Hamburg. Jugendamtsleiter aller sieben Bezirke haben einen Brandbrief zur Notlage der Behörden verfasst. Wo überall die Probleme liegen.
Der Schutz von Kindern und Jugendlichen vor psychischer und körperlicher Gewalt, die Lösung familiärer Konflikte und die Unterstützung überforderter Eltern sind die wichtigsten Aufgaben der Allgemeinen Sozialen Dienste (ASD) in den Hamburger Bezirken. Nun aber haben die Leiter der bezirklichen Jugendämter Alarm geschlagen.
Der ASD sei aufgrund immer neuer Aufgaben und fehlender Unterbringungsplätze nicht mehr in der Lage, alle seine Aufgaben wahrzunehmen, heißt es einem schriftlichen Notruf, der von allen sieben Jugendamtsleitungen unterzeichnet wurde. Zwar hätten die Bezirke Arbeitsabläufe optimiert, ist in dem bereits kurz vor Weihnachten verfassten Brandbrief zu lesen, der dem Abendblatt vorliegt.
Kinder in Hamburg: Jugendämter können Schutz nicht mehr gewährleisten
„Dies reicht jedoch nicht mehr aus, um den Kinderschutz dauerhaft zu gewährleisten.“ Um den „Dienstbetrieb sicherzustellen“ hätten sich die Bezirke darauf verständigt, bestimmte „Standards“ nur noch in größeren Abständen anzubieten oder ganz auszusetzen. Das betreffe die Hilfeplangespräche mit allen Betroffenen, die „Volljährigenhilfe“ und andere Unterstützungsmaßnahmen. Die Einschränkungen seien notwendig, um „durch Priorisierung den Kinderschutz zu sichern“.
„Zudem werden mit der Fachbehörde gemeinsame Aktivitäten zur Veränderung der Situation erfolgen müssen“, fordern die Unterzeichner. In diesem Zusammenhang verweise man auf Forderungen des Deutschen Städtetages zum Fachkräftemangel bei den Allgemeinen Sozialen Diensten.
Kinder und Jugendliche in akuter Not mussten in Turnhalle untergebracht werden
Auch der Kinder- und Jugendnotdienst (KJND) ist seit Monaten überlastet. Im KJND werden Kinder und Jugendliche in Notfällen vorübergehend aufgenommen, die etwa aufgrund von persönlichen Problemen, Überforderung der Eltern, Kriminalität oder Misshandlungen nicht in ihren Familien bleiben können. Zuletzt waren die Einrichtungen an der Feuerbergstraße so überlaufen, dass dort auch eine Turn- und Mehrzweckhalle zur Unterbringung Jugendliche genutzt werden musste.
Die Linksfraktion in der Bürgerschaft hat zuletzt zahlreiche Kleine Anfragen zu dem Thema an den Senat gerichtet – und dabei auch nach der Zahl von aktuell in Heimen untergebrachten Babys, Kindern und Jugendlichen gefragt. In ihren Antworten habe die Sozialbehörde allerdings völlig widersprüchliche Zahlen geliefert, moniert Die Linke. „Der Senat hat offensichtlich den Überblick verloren“, so Linken-Fraktionschefin Sabine Boeddinghaus. „Sollten es von Juli 2021 bis Januar 2022 zuerst 7388 betroffene Jugendliche gewesen sein, nannte der Senat elf Tage später auf eine zweite Anfrage eine Zahl von 5779 Jugendlichen inklusive unbegleitet hierher geflüchteter junger Menschen – eine drastische Abweichung.“
Linke kritisiert, dass die Behörde den Überblick verloren habe
Schlimmer noch sei es, dass der Senat den starken Anstieg der Heimunterbringung hier aufgewachsener Kinder in den vergangenen sieben Monaten um zwölf bis 42 Prozent je nach Altersgruppe und Geschlecht ignoriere, so die Linken-Politikerin mit Blick auf die Senatsantworten. Auch die Werte für die stationäre Unterbringung außerhalb Hamburgs seien deutlich nach oben gegangen: Ende Juni seien 806 Kinder und Jugendliche im Alter bis 14 Jahren betroffen gewesen, Ende Januar dieses Jahres schon 885.
„Die Behörde hat keine Ahnung mehr von der Zahl junger Hamburgerinnen und Hamburger, die unseren Schutz brauchen“, sagte Boeddinghaus dem Abendblatt. Zugleich warf die Linken-Fraktionschefin der Sozialbehörde vor, nicht engagiert genug auf den Brandbrief der Jugendamtsleitungen reagiert zu haben. „Da läuten bei mir alle Alarmglocken und ich würde vom Senat erwarten, dass er sofort Maßnahmen ergreift, um Druck aus dem System zu nehmen“, so Boeddinghaus.
Hohe Fluktuation beim Personal und Schwierigkeiten bei Neueinstellungen
„Aber was tut er stattdessen? Er negiert und banalisiert diese krisenhafte Lage, missachtet so die Überbeanspruchung der Mitarbeitenden und die wachsenden Probleme in vielen Familien.“ Die Linke fordere einen „breit angelegten Dialogprozess unter Beteiligung der Beschäftigten, der Träger und der Bezirke, um die Ursachen dieser dramatischen Überlastung zu finden und zu beheben“.
Nach Auskunft der Sozialbehörde sind es vor allem drei Faktoren, die dem ASD und anderen Einrichtungen in diesem Bereich zu schaffen machen. Alle Bezirke verzeichneten „eine hohe Fluktuation und eine zunehmend erschwerte Personalrekrutierung“, sagte eine Behördensprecherin auf Abendblatt-Anfrage. „Herausfordernd ist zudem die deutliche Zunahme von geflüchteten Familien und von unbegleiteten minderjähriger Schutzsuchenden.“ Drittens seien noch immer „die Folgen der Corona-Zeit und die damit verbundene Belastung vieler Familien deutlich zu spüren“.
Senatorin: Kinderschutz hat oberste Priorität
Zur Lage beim ASD sei die Behörde „mit den Beteiligten im Austausch“ und habe weitere Gespräche vereinbart, so die Sprecherin der neuen Sozialsenatorin Melanie Schlotzhauer (SPD). „Die Arbeit des ASD wird in keinem Bereich ausgesetzt. Der Kinderschutz als oberste Priorität der Tätigkeit des ASD ist zu jeder Zeit zu gewährleisten.“
Was die von der Linken kritisierten Zahlenangaben angeht, so weist die Sozialbehörde den Vorwurf zurück, diese seien widersprüchlich. Vielmehr sei die „Berechnungsgrundlage der Fraktion Die Linke nicht korrekt“ gewählt.
Senat habe Maßnahmen ergriffen, um den Schutz weiter zu gewährleisten
Um den Kinder- und Jugendschutz auch künftig zu gewährleisten, habe der Senat „eine Vielzahl von Maßnahmen ergriffen“, betont die Sozialbehörde. Hierzu zählten der Ausbau der Betreuungsmöglichkeiten für minderjährige Schutzsuchende und die Verstärkung der sozialen Infrastruktur rund um die Unterkünfte, so die Behördensprecherin. „Außerdem wurde die Einrichtung eines Projektes zur Neubemessung des Personalbedarfs im ASD vereinbart, um einen an der Arbeitsquantität und -qualität ausreichenden Personalbestand zu gewährleisten.“