Hamburg. Vom lokalen Projekt zum landesweiten Vorbild: Bundeskanzler gratuliert Jugendberufsagentur zum zehnjährigen Bestehen.
Jeden Morgen um vier Uhr klingelt der Wecker von Sunny K. Auch wenn das frühe Aufstehen dem 22-Jährigen nicht immer leichtfällt, „lohnt es sich“, wie er sagt. Das Haus verlässt der gebürtige Afghane anschließend nur in Anzug und Krawatte. So wie auch an diesem Nachmittag, an dem zwei goldene Kugelschreiber aus seiner schwarzen Anzugtasche hervorblitzen. „Es macht mich selbstbewusster, und ich fühle mich einfach stärker“, erklärt Sunny, während er seine Hände ineinanderfaltet.
Dass der 22-Jährige diese Schutzmauer braucht, hat viele Gründe. Dass er aber überhaupt an diesem Tag so gut gelaunt in der Jugendberufsagentur (JBA) in der Norderstraße sitzt und dem Abendblatt seine bewegende Geschichte erzählt, ist einerseits auf sein beeindruckendes Durchhaltevermögen zurückzuführen. Zum anderen aber auch auf ein Modellprojekt, weswegen Bundeskanzler Olaf Scholz am Freitag nach Hamburg kam. Doch dazu später mehr, denn es ist alles andere als selbstverständlich, dass Sunny K. mitten in seiner Ausbildung zum chemisch-technischen Assistenten steht und nebenbei sein Abitur nachholt.
Olaf Scholz besucht Jugendberufsagentur in Hamburg
2000 in Afghanistan geboren, flieht er als Zwölfjähriger mit seinen Eltern und seiner Schwester nach Deutschland. Hier angekommen, landet die Familie in Wismar – Sunnys Verhängnis, wie sich kurz darauf herausstellt. Nachdem der junge Afghane eigenen Angaben nach aufgrund von behördlicher Fehlkommunikation ein Jahr sehnsüchtig darauf wartet, in die Schule gehen zu dürfen, sei es rückblickend „die schlimmste Zeit“ gewesen.
„Ich war der einzige Ausländer in meinem Jahrgang, damit kamen meine Mitschüler nicht klar.“ Massive Mobbingerfahrungen bringen ihn schließlich dazu, die Schule nach der zehnten Klasse zu beenden. Und das, obwohl Sunny zu diesem Zeitpunkt schon weiß, dass er studieren will. Weil er es in Wismar nicht mehr aushält, zieht er nach Hamburg und beginnt dort eine Ausbildung als sozialpädagogischer Assistent. Doch auch hier meint das Schicksal es nicht gut mit ihm.
Scholz lobt Jugendberufsagenturen
Da er keine Wohnung findet, schläft Sunny teilweise in Bushaltestellen. „Das hat mich wirklich belastet“, sagt er und schaut mit leerem Blick auf den Tisch vor sich. Auch das Hamburger Behördenpingpong habe ihn zusätzlich belastet. Immer wieder sei er abgewiesen und an die Behörden in Wismar verwiesen worden – dort, wo Sunny zwar noch gemeldet war, aber nicht mehr sein wollte. Die Belastung wird schlussendlich so groß, dass er durch die Probezeit fällt. Es folgt eine lange Zeit mit tief gehenden psychischen Problemen und eine zweite missglückte Ausbildung. Hinzu kommen Corona-Lockdowns und fehlende soziale Kontakte. „Ich habe mich ein halbes Jahr komplett abgeschottet“, erklärt der 22-Jährige.
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Doch genau das hätte nicht sein müssen. Mit der Gründung der JBA vor zehn Jahren, der ersten ihrer Art in ganz Deutschland, hat der heutige Bundeskanzler und ehemalige Bürgermeister Olaf Scholz ein Modellprojekt nach Hamburg geholt, das sich zur Vorzeigeinstitution für ganz Deutschland entpuppt hat. Auf die Initiative des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales hin setzte der damalige Bürgermeister sich dafür ein, die jungen Menschen in Hamburg „an die Hand zu nehmen“ und dadurch die Jugendarbeitslosigkeit zu senken. Bereits bei seinem Amtsantritt 2011 habe er sich gefragt, „warum Ausbildungsanfänger im Schnitt schon 19 Jahre alt seien“.
Während seiner Wahlkampftour im vergangenen Jahr richtete der Kanzler sogar eigens einen Termin dafür ein, um seinem „Baby“, wie er das Konstrukt nannte, einen Besuch abzustatten. Insofern war es nicht überraschend, dass der Kanzler am Freitag zum zehnjährigen Bestehen anreiste.
Scholz „unverändert begeistert“ von dem Konzept JBA
So sei Scholz „unverändert begeistert“ von dem Konzept JBA und verfolge auch weiterhin die Erfolge, obwohl er nicht mehr in Hamburg wohne. „Am schönsten finde ich, ist die Tatsache, dass durch die JBA Menschen zusammenfinden, die das so vielleicht gar nicht geplant hatten.“ Niemand dürfe alleingelassen werden, denn die Berufsausbildung sei in Deutschland immer noch die wichtigste Ausbildung. Die JBA „ist darüber hinaus eine Chance“, mehr Menschen in eine Ausbildung zu bekommen und so dem Fachkräftemangel zu begegnen. „Jeder wird schließlich gebraucht.“
Doch wie viel Erfolg steckt wirklich dahinter? Ablesen lässt sich der zwar nicht allein an den Zahlen, doch machen diese den Unterschied besonders deutlich: Waren es 2011 noch 1185 Jugendliche in Hamburg, die ihre Schule nach der Klasse 10 verließen und von denen nicht bekannt war, was sie im Anschluss machten, sind es laut Sozialbehörde seit 2012 jährlich in etwa nur noch zehn Jugendliche. Das Beratungs- und Bildungsangebot der JBA setzt bereits ab der Klassenstufe 8 über die Berufsorientierung an und unterstützt die Schulabgänger darüber hinaus auch direkt bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz.
Schafften früher nur 25 Prozent der Schulabgänger nach Klasse 10 direkt den Übergang in eine Ausbildung, sind es heute rund 40 Prozent, wie die Sozialbehörde mitteilt. 2021 haben 17.500 junge Menschen in Hamburg eine Berufsausbildung begonnen. Wer keinen Ausbildungsplatz fand, wurde in den berufsbildenden Schulen aufgenommen und über die weitere Bildungsangebote im zweiten Anlauf in eine Ausbildung vermittelt.
Durch die gezielte Zusammenarbeit von insgesamt fünf öffentlichen Einrichtungen, darunter die Agentur für Arbeit, das Jobcenter, die Behörde für Schule und Berufsbildung (BSB), die Bezirksämter sowie die Sozialbehörde, will Hamburg „allen jungen Menschen die Chance (geben), das Beste für sich im Leben zu erreichen“, erklärte Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) bei der Jubiläumsfeier am Freitag. Da der Übergang von der Schule in den Beruf für den weiteren Lebensweg von solch großer Bedeutung sei, unterstützt die JBA junge Menschen dabei, „ein starkes Fundament für das Berufsleben zu legen“, so Tschentscher.
„Er brauchte einfach nur einen kleinen Schubs.“
Dem pflichtet auch die bildungspolitische Sprecherin der CDU-Bürgerschaftsfraktion, Birgit Stöver, bei. Sie sieht die JBA als adäquates Mittel, um dem Fachkräftemangel entgegenzutreten: „Durch die enge Verzahnung der verschiedenen Kompetenzen wird den jungen Menschen der Übergang erheblich erleichtert, und davon profitieren letztlich alle Akteure des Ausbildungs- und Arbeitsmarktes.“
Grundsätzliche Zustimmung für das Projekt äußert auch Insa Tietjen (Linke). Die Fachsprecherin für Kita, Kinder, Ausbildung und Religion bemängelt jedoch, dass „es auch strukturelle Probleme gibt.“ Tietjen zufolge gebe es etliche Fälle, die zeigten, dass zum Beispiel ein Jahr in der Ausbildungsvorbereitung (AVdual) nicht optimal für den weiteren Werdegang sei. Hier müsse es im Zweifel zu einer intensiveren Beratung kommen.
So wie bei Sunny: Als eine Arbeitsvermittlerin des Jobcenters ihn vor drei Jahren an die JBA verweist, wendet sich schlagartig das Blatt. Fallmanager Patric Rosada von der JBA am Standort Mitte weiß, was zu tun ist und verhilft ihm über das psychologische Beratungsprojekt „CatchUp“ wieder zu Selbstvertrauen und Mut. „Ich habe sein Potenzial gesehen“, erklärt der Fallmanager. Letztendlich sei es aber Sunny selbst gewesen, der sich wieder aufgerappelt und sich auf seine jetzige Ausbildung in der BS 06 – berufliche Schule für Chemie, Biologie, Pharmazie und Agrarwirtschaft – beworben hat, so Rosada. „Er brauchte einfach nur einen kleinen Schubs.“