Hamburg. Der ehemalige Uni-Präsident Dieter Lenzen über die Frage, wie man mit Kindern umgeht, die Gewaltverbrechen begehen.
In ihrem gemeinsamen Podcast „Wie jetzt?“ unterhalten sich Lars Haider und Dieter Lenzen über Themen, die Wissenschaft und Journalismus gleichermaßen bewegen. Heute geht es um die Frage, ob Kinder früher strafmündig sein müssen, weil sie offenbar auch immer früher zu Gewaltverbrechen neigen können. Zu hören ist das komplette Gespräch unter www.abendblatt.de/podcast.
Lars Haider: „Uns alle hat die schreckliche Tat von Freudenberg beschäftigt, wo zwei Mädchen, 12 und 13 Jahre alt, eine zwölfjährige Mitschülerin ermordet haben. Es haben sich danach viele Fragen gestellt, beginnend bei dem Zustand einer Gesellschaft, in der so etwas möglich ist, bis hin zu der Strafunmündigkeit der Täterinnen. In Deutschland kann man laut Gesetz erst ab 14 für Straftaten belangt werden …
Dieter Lenzen: „… aber das war nicht immer so. Es hat verschiedene Phasen gegeben. Mit der Reichsgründung 1871 lag das Alter der Strafmündigkeit bei 12, 1923 wurde es dann auf 14 erhöht, die Nazis senkten es wieder auf 12 ab, seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs liegt es bei 14. Interessant ist, dass es in anderen Ländern davon deutlich abweichende Grenzen gibt, was mich ziemlich erstaunt hat. In der Schweiz und in England ist man ab zehn Jahren strafmündig, in den USA auch, in Polen ab 17, in Frankreich ab 13. Es gibt eine größere Varianz, und es stellt sich die Frage, was die diesen Altersgrenzen zugrunde liegenden Annahmen sind und ob sie noch gelten.“
„Vor allem frage ich mich, ob es sein kann, dass zwei Mädchen, die ein anderes umgebracht haben, ohne eine Strafe davonkommen. Denn so wird es sein, die beiden Täterinnen werden eines Tages wieder in eine Schule gehen und ihr Leben weiterleben, obwohl sie das eines anderen Menschen offensichtlich vorsätzlich beendet haben. Sie sind nicht mal vorbestraft.“
Lenzen: „Es passiert nicht nichts. Die beiden können nicht von einem Gericht verurteilt werden, das stimmt, aber für sie ist das Jugendamt zuständig. Und dieses Jugendamt muss einen Weg finden, dass die Mädchen nicht erneut straffällig werden.“
„Mein Reflex nach solchen Geschehnissen ist, dass die heute 12- und 13-Jährigen in ihrer Entwicklung im Positiven wie im Negativen viel weiter sind, als sie es vor 20 oder 30 Jahren waren, und man entsprechend das Strafmündigkeitsalter absenken müsste. Die Kinder werden durch viele verschiedene Faktoren schneller erwachsen, und dem muss man auch per Gesetz Rechnung tragen, so wie es die Schweiz und die USA schon getan haben.“
Lenzen: „Es ist sicher, dass Jungen ein verzögertes Reifungsalter gegenüber Mädchen haben, das bis zu zwei Jahre ausmachen kann. Trotzdem glaube ich, dass wir eher auf das Individuum, also den einzelnen Menschen, schauen müssen. Denn es gibt sogenannte Reifungsvarianten, die bis zu vier Jahre betragen können. Das heißt, der Reifungsumfang kann zwei Jahre über oder unter dem Durchschnitt liegen.“
„Das heißt, ein zwölfjähriges Mädchen kann sich wie eine Zehnjährige, aber auch wie eine 14-Jährige verhalten.“
Lenzen: „So ist es, und man muss wie gesagt in Rechnung stellen, dass Mädchen früher reifen als Jungen. Das macht die Bewertung der Strafmündigkeit komplizierter, und es gibt weitere Variablen, die man berücksichtigen muss, etwa Gewalterfahrungen in der eigenen Familie, die Herkunft aus bestimmten Milieus, die Erziehung. Deshalb kommt man nicht um eine individuelle Betrachtung herum, nach der man Kinder im Alter von zum Beispiel zwölf Jahren sowohl als Kinder als eben auch als dann strafmündige junge Erwachsene einordnen kann. Die Debatte um eine Strafmündigkeit ab 12 oder 14 ist völlig schief, darum kann es nicht gehen.“
„Das hieße, dass man das mit einer einheitlichen Altersgrenze für die Strafmündigkeit ganz lässt.“
Lenzen: „Man müsste das Gesetz so ändern, dass die Behörden genötigt sind, eine individuelle Prüfung anhand psychologischer Maßstäbe vorzunehmen. Und wir müssen den Reflex einer Gesellschaft mitdiskutieren, die es nicht ertragen kann oder will, dass solche Taten wie die von Freudenberg ungesühnt bleiben. Natürlich muss man bestrafen, die Frage ist aber, welche Intention dahintersteht. Geht es vor allem um Abschreckung?“
„Ich finde, dass das ein entscheidender Punkt ist. Wenn man sich fragt, warum solche Taten bei uns passieren können, warum es signifikant häufiger Auseinandersetzungen mit dem Einsatz von Messern gibt, dann stellt man auch fest, dass es einen Hang dazu gibt, zu viel Verständnis für die Täterinnen und Täter zu haben. Und was ist die Lehre von jungen Menschen, die hören, dass die beiden Mörderinnen, denn nichts anderes sind die beiden Mädchen ja, ohne eine Strafe davonkommen? Der Respekt vor dem Staat und seinen Vertretern wird dadurch sicher nicht erhöht.“
Lenzen: „Die Gesellschaft hat natürlich ein Recht auf Sühne und Genugtuung, sie kann sich von Straftäterinnen und -tätern nicht einfach auf der Nase herumtanzen lassen. Normen und Gesetze müssen durchgesetzt werden, weil der Staat sonst lahm dasteht. Da müssen wir etwas unternehmen, um Nachahmungen zu verhindern, aber auch um den Respekt vor Polizisten, Lehrern, Eltern etc. zu stärken.“
„Von klaren und konsequenten Strafen bei entsprechendem Fehlverhalten sind wir aber oft weit entfernt.“
Lenzen: „Und das muss sich ändern, weil sich sonst immer mehr derjenigen, die sich an Normen halten, fragen, warum sie das eigentlich tun. Das ganze Spektrum, das strafbar ist, ist betroffen, das beginnt bei der Steuerhinterziehung und endet bei kleinen Diebstählen im Supermarkt. Der Rechtsstaat muss sich ständig fragen, was er um seiner selbst willen durchgehen lassen kann und was nicht.“
„Es gibt ja schon Bereiche, in denen sich das aufgelöst hat, denken Sie an Putzhilfen oder Handwerker, die im großen Stil von ganz normalen Menschen schwarz bezahlt werden, ohne dass ein Schuldbewusstsein entstehen würde.“
Lenzen: „Man muss unterscheiden zwischen der Geltung einer Norm und ihrer Durchsetzung. Wenn Gesetze oder Vorschriften grundsätzlich nicht durchsetz- oder verfolgbar sind, dann wirkt es auf die Bürgerinnen und Bürger so, als würden sie gar nicht gelten.“
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„Wir müssen uns noch Gedanken darüber machen, was uns so eine Tat wie die in Freudenberg über unsere Gesellschaft sagt.“
Lenzen: „Wir spüren, dass es eine veränderte Einstellung gegenüber dem Gesetz und dem Staat beziehungsweise seinen Vertreterinnen und Vertretern gibt. Vielleicht hat es auch etwas mit der Frage des Respekts gegenüber Autoritäten zu tun, also gegenüber Polizisten, Lehrerinnen oder älteren Menschen überhaupt. Das geht bis zu etwas, was früher selbstverständlich war, nämlich, dass ein junger Mensch einem älteren im Bus oder in der Bahn den Platz anbot, wenn ansonsten nichts frei war. So etwas gibt es doch heute kaum noch. Mit anderen Worten: Wir haben es hier mit Erziehungsproblemen zu tun. Das Bildungssystem ist gefragt, und das Bildungssystem hat im Fall Freudenberg versagt.“
„Sehen wir heute die Folgen der antiautoritären Erziehung?“
Lenzen: „Das kann durchaus sein, und das hat in den 70er-Jahren unter anderem damit begonnen, dass Lehrerinnen und Lehrer sich von den Schülerinnen und Schülern duzen ließen. Heute müssen wir den Aspekt eines respektvollen Umgangs in die Schule mit hineinnehmen. Ich will nur ein Beispiel nennen: In Japan gab es Unterrichtsfächer, die hießen ‚Eltern ehren‘ und ‚Lehrer ehren‘, mit denen die Japaner einer Gesellschaft, die friedlich und harmonisch zusammenlebt, den Weg ebnen wollten. Ich will nicht propagieren, dass das der richtige Weg ist. Aber wenn Kinder nicht erfahren, dass das, was sie wie selbstverständlich tun, nicht selbstverständlich ist, wird es schwierig, ihnen das vorzuwerfen.“