Hamburg. Mit einem IQ von etwa 138 konnte Rasmus sich kaum ins deutsche Schulsystem einfügen. Was ihm als Kind half – und wo er jetzt steht.
Note: Sechs. Rasmus geht die Mathearbeit noch einmal durch. Das kann doch nicht sein. Das Ergebnis stimmt doch, denkt der damals Achtjährige. Und tatsächlich: Er hat richtig gerechnet. Aber eine entscheidende Sache fehlt: Er hat vergessen, den Lösungsweg zu notieren. Der war für ihn so klar und so schnell im Kopf erledigt, dass er gar nicht auf die Idee kam, ihn aufzuschreiben. Aber die schlechte Note ist im Grunde nicht das eigentliche Problem.
Rasmus, der seinen Nachnamen lieber nicht in der Zeitung lesen möchte, gilt schon in der Kita und der Grundschule als auffällig, er stört und zappelt ständig herum, stellt Regeln infrage, hat seinen eigenen Kopf. Was damals keiner weiß: Rasmus’ Intelligenzquotient (IQ) ist höher als bei den meisten anderen Menschen. Er liegt je nach Test bei etwa 138. Der heute 19-Jährige ist hochbegabt.
Schule Hamburg: Hochbegabte Kinder – auch Lehrer gefragt
Etwa 300.000 Kinder in Deutschland gelten als hoch- beziehungsweise höchstbegabt, weil sie mit einem IQ von über 130 beziehungsweise 145 Punkten weit über dem bundesweiten Durchschnitt von 100 liegen. Schätzungsweise 4500 von ihnen leben laut Angaben der Deutschen Gesellschaft für das hochbegabte Kind (DGhK e.V.) in Hamburg.
Bis die Hochbegabung erkannt wird, vergehen oft viele Jahre, die für die Kinder und Familien belastend sein können. „Es gibt noch viel zu tun, um die Situation zu verbessern“, sagt Tessa Mora, Erste Vorsitzende der DGhK Hamburg. Sie fordert: „An jeder Schule sollte eine Lehrkraft sein, die sich mit dem Thema Hochbegabung auskennt.“
Auch die Schulbehörde befasst sich mit dem Thema. Anfang 2018 startete bundesweit die Initiative „Leistung macht Schule“ (Lemas) mit dem Ziel, eine leistungsförderliche Schulkultur zu entwickeln. Hamburg beteiligt sich mit zwölf Schulen im Rahmen des Modellprojekts „Begabungspiloten“. Grundsätzlich sei die Begabtenförderung laut Hamburgischem Schulgesetz eine „Regelaufgabe an allen Hamburger Schulen“.
Hoher IQ muss Menschen nicht erfolgreich machen
Das Lemas-Projekt ist auf zehn Jahre angelegt. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse und Erfahrungen sollen laut Bildungsbehörde in die bestehenden Strukturen integriert werden.
Bei Rasmus hat das System nicht gegriffen. Seine Hochbegabung wurde lange nicht erkannt. Vielleicht auch, weil er so gar nicht zu all den Geschichten über Wunderkinder passt, die ihre Zeit lieber im Hörsaal als auf dem Fußballplatz verbringen und sieben Fremdsprachen sprechen. Wer mit Rasmus und anderen Hochbegabten spricht, der lernt vor allem eines schnell: Hochbegabt ist nicht gleich hochbegabt. Und ein hoher IQ hat zumindest nicht zwangsläufig etwas mit Erfolg, Ehrgeiz oder gar mit Zufriedenheit zu tun.
Hochbegabte Gardy Hemmerde kann die Kinder gut verstehen
Davon weiß wohl kaum einer besser zu berichten als Gardy Hemmerde. Die 60-Jährige hat selbst einen überdurchschnittlich hohen IQ und coacht hochbegabte Kinder und ihre Familien. „Ein klassisches Problem ist, dass die Kinder in der Schule durch normabweichendes Verhalten auffallen. Sie stören, können sich nicht konzentrieren, machen den Klassenkasper, schreiben schlechte Noten und finden keinen Anschluss.“ In den meisten Fällen würden sich die Kinder einfach „unfassbar langweilen“. Oft zeige sich, dass Mädchen und Jungen darauf unterschiedlich reagieren. „Mädchen schlucken das oft herunter, um sich anzupassen. Jungs neigen dazu, ihren Frust nach außen zu tragen.“
Auch bei Rasmus ist das so. Erste Auffälligkeiten zeigten sich in der Kita. Er eckte an, hielt sich nicht an Regeln. Mittagsschlaf? Lehnte er ab. Den Lärm und das Durcheinander störten ihn. Rasmus war in dem Alter sehr geräusch- und geruchsempfindlich. Und in der Schule wurde es nicht besser. Der straffe Lehrplan und die festen Zeiten waren nichts für ihn. Seine Noten waren durchschnittlich bis gut. Aber sein Verhalten ließ die Lehrer an ihre Grenzen stoßen. Schließlich bekam Rasmus das Medikament Ritalin, das bei Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsdefizitstörungen verschrieben wird. Das macht ihn zwar ruhiger, aber Rasmus litt unter den Nebenwirkungen.
Rasmus wird das Überspringen einer Klasse zuerst verwehrt
Die Familie wechselte den Kinderarzt, und zum ersten Mal fiel das Wort Hochbegabung. Der sogenannte Hawik-Test bestätigte den Verdacht. Rasmus ist überdurchschnittlich intelligent. Endlich wusste die Familie, was hinter seinem Verhalten steckt. Aber sie lernten auch, dass Hochbegabung in seinem Fall eben auch heißt, dass er sie nicht so ausschöpfen kann, wie es bestenfalls möglich wäre. Wenn ihn etwas nicht interessiert, dann schaltet er ab und lässt sich leicht ablenken. Gardy Hemmerde drückt es so aus: „Es ist wie ein Rennauto, dass zwar 900 PS hat, aber niemals auf die Fahrbahn kann, weil keine Luft in den Reifen ist.“
Im Alter von elf Jahren ist Rasmus zum ersten Mal bei ihr. Hier findet er einen Schutzraum, jemanden, der ihn versteht und ihm zuhört. Schließlich stellt die Familie einen Antrag darauf, dass Rasmus eine Klasse überspringen kann.
Der hochbegabte Junge kommt auf eine Spezialschule
Die Schule lehnt ab. Stattdessen: runde Tische, Gespräche mit Experten und Beratungsstellen. Rasmus zieht sich zurück, geht immer öfter nicht zur Schule, wird krankgeschrieben. Die Familie bemüht sich um eine neue Schule – ohne Erfolg. Erst nachdem das Jugendamt sich auch einschaltet, erklärt sich eine Schule bereit, den Jungen aufzunehmen.
Auf der neuen Grundschule läuft es besser. Rasmus darf eine Klasse überspringen und bekommt eine Schulbegleitung, die ihn im Alltag unterstützt. Dann kommt Rasmus aufs Gymnasium. Doch die Schulbegleitung wird ab der sechsten Klasse gestrichen. Und wieder funktioniert es nicht. Rasmus wird regelmäßig vor die Tür oder ganz nach Hause geschickt, weil er den Unterricht stört. Auch seine Klassenkameraden bekommen die Spannungen mit. Rasmus wird zunehmend zum Außenseiter. Angenommen fühlt er sich dagegen bei der freiwilligen Feuerwehr und beim Technischen Hilfswerk, wo er in seiner Freizeit aktiv ist. In der sechsten Klasse wird gemeinsam die Entscheidung getroffen, erneut die Schule zu wechseln. Dieses Mal kommt Rasmus auf eine private Spezialschule für Kinder, die aus unterschiedlichen Gründen zum Teil als schwer beschulbar gelten: hyperaktive, Kinder mit ADHS, mit Rechen- oder Leseschwäche, Autisten und eben auch Hochbegabte.
Sanitäterausbildung anstatt Frontalunterricht – das ist der Wunsch
Und in dieser Gruppe fühlt sich Rasmus erstmals wohl. Denn auf dieser Schule ist alles anders. Er darf hier über die Gänge flitzen, wenn er es braucht, darf so sein, wie er ist. Probleme beim Lernen aber hat er immer noch. An der Vorprüfung zum Abitur scheitert er schließlich. Und wieder sucht er Hilfe bei Gardy Hemmerde, die als selbstständiger Coach in Eppendorf tätig ist. „Rasmus hat jeden Tag bei mir in der Küche gelernt, weil er hier nicht abgelenkt wird und weil ich ihm helfen konnte, das Lernen zu lernen. Und manchmal hieß das eben, dass ein Lernvideo auf Youtube besser war als ein langer Text“, sagt Hemmerde.
Und dann schafft Rasmus sein Abitur. Und zwar ein sehr gutes. Über den Schnitt möchte er nicht sprechen. Er interessiert ihn nicht. Und jetzt? Studieren? An der Uni Karriere machen? Rasmus will davon zumindest vorerst nichts wissen. Vor einem halben Jahr hat er eine Ausbildung als Notfallsanitäter bei der Berufsfeuerwehr angefangen. „Ich möchte keinen Frontalunterricht mehr, sondern das machen, was mich wirklich interessiert.“ Die Kameradschaft tut ihm gut, sagt er. Und seine Hochbegabung spielt hier keine Rolle. „Und das ist auch gut so.“