Hamburg. 1912 veröffentlichte der Lehrer Wilhelm Lamszus aus Hamburg ein visionäres Buch. Es wurde ein riesiger Erfolg.
Wilhelm Lamszus war ein eher unscheinbarer Typ. Fotos zeigen einen etwas ältlich wirkenden Herrn mit schütterem Haar, verschmitztem Schmunzeln und Nickelbrille. Dass er um 1900 als Volksschullehrer in Hamburg arbeitete, wirkt nicht wirklich überraschend. Ein netter, unauffälliger Pauker vom alten Schlag – so scheint es. Die Wirklichkeit sah anders aus.
Lamszus, der zunächst an der Knabenschule vor dem Holstentor und nach eine Strafversetzung an der Osterstraße unterrichtete, galt als engagierter Reformpädagoge, der wegen seines Einsatzes für eine Modernisierung des Deutschunterrichts auch überregional bekannt war. Noch mehr Beachtung fand der gebürtige Altonaer, als der Hamburger Janßen Verlag im September 1912 seinen Roman mit dem programmatischen Titel „Das Menschenschlachthaus“ veröffentlichte. Das Werk schlug buchstäblich ein wie eine Bombe und sorgte – um im Bild zu bleiben – landauf und landab für Zündstoff.
Lamszus, Jahrgang 1881, hatte bei Wehrübungen die neuen Waffen kennengelernt, die in einem künftigen Krieg zum Einsatz kommen würden, darunter das Schnellfeuergeschütz und Maschinengewehre. Die massive Aufrüstung zur See war allgemein bekannt, doch mittlerweile gab es – im Gegensatz zum Krieg von 1870/71 – auch eine schlagkräftige Luftwaffe. Anders als diejenigen, die noch von Heldenmut und Bewährung des Einzelnen fabulierten beziehungsweise als wehrfähige junge Männer selbst davon träumten, sah Lamszus eine ganz andere Kriegsmaschinerie auf alle Beteiligten zurollen. Und mit großer Vorstellungskraft malte er aus, welche Folgen das alles für die einzelnen Soldaten haben würde.
Erzählt wird die Geschichte eines jungen Familienvaters, der begeistert ins Feld zieht. Mit Marschmusik werden er und seine Kameraden verabschiedet. An der Front erlebt er dann ein bis dahin für ihn unvorstellbares Grauen. Am Ende begeht dieser Soldat als einziger Überlebender in seinem Frontabschnitt Selbstmord und wird in einem Massengrab verscharrt.
Hamburg historisch: Wilhelm Lamszus und sein visionäres Buch
Die deprimierende Handlung wird in drastischen Bildern erzählt. Das eigentlich Besondere aber: Lamszus, der kein Abitur hatte und schon mit 20 Jahren in den Schuldienst eingetreten war, beschrieb die kommenden Schrecken eines langen, blutigen Stellungskriegs in Teilen geradezu prophetisch. Die Schilderungen ähneln stark denjenigen in den Antikriegsbüchern, die erst nach 1918 erschienen und von denen Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ wohl das berühmteste ist. Ein Auszug: „Die Erde hat sich aufgetan ... es blitzt und knallt, es donnert, und der Himmel reißt entzwei und fällt entflammt herab – die Erde fliegt in Stücken auf.
Die Menschen und die Erde explodieren und fahren rund wie Feuerräder durch die Luft. Und dann ... ein Krach, ein wütendes Getöse schlägt uns an die Brust.“ Die Beschreibungen des Leids der Soldaten sind auch heute noch schwer verdaulich: „Da draußen liegen Arme, Beine, Köpfe, Rümpfe ... die heulen in die Nacht hinaus, das ganze Regiment liegt dort zerfetzt am Boden, ein Menschenklumpen, der zum Himmel schreit … Es steigen Wolken von der Erde hoch ... die schreien in den Lüften auf ... in dicken Schwaden kommen sie gezogen, daß wir die Wunden rauchen sehen und Blut und Knochen auf der Zunge schmecken.“
Die deprimierende Handlung wird in drastischen Bildern erzählt
Lamszus-Biograf Andreas Pehnke weist in der „Hamburgischen Biografie“ darauf hin, dass kein Dichter des beginnenden 20. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum gegen die Gefahren eines Weltkriegs anschrieb. Das tat nur der Hamburger Lehrer Wilhelm Lamszus. Innerhalb weniger Monate wurden mehr als 100.000 Exemplare des Buchs verkauft. 1913 erschien eine Übersetzung auf Englisch, später auch auf Französisch und in weiteren Sprachen wie Japanisch und Finnisch.
Sozialdemokratische Zeitungen und die aufkommende Friedensbewegung lobten das Buch überschwänglich, während Lamszus in konservativen Kreisen als „schlechter Deutscher“ und „vaterlandsloser Geselle“ diffamiert wurde. Nach einigem Hin und Her schob ihn die Schulbehörde mit einem Forschungsauftrag zur Lage der deutschen Angehörigen der Fremdenlegion nach Nordafrika ab – wohl vor allem, um ihn aus dem Schuldienst zu entfernen.
Als Ergebnis veröffentlichte Lamszus 1914 das Buch „Der verlorene Sohn“. Kurze Zeit später musste er selbst in den Krieg ziehen, allerdings diente der Vater dreier Kinder aus gesundheitlichen Gründen nur kurz in einem Ersatzbataillon bei Rendsburg. Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten gehörte Wilhelm Lamszus zu den ersten Lehrern, die aus dem Schuldienst entlassen wurden. Bis 1945 lebte er von einer reduzierten Pension und journalistischen Gelegenheitsarbeiten, die er unter Pseudonym verfasste. Nach Kriegsende engagierte er sich mit viel Verve für den Weltfrieden und thematisierte schon 1946 als erster deutschsprachiger Autor einen Atomkrieg. Lamszus starb 1965 weitgehend vergessen in Hamburg.