fächern vorausgesetzt mit der Konsequenz, dass viele Kinder nicht am Stoff der Fächer scheitern, sondern schon daran, dass sie nicht lesen können: Denken sie zum Beispiel an Textaufgaben in Mathe; und dass die Zahl der Analphabeten am Ende der 9. Klasse noch höher ist als am Ende der vierten, auch dazu kommen wir noch.
Hamburger Erklärung mit Rolf Zuckowski & Co.
Das IGLU-Ergebnis allerdings interessierte 2017 die Medien nicht mehr – es gab keine Erschütterung wie bei PISA. Man hatte sich offenbar gewöhnt. Damals haben wir mit 26 Hamburgern und Hamburgerinnen, unter ihnen Klaus von Dohnanyi genauso wie Rolf Zuckowsky und Bettina Tietjen, die Hamburger Erklärung: Jedes Kind muss lesen lernen aufgesetzt, die in drei Monaten von mehr als 110.000 Menschen deutschlandweit unterschrieben wurde und die wir im Dezember 2018 dem Präsidenten der Kultusministerkonferenz und der Bundesbildungsministerin überreichen konnten. Tatsächlich hatten wir da eine kleine Hoffnung.
IQB-Bildungstrend enthüllt Grauenvolles
Im Mai 2023 wurde nun die nächste IGLU-Studie für Viertklässler veröffentlicht – das passiert alle fünf Jahre. Jetzt ahnen Sie schon, dass das Ergebnis keineswegs besser geworden war, im Gegenteil. Statt der knapp 19 Prozent waren es inzwischen sogar 25 Prozent der Kinder, die nicht lesen konnten, also ein Viertel.
„Corona!“, haben wir uns beruhigt und verdrängt, dass es auch bei der Vorgängerstudie schon 19 % gewesen waren; und wenn Sie jetzt immer noch darauf setzen, dass die Folgejahre in der Sekundarstufe 1 das schon ausgleichen werden, dann muss ich Sie enttäuschen. In diesem Oktober nämlich, also vor einem Monat, enthüllte der IQB-Bildungstrend für Neuntklässler Grauenvolles. Der IQB-Bildungstrend ist eine deutsche Studie, die im Auftrag der Kultusministerkonferenz den Leistungsstand in den verschiedenen Bundesländern vergleicht, und dass auch hier nach Corona die Zahlen keine Freude sein würden, war jedem klar.
Besser Englisch sprechen dank YouTube & Co.
Allerdings – jetzt kommt zwischendurch kurz etwas Positives! – wurden wir im Fach Englisch überrascht: Trotz oder sogar wegen Corona waren seit dem letzten IQB-Bildungstrend die Leistungen der Schüler in Englisch in allen Bundesländern geradezu durch die Decke gegangen – Bremen etwa erreichte jetzt den gleichen Leistungsstand wie beim Mal davor Bayern, und realistischerweise sollten wir das vor allem dem Freizeitverhalten der Jugendlichen auch während der Lockdowns zuschreiben: Sie waren – und sind immer noch – bei YouTube unterwegs, gucken Netflix, chatten, zocken, begeistern sich für Influencer – und das zum großen Teil auf Englisch. Etwa die Hälfte der Neuntklässler kann im Englischen inzwischen Texte verstehen wie früher nur Leistungskursschüler im Abitur, da dürfen wir uns freuen.
Aber für die Kompetenzen im Fach Deutsch und ganz besonders für das Lesen hat dieses veränderte Freizeitverhalten erwartungsgemäß nichts gebracht, eher im Gegenteil. Sie erinnern sich, 2001 gelang es PISA noch, uns mit der Information, 21 % der Neuntklässler könnten nicht lesen, einen Schock zu versetzen – wie also sah denn wohl jetzt, 22 Jahre später, das Ergebnis der Untersuchung aus? Bevor Sie raten – und bereiten Sie sich darauf vor, gleich werde ich Sie raten lassen! – hier zunächst die fünf Kategorien der Lesekompetenz, die erreicht werden konnten: Unter dem Mindeststandard; Mindeststandard; Regelstandard; über dem Regelstandard; Optimalstandard, wobei „unter dem Mindeststandard“ so definiert ist, dass die Lesekompetenz nicht ausreicht, um dem Unterricht zu folgen. Wie viel Prozent der Jugendlichen also erreichten wohl nicht einmal den Mindeststandard?
Jedes Jahr gehen mehr potenzielle Fachkräfte verloren
Es sind – und diese Zahl wird von niemandem angezweifelt – 32,5 %, 9 % mehr als vor sieben Jahren. Ein Drittel aller 15-Jährigen in Deutschland. Das ist ein Drittel, das, selbst wenn es dann doch noch mit einem Zeugnis des Ersten Schulabschlusses die Schule verlässt, (und Lehrer tun alles, um den Jugendlichen nicht ihre Zukunftschancen zu verbauen, ich war selbst Lehrerin und weiß das!) also: ein Drittel, das keine Aussicht hat, einen qualifizierten Beruf zu erlernen, weil es in der Berufsschule scheitern muss – und Gespräche mit der Abteilung Berufsschulen in der Hamburger Schulbehörde bestätigen genau das.
Zusammengefasst heißt das: Seit 2001 haben wir in jedem Jahr zunächst 21 %, dann schließlich knapp 33 % eines Jahrgangs für den Fachkräftemarkt verloren.
Duale Ausbildung: Ohne Lesekompetenz keine Chance
Wenn Sie mit Lehrer:innen beruflicher Schulen sprechen, erzählen sie, dass das Lesen eins ihrer größten Probleme ist und dass sie am Beispiel berufsbezogener Texteverzweifelt nachzuholen versuchen, was den Jugendlichen fehlt: Gebrauchsanweisungen, Warntexte. Und dass trotzdem eine große Zahl die Berufsausbildung auch deshalb frustriert abbricht. Und das sind immerhin diejenigen, die es aufgrund ihres Zeugnisses überhaupt geschafft haben, einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Was ist mit den anderen? Denen, die niemand wollte – oder die es auch gar nicht erst versucht haben, weil sie längst die Hoffnung aufgegeben haben?
Am traurigsten ist es, wenn Jugendliche einsteigen in eine Ausbildung in der Erwartung, jetzt endlich am richtigen Platz zu sein: Schließlich waren sie im Werkunterricht immer top! Oder sie haben Ahnung von Autos! Nur um dann festzustellen: Im dualen Ausbildungssystem der Bundesrepublik, das weltweit anerkannt ist und uns nach der Abschlussprüfung hoch qualifizierte Fachkräfte beschert, kann man nicht bestehen, ohne ausreichend lesen zu können, egal, wie großartig die praktischen Fähigkeiten sein mögen. Dass ein Jugendlicher, der im Lesen sogar den Mindeststandard verfehlt, nicht studieren kann, ist klar; aber auch die Berufsschule ist für ihn aussichtslos.
Und da fragen wir uns, woher der Fachkräftemangel kommt?
Mit diesen Ergebnissen leben wir seit über zwanzig Jahren – und da fragen wir uns, woher der Fachkräftemangel kommt? Natürlich, zunächst einmal hat er demografische Ursachen: Gegenüber der Boomer-Generation stehen ca. 20 Prozent weniger Menschen zur Verfügung. Aber müsste das nicht gerade ein Grund dafür sein, sich umso stärker um diejenigen zu kümmern, die uns bleiben?
Wenn wir in jedem Jahr zunächst ein Fünftel, jetzt ein Drittel eines Jahrgangs verlieren, weil es die Schule verlässt, ohne lesen zu können? Zurzeit sind 12 % der Erwachsenen in Deutschland funktionale Analphabeten, und interessanterweise sind das keineswegs zum größten Teil zugewanderte Menschen; und wenn es so weitergeht wie bisher, wird der Prozentsatz kontinuierlich steigen.
Diese Fachkräfte brauchen wir jetzt!
Die Folgen für den Arbeitsmarkt sind klar. Tatsächlich bleibt uns kurz- und mittelfristig keine andere Wahl, als Fachkräfte aus dem Ausland anzuwerben, denn diese Fachkräfte brauchen wir jetzt, da können wir nicht warten, bis sie nachgewachsen sind.
Zumal eine HDI-Untersuchung vor ca. vier Wochen ergeben hat, dass nur 25 % der Menschen in Deutschland nach Erreichen des Rentenalters freiwillig weiterarbeiten würden, und das auch nur, wenn ihr Gehalt erhöht würde; würde das Gehalt nicht erhöht, wären es nur 10 %. Am wenigstens übrigens im Pflegebereich. Auf eine längere Lebensarbeitszeit sollten wir also als Problemlösung nicht setzen.
Die Werbung zeigt, was Erstrebenswert ist
Und zu den Folgen für den Arbeitsmarkt – in der ZEIT der letzten Woche habe ich gerade gesehen, dass uns derzeit angeblich 2 Millionen Arbeitskräfte fehlen – kommen weitere Folgen, die uns ebenso beängstigen sollten. Zunächst einmal die Belastung für die Sozialsysteme: Denn selbst wenn die betroffenen Menschen sich bemühen, durch Arbeit für ihren Lebensunterhalt aufzukommen, wird es ihnen bei der geringen Entlohnung für unqualifizierte Tätigkeiten nicht so leicht gelingen. Statt in die Sozialsysteme einzuzahlen, werden sie daraus entnehmen müssen.
Sie werden sich am Rande einer Gesellschaft bewegen, die ihnen in der Fernsehwerbung, aber auch im Netz, täglich zeigt, was in diesem Land erstrebenswert ist: Teure Autos, teure Kleidung, teure elektronische Geräte, teure Reisen, teure Marken. Und viele von ihnen werden unzufrieden sein, werden nach Sündenböcken suchen, werden aufgrund der einfachen Erklärungen für das, was sie als Ungerechtigkeit empfinden, in Richtung Populismus und nach rechts abwandern. Wer sich seit der Grundschulzeit immer als nicht ausreichend empfinden musste, der muss kompensieren, um psychisch zu überleben.
Ohne Lesekompetenz bleiben Grautöne verschlossen
Und da sie ja auch nicht lesen, bleiben diesen Menschen komplexere Erklärungen für gesellschaftliche und politische Zusammenhänge, wie sie in Texten entfaltet werden, Grautöne, ein Einerseits und Andererseits verschlossen. Die Konsequenzen für unsere Demokratie sind beängstigend.
Nein, ich führe nicht alle Probleme der Welt auf mangelnde Lesekompetenz zurück, aber wenn inzwischen mehr als 32 % unserer 15-Jährigen nicht mehr so lesen können, dass es für den Unterricht und später für einen qualifizierten Beruf ausreicht, dann sollte uns das zu denken geben und wir sollten uns aufgerufen fühlen, schnellstens zu handeln. Hätten wir das schon nach PISA vor 22 Jahren konsequent getan, wer weiß, wie unsere Zahlen heute aussähen.
Wir können das Leseproblem nicht im Ehrenamt lösen
Was ich bisher gar nicht erwähnt habe, ist all das, was das Lesen für den Einzelnen bedeuten kann: Ein besseres Verständnis der Welt, ein besseres Verständnis des eigenen Ich; es macht nachweislich schlauer und empathischer und bringt Freude und Trost. Aber auf all das auch noch einzugehen, fehlt uns heute leider die Zeit.
Und noch mal nein, wir können das Problem nicht im Ehrenamt lösen, obwohl es ungezählte Vereine, Stiftungen, Organisationen gibt, die sich in der Leseförderung engagieren. Zum einen reicht das, was sie tun, bei Weitem nicht aus, so großartig dieses Ehrenamt auch ist; zum anderen darf ja davon, ob es in seinem Ort so eine Organisation gibt, nicht abhängen, ob ein Kind in Deutschland lesen lernt. Lesenlernen ist eine gesellschaftliche Aufgabe und muss vom Staat getragen werden, auch wenn die Zivilgesellschaft gerne unterstützen darf.
Die Ursachen müssen geklärt werden
Wenn wir etwas an dieser Situation ändern wollen, müssen wir uns zunächst einmal fragen, wo denn die Ursachen liegen – und ob es Beispiele dafür gibt, wie man das Problem in den Griff bekommt. Kleiner hoffnungsfroher Spoiler vorweg: Die gibt es, wir können daraus lernen, und eins dieser positiven Beispiele ist erfreulicherweise Hamburg; aber auch hier haben wir das Problem noch längst nicht im Griff.
Woran also liegt der eklatante Mangel an Lesekompetenz in Deutschland mit all seinen Folgen für den Arbeitsmarkt und die Gesellschaft?
Förderung der Sprachkompetenz vor der Schule eine der wichtigsten Voraussetzungen
Eine wesentliche Ursache liegt wie erwartet im gestiegenen Anteil von Schüler:innen mit Zuwanderungsgeschichte: Bei 38 % trifft das deutschlandweit auf mindestens einen Elternteil zu, in Bremen auf 58 %, in Sachsen-Anhalt dagegen nur auf 10 %. Und für die Auswirkungen wiederum sind zwei Faktoren relevant: Zum einen die Familiensprache – in Hamburg wachsen über 30 % der Schulkinder mit einer anderen Familiensprache als Deutsch auf – und daraus resultierend die fehlende Sprachkompetenz schon bei der Einschulung und noch darüber hinaus. Wenn Sie sich an den Spiegelschrift-Text erinnern und daran, wie langsam sie ihn nur lesen konnten, dann ist Ihnen klar, dass es Ihnen in einer Sprache, die Sie nicht gut beherrschen, noch viel schwerer gefallen wäre. Vor allem könnten Sie den Ziel-Zustand, in dem Sie sich durch einen Text raten, kaum erreichen – denn wenn Sie die Wörter nicht kennen, können Sie sie ja auch nicht erraten.
Nehmen wir den folgenden unvollständigen Satz:
„Der kleine Vogel sitzt in seinem …“
Wir alle vervollständigen ihn automatisch. Wenn der Anfangsbuchstabe des folgenden Wortes ein N ist, denken wir „Nest“, ist er ein K denken wir „Käfig“. Lesen müssen wir das letzte Wort gar nicht mehr.
Aber wenn wir weder das Wort „Nest“ noch das Wort „Käfig“ kennen? Dann können wir nur buchstabieren. Und verstehen würden wir den Satz dann ja trotzdem nicht, da wir weder wüssten, was „Nest“, noch was „Käfig“ bedeutet. Darum ist die Förderung der Sprachkompetenz vor der Schule eine der wichtigsten Voraussetzungen für das Erlernen des Lesens.
Geringe Bildungsstand der Eltern als Ursache
Ein zweiter Faktor, der für die Schwierigkeiten zugewanderter Kinder beim Lesenlernen eine Rolle spielt, ist der zumeist geringere Bildungsstand der Eltern. Es gibt durchaus Schüler:innen auch der ersten Zuwanderungsgeneration, die sich an der Spitze des Lese-Rankings finden; vielfach Jugendliche, die aus dem Iran oder Afghanistan geflüchtet sind, und deren Eltern nicht nur selbst eine höhere Bildung besitzen, sondern den Anspruch an ihre Kinder vermitteln, eben das auch zu erreichen.
Es ist also nicht der migrantische Hintergrund per se, der eine Rolle spielt; sondern der Bildungshintergrund der Eltern – wie bei bio-deutschen Kindern übrigens auch. Über das Thema Bildungsgerechtigkeit will ich in diesem Zusammenhang heute Abend gar nicht sprechen.
Exzessive Nutzung digitaler Medien als Ursache
Eine weitere Ursache der schwindenden Lesefähigkeit ist bei allen Kindern zu vermuten in der z.T. exzessiven Nutzung digitaler Medien: YouTube, Soziale Medien, Games.
Vielfach erfordern diese Tätigkeiten keine längere Konzentrationsspanne oder höhere Frustrationstoleranz; wenn mir ein Spiel keinen Spaß mehr macht, wandere ich zum nächsten, überall halte ich mich nur kurz auf – in der Schule dagegen sind lange Konzentrationsspannen und eine hohe Frustrationstoleranz gefordert, vor allem, wenn man etwas noch nicht verstanden hat oder zunächst sogar gescheitert ist. Durchhalten können, nicht aufgeben ist hier eine wesentliche Tugend. Smartphone und Co, die vermutlich zum großen Teil mit verantwortlich sind für den Anstieg der Leistungen im Englischen, haben anderseits ebenso ihren Anteil an den schwindenden sogenannten Vorläufer-Fähigkeiten für die Schule.
Sinkende Lesekompetenz: Gibt es Hoffnung?
Nachdem ich die Situation nun so düster gezeichnet habe: Gibt es denn überhaupt Möglichkeiten, unsere Situation zu verbessern? Da kommen wir jetzt zu den positiven Nachrichten. Zumindest zunächst.
Ich hatte vom IQB-Bildungstrend für Neuntklässler im Oktober gesprochen – ein Jahr vorher, im Herbst 2022, wurde der IQB-Bildungstrend für Viertklässler veröffentlicht.
Der Bildungsföderalismus führt in Deutschland ja dazu, dass alle Länder ihre eigene Schulpolitik machen; darum versucht sich die KMK mit dem IQB-Bildungstrend eben einen Überblick zu verschaffen. Bei den vorausgegangenen Viertklässler Untersuchungen lag Hamburg regelmäßig auf Platz 14 der 16 Länder – oder, wie die Schulbehörde dann stolz verkündete: Auf dem ersten Platz der Stadtstaaten, denn es folgten ja immerhin noch Berlin und Bremen. Kein Wunder, haben wir gesagt, unsere Bevölkerungszusammensetzung stellt uns eben vor größere Herausforderungen als z.B. Sachsen-Anhalt mit nur 10 % Schülern mit Migrationshintergrund, während es bei uns über 50 % sind.
Sprachförderung: Hamburg ist das neue Finnland
Und jetzt möchte ich Sie wieder raten lassen. Auf welchem Platz fand sich Hamburg beim Lesen im letzten Oktober? Dass wir vor fast allen Flächenländern auf den dritten Platz deutschlandweit aufgestiegen sind, auch wenn wir noch längst nicht da angekommen sind, wohin wir wollen, ist zum großen Teil die Folge einer engagierten Schul- und Sozialpolitik der Hansestadt. Inzwischen pilgern Politiker:innen vieler anderer Bundesländer nach Hamburg wie früher nach Finnland, um sich über die Hamburger Methoden schlau zu machen. Denn ganz offensichtlich – von Platz 14 auf Platz 3 – greifen sie ja.
Eine Ursache ist, dass Hamburg schon lange begriffen hat, wie wichtig die frühe Sprachförderung ist. Hamburg ist das einzige Bundesland, in dem für Kinder, bei denen bei der 4 ½-jährigen Vorstellung an ihrer zuständigen Grundschule ein Sprachdefizit festgestellt wird, ein Vorschuljahr verpflichtend ist. Und schon mit einem Jahr bekommen Hamburger Kinder – oder eher ihre Eltern – bei der U6 von ihrem Kinderarzt eine Tasche mit zwei Pappbilderbüchern, dazu mit einer Broschüre, die erklärt – in den meisten in Hamburg vertretenen Sprachen – warum das Bilderbuchgucken die Sprache fördert; dazu gibt es inzwischen über 70 sogenannte „Gedichte für Wichte“-Gruppen, die Eltern mit ihren ein- bis dreijährigen Kindern wöchentlich besuchen können, und bei denen es auch um Sprachförderung geht. Dieses Projekt „Buchstart 1“ wird von der Hamburger Kulturbehörde und großen Hamburger Stiftungen gemeinsam getragen.
Hamburger Geschichtenbuch“ für Kinder ist ein Anfang
Mit 4 ½ bekommen die Kinder dann bei der Grundschulvorstellung das „Hamburger Geschichtenbuch“, das mit vielen Wortschatz relevanten Themen, Geschichten, Rätseln und Wimmelbildern wieder speziell zur Sprachförderung dient – das ist das Projekt „Buchstart 4 ½“, das von Schul- und Sozialbehörde einerseits und wiederum von Hamburger Stiftungen andererseits gemeinsam finanziert wird. Zurzeit erreicht es jährlich ca. 22.000 Kinder, und das kostet; denn es geht ja nicht nur um die Kosten für das Buch, auch die Vorschulpädagogen müssen für die Sprachförder-Arbeit damit ausgebildet werden.
Und in der Grundschule ist die für das Lesetraining aufgewendete Zeit von Jahr zu Jahr gestiegen, denken Sie an das Projekt BiSS, von dem ich vorhin gesprochen habe.
Vieles allerdings konnte Hamburg nur leisten, weil wir glücklicherweise ein reiches Bundesland sind, außerdem die Stiftungshauptstadt Deutschlands, so dass manches eben auch gemeinsam mit Stiftungen auf die Beine gestellt werden konnte. Für andere Bundesländer dürfte das nicht so einfach sein.
Gegen die Bildungskatastrophe – das muss passieren
Aber bevor ich zum Thema Finanzierung komme, möchte ich Ihnen zunächst noch darlegen, was aus meiner Sicht alles mindestens passieren müsste – und das bundesweit! – um uns in den nächsten zwanzig Jahren aus der Bildungskatastrophe zu führen.
1. Vor der Schule
- Mehr Ausbildungsplätze schaffen für Erzieher:innen
- Ausbildung von mehr Erzieher:innen, um jedem Kind einen Kita-Platz zu ermöglichen.
- Höhere Gehälter für Erzieher:innen, um die Motivation zu steigern
- Qualifizierung von Erzieher:innen in der Ausbildung auf dem Gebiet (alltagsintegrierte) Sprachförderung
- Schaffung von mehr Kita-Plätzen
- Kleinere Gruppen
- Kita nicht nur als Ort des Freispiels, sondern als (Sprach-)Lernort
- Fortbildung älterer Erzieher:innen zu diesem Thema
2. Schule
- Schaffung von deutlich mehr Studienplätzen für das (Grundschul-)Lehramt
- Abschaffung des NC für das Grundschullehramt
- Reform der Studiengänge, um die hohen Abbrecherquoten zu reduzieren
- Verpflichtende Ausbildung in den neuesten Methoden der Lese-Didaktik
- Übergangsweise fachliche Qualifizierung von Quereinsteigern
- Einstellung von mehr Lehrkräften
- Kleinere Klassen
- Intensiveres Lesetraining
- Verpflichtende Schulbibliotheken; Mittel für die Anschaffung von Büchern und Freistellungsstunden für betreuende Lehrkräfte
- Mittel für die Anschaffung von Klassensätzen von Büchern, damit die nicht von Eltern bezahlt oder an Schulen in benachteiligten Gegenden durch Spenden von Autor:innen und Verlagen beschafft werden müssen
- Fortbildung älterer Lehrkräfte
- Fortführung des Lesetrainings in der Sekundarstufe 1
Bildungsföderalismus als großer Haken
Sie sehen: Auf Kommunen – die für den Kita-Bereich zuständig sind – und Bundesländer, die für Schule und Hochschule zuständig sind, käme da finanziell einiges zu. Und schon jetzt wissen Bundesländer und Kommunen ja nicht, wie sie alles stemmen sollen, denken Sie an das Thema Geflüchtete. Darum sehe ich keine Lösung, in die finanziell nicht auch der Bund involviert wäre.
Der Haken dabei ist der Bildungsföderalismus. Der Bund darf den Ländern nichts vorschreiben. Aber natürlich gibt es Möglichkeiten, dieses Problem zu umgehen: Das ist in den zurückliegenden Jahren z.B. mit dem Digitalpakt oder dem Gute-Kita-Gesetz geschehen, bei denen die Mittel zwar vom Bund kamen, die Entscheidungen aber in der Hoheit der Länder blieben. Wobei ich mich – aber das ist natürlich ein Maximalwunsch! – freuen würde, wenn die Mittel dann nicht nach dem Königsteiner Schlüssel verteilt würden, sondern nach Bedürftigkeit der Länder; sonst bekäme wieder das gar nicht so bedürftige Bayern sehr viel mehr als das erschütternd bedürftige Bremen.
Leseschwäche wird von akuteren Themen verdrängt
Unser Problem ist allerdings, dass es immer akutere Themen gibt, für die dringend und jetzt sofort unerwartet zusätzliche Bundesmittel gebraucht werden: Denken Sie z.B. an die Pandemie, dann den Ukrainekrieg, die Umweltpolitik, die Bundeswehr.
Und natürlich wird es so weitergehen. Krisen, die sofort und zusätzlich Bundesmittel erfordern, wird es auch in Zukunft geben. Und die Bildung steht immer ganz am Ende der Schlange.
Aber wir haben in den letzten Jahren auch gelernt, dass es Sondervermögen gibt; die Schuldenbremse könnte gelockert oder zusätzliche Abgaben könnten speziell für die Bildung erhoben werden. Denn wie wollen wir die Schulden begleichen, die wir in den letzten Jahren de facto aufgehäuft haben, wenn es uns nicht gelingt, mehr Menschen so weit zu qualifizieren, dass sie Steuern zahlen können?
Bildung hat im Bundestag keine Lobby
Wirtschaftsverbände haben ihre Lobby im Bundestag. Die Bildung dagegen hat dort keine wirksame Lobby. Ich denke darum, nur wenn sich die Wirtschaft von jetzt an auch in den Ländern und im Bund als Lobby für die Bildung versteht, wenn sie begreift, dass wir langfristig denken müssen, weil sie sieht – und das tut sie ja im zunehmenden Maße! – wie dramatisch die Folgen unserer Bildungskrise für sie sind, haben wir eine Chance.
Ganz am Anfang hatte ich gesagt, dass ich auf Ihre Vorschläge, Ideen, auf Ihr Nachdenken setze. Darum freue ich mich darauf, wenn wir gleich auch alle gemeinsam ins Gespräch kommen. Hier im Übersee-Club finden wir vielleicht mehr als anderswo geballtes Wissen.
Ich danke Ihnen.