Hamburg (dpa/lno). Ein polnischer Rentner bessert sein Einkommen als Fahrer von Bauarbeitern in Hamburg auf. Nach vier Jahren gemeinsamen Wohnens ist einer von ihnen wie ein Bruder für ihn. Dann verletzt er ihn bei einem Streit und steht nun wegen versuchten Mordes vor Gericht.
Im Prozess um einen beinahe tödlichen Messerstich in einer Hamburger Monteurunterkunft hat der Angeklagte die Tat als Unfall dargestellt. Er sei bei einer Rangelei um einen Geldschein gestürzt und habe sich an seinem Kontrahenten festhalten wollen, sagte der 70 Jahre alte Angeklagte am Donnerstag vor der Strafkammer am Landgericht. Dabei sei ihm nicht bewusst gewesen, dass er noch das Küchenmesser vom Gemüseschälen in der Hand hatte.
Die Staatsanwaltschaft wirft dem Polen versuchten Mord vor. Der 70-Jährige soll am 20. März dieses Jahres mit einem Fleischermesser auf einen laut Polizei damals 56 Jahre alten Mitbewohner eingestochen haben. Zuvor soll es einen Streit zwischen den beiden Männern in der Gemeinschaftsküche der Wohnung im Stadtteil Neugraben-Fischbek gegeben haben. Der Jüngere habe den Älteren aufgefordert, schmutzige Töpfe abzuwaschen. Aus Verärgerung darüber habe der Angeklagte dem 56-Jährigen einen kräftigen Stich in den seitlichen Oberkörper versetzt und ihn lebensgefährlich verletzt.
In einer langen und sehr detaillierten Aussage erklärte der 70-Jährige, er habe an jenem Sonntagvormittag auf seinem Bett gesessen und Karotten für eine Suppe geschält. Sein Arbeitgeber sei ins Zimmer gekommen, und er habe den Chef auf mehrere Hundert Euro angesprochen, die dieser ihm schuldete. Daraufhin habe der Arbeitgeber ihm einen 50-Euro-Schein aufs Bett geworfen. Unterdessen sei auch der 56-Jährige ins Zimmer gekommen und habe plötzlich nach dem Geldschein gegriffen.
Er habe daraufhin den Mitbewohner am Handgelenk gepackt, um ihm das Geld abzunehmen. Bei dem Gerangel sei er gestürzt, habe sich aber noch an seinem Kontrahenten festhalten wollen. «Mir war nicht bewusst, dass ich das Messer in der Hand hatte», sagte der 70-Jährige nach den Worten einer Dolmetscherin. Er bat seinen Mitbewohner um Verzeihung für die Verletzung und Schmerzen. Der Stich verletzte nach Angaben der Staatsanwaltschaft eine Schlagader in der Brustwand. Wegen der starken Blutung musste der 56-Jährige auf der Intensivstation behandelt werden.
Der Angeklagte hatte nach eigenen Angaben seit rund vier Jahren mit dem Opfer zusammengelebt. «Für mich war er wie ein Bruder», sagte der 70-Jährige. Er selbst sei 2018 nach seiner Verrentung in Polen nach Hamburg gekommen und habe als Fahrer die Arbeiter zu den teilweise mehrere Hundert Kilometer entfernten Baustellen gebracht. In den 1980er Jahren habe er in einem großen Automobilwerk in Stuttgart gearbeitet. In den 90er Jahren sei er in seinem Heimatort zum Bürgermeister gewählt worden und habe sieben Jahre amtiert.
In der Wohnung in Neugraben-Fischbek teilte er sich sein Zimmer erst mit drei, dann mit zwei Mitbewohnern. Der 56-Jährige habe in einem Nachbarzimmer gewohnt. Die Küche habe er wochenlang nicht benutzt, sagte der Angeklagte. Er habe sich Fertiggerichte in einer Mikrowelle in seinem Zimmer zubereitet. Nach der Verletzung habe eine Schlägerei gedroht. «Jetzt werden wir dich erledigen», habe ein anderer Mitbewohner zu ihm gesagt. Er sei darum aus dem Haus gegangen und habe sich auf eine kleine Mauer gesetzt. Bei seiner Rückkehr hätten ihn Polizeibeamte festgenommen.
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