Hamburg. Steiler Aufstieg, tiefer Fall – seit dem Ukraine-Krieg ist der Altkanzler geächtet. Wie konnte es dazu kommen? Eine Analyse.

Der alte Fuchs. Kaum entdeckt er die Kamera, spannt er sich staatsmännisch, Verantwortung im Blick. Bin ich drin? Händereiben des Machers, knappe Wegwerfbewegung für die Medien, das kastanienbraune Haar gerichtet. Und Marsch. Läuft. Ich bin drin! In zehn Sekunden hat er seine Story fernsehgerecht erzählt, das Lied von Ernst und Entschlossenheit. Profi halt.

Kann Zufall gewesen sein, dass ein Kamerateam von RTL den Altkanzler in einem Moskauer Hotel erwischte. Kann aber auch sein, dass Schröder das Sommerloch nutzt, um wieder ins Spiel zu kommen, wenn alle anderen Urlaub machen. Für einen, der mit leeren Händen dasteht, sind Spekulationen wertvoller als die triste Realität. Eine Woche später erklärt Schröder im RTL-Schwesterblatt „Stern“, dass er Putin getroffen habe: „Die gute Nachricht: Der Kreml will eine Verhandlungslösung.“ Interessant: Ob der russische Außenminister Lawrow darüber neulich mit seinem US-Kollegen Blinken gesprochen hat? Endet nicht jeder Krieg mit einer Verhandlungslösung? Weiß der Altkanzler mehr als der Rest der Welt? Oder will da einer mit aller List zurück in die Rolle des Handelnden, des Staatsmannes?

Gerhard Schröder kämpft gegen den Ruf des Verräters

Gerhard Schröder kämpft in einer dramatischen Schlacht, härter als Lafontaine, Agenda 2010, Irak-Krieg zusammen. Es ist die Schlacht gegen den Ruf des Verräters, der sein Land für eine Handvoll Rubel verkaufte. Schröder ist isoliert. Kopfschütteln unter Freunden, sein Büro-Team ist desertiert, die SPD will ihn loswerden. Schröder sei einsam, berichten Weggefährten. Andere beschreiben ihn als kampfeslustig. Feststeht: Nie zuvor wurde ein Regierungschef derart geächtet. Da will er raus.

Boris Becker, Jan Ullrich, Helmut Kohl stürzten aus dem Olymp. Über Kohls Spenden breitete sich der Mantel der Geschichte, bei Ullrich setzt sich eine Opfergeschichte durch, Becker erkämpft sich in der Haft neuen Respekt. Gerhard Schröder dagegen fällt weiter, während die Trümmer seines Lebens um ihn kreisen: alte Verletzungen und neue Kränkungen, Russland und der Zweite Weltkrieg, Schuld und Ehre, der abwesende Vater und die kämpfende Mutter, Hass und Neid, Gas und Milliarden, Egon Bahr und Willy Brandt, Einsamkeit, Ukraine und immer wieder Putin.

Juristisch betrachtet: Altkanzler hat sich nichts zuschulden kommen lassen

Und das Land kreist mit. Der Sündenbock wurde einst mit allen Sünden des Volkes Israel beladen, mit gestauter Wut und Schuld und Trauer. Das arme Tier wurde beschmiert, verflucht und in die Wüste gejagt. Der Sündenbock diente der Gemeinschaft als symbolische Reinigung. Juristisch betrachtet, hat der Altkanzler sich bislang nichts zuschulden kommen lassen. Und doch verfluchen die Deutschen in brutaler Einigkeit einen Mann, der sie sieben Jahre lang regiert hat, dessen Aufsteigerbiografie zur deutschen DNA gehört.

Ist Schröder ein Einzeltäter, der in die Wüste gehört? Oder dient er einer verunsicherten Nation auch als düstere Projektionsfläche für all die Ängste, Widersprüche, Bequemlichkeiten und zertrümmerten Gewissheiten, die derzeit zerspringen? Weist seine Geschichte auf kollektive blinde Flecken hin, auch bei der gefeierten Angela Merkel? Schröders Geschichte – ein deutsches Drama.

Gerhard Schröder gehört zur Generation der Kriegskinder

Jeder Mensch trägt ein Skript in sich, eine Selbsterzählung mit dem Titel: So bin ich nun mal. Dieses Skript setzt sich zusammen aus kindlichen Prägungen, Glaubenssätzen und Wertemustern, die im Laufe des Lebens überraschend stabil bleiben. Das Beleuchten des eigenen Skripts erfordert Mut und Selbstreflexion. Weil oft Schmerzhaftes zutage tritt, verweigern sich gerade Männer dieser Selbstinspektion.

Schröders Skript ist geprägt von zwei historischen Wunden: Er gehört zur Generation der Kriegskinder, jener in den 1940er-Jahren Geborenen, die die Schrecken persönlich kaum erfahren, aber geerbt haben. Der recht neue Forschungszweig der Epigenetik meint nachweisen zu können, dass sich elterliche Traumata im genetischen Apparat der Kinder abbilden und deren Verhalten mitbestimmen.

Gerhard Schröder ist ohne Vater aufgewachsen

Zweitens ist da das Aufwachsen ohne Vater, wie Hunderttausende jener Jahrgänge. Der Bielefelder Männerberater Björn Süfke behandelt immer wieder ältere Herren, die ein Problem teilen: Sie kommen nicht an ihre Gefühle ran. Wer im Zweiten Weltkrieg und danach aufwuchs, hat Härte gegen sich und andere gelernt. Lebensziele waren Aufstieg, Anerkennung, Sicherheit. Basis war das Rackern. Der junge Schröder war kein begnadeter, aber ein unermüdlicher Kicker. Seine Zähigkeit hat ihn erst beim TuS Talle und dann gesellschaftlich nach vorn gebracht. Respekt, aus eigener Kraft erkämpft. Du kannst es schaffen.

Das Selbst- und damit Männerbild dieser Generation ist vom Durchhalten geprägt. Fehler gelten als Zeichen von Schwäche, werden nicht verziehen oder werden überspielt, Gefühle verkapselt. „Männer dieser Jahrgänge haben nicht gelernt, Versagen als normalen Teil einer Persönlichkeit zu begreifen“, weiß Psychologe Süfke. Es herrscht der Helden­mythos: Rocky, Rambo, Bond. Allein, unbeugsam, aufgegeben, doch am Ende immer Sieger.

Wer sich aber – „Mea culpa ist nicht mein Ding“ – die Erlaubnis versagt, einen Fehler zu machen, neigt zu oft absurd anmutenden Abwehrreaktionen, nur um seine Identität zu wahren. Der Schiedsrichter. Die Medien. Oder eine Partei, die nicht an ihn geglaubt hat, womit die knappe Niederlage 2005 gegen Angela Merkel erklärt wäre. Der Altkanzler, so Björn Süfke, stehe heute, unbewusst, möglicherweise vor einem Dilemma. Bleibt er bei seiner Haltung, verbringt er seine letzten Jahre in der Isolation, aber mit intaktem Selbstbild. Korrigiert Schröder sich, stellt er seine Identität infrage und damit sein ganzes Leben.

Gehard Schröder hat gelernt, durchzuhalten

Durchhalten. So hat es Gerhard Schröder von klein auf gelernt. Wer zu Hause früh die Männerrolle übernehmen muss ohne väterliche Hand, die Trost spendet und Angst nimmt, ist oft überfordert mit der Rolle des Beschützers, die von der Mutter wiederum erwartet und oft bestärkt wird. Der Junge drückt seine Gefühle weg. Zu tief sitzt die Scham, als unmännlich zu gelten, unfähig, den Mann an Mutters Seite zu ersetzen.

Für Sabine Bode, Autorin des Bestsellers „Kriegskinder“, zeichnet sich die Generation Schröder durch immerwährende Verlustangst aus, die Furcht, ins Elend zurückzufallen. Kriegskinder, so Bode, verbinde der Glaube, zu kurz gekommen zu sein. Er habe immer nach dem größten Brocken geschnappt, wenn mal Fleisch auf den Tisch kam, aber viel öfter „Fensterkitt gefressen“, erinnert sich Schröder.

„Wir waren die Asozialen“, so beschrieb er den gefühlten Status in der Nachkriegsarmut, als er mit einer Mutter, der Kriegswitwe, in der Baracke am Rand des Fußballplatzes von Mossenberg hauste. Er wollte da raus. Mit aller Macht. Das hat er geschafft. Nun ist er wieder zurück.

Gehard Schröders gefühlter Status: Wir waren die Asozialen

„Asozial“ ist definiert als randständig, abseits gesellschaftlicher Normen. Mit seiner Weigerung, Putins Angriffskrieg als solchen zu bezeichnen, gilt Schröder heute wieder als asozial, abseits der Normen, wenn auch um Millionen reicher. Wie damals trifft ihn die Verachtung, die er so hasst. Wie damals ist er gewillt, es allen zeigen zu wollen. Aber wie? Damals wies der Weg wenigstens nach oben.

Egal. Aushalten. Einstecken. Nicht klein beigeben. Leckt mich. Eine archaische, ja selbstzerstörerische Verbissenheit, die ihn nach oben führte, zieht ihn jetzt nach unten. Egal. Dranbleiben. Härte wird belohnt. Dieses Euch-werde-ich’s-Zeigen treibt Schröder bis heute. Putin-Problem? Die Besserwisser werden staunen. Erst kritisiert, dann triumphiert – so lief die Sache schon bei der Agenda 2010 oder seinem Nein zum Irak-Krieg.

Wladimir Putin teilt dieses archaische Selbstbild, das Beziehungen zu Frauen eher als Leasing betrachtet, den Männerbund dagegen als ewig. Die perfekte Basis für eine Männerfreundschaft.

Schröder und Putin – in aller Männerfreundschaft

Gut gelaunt flirtet Gerhard Schröder im Dezember 2021 mit dem Publikum. Im Gespräch mit den Funke-Journalisten Jörg Quoos und Lars Haider kommentiert der Altkanzler launig Haiders Biografie über Nachnachfolger Olaf Scholz. Während in Moskau Aufmarschpläne gemalt werden, behauptet der Altkanzler in Berlin mit seinem Röhren, das keinen Widerspruch duldet, dass „nach meinem Kenntnisstand in der russischen Führung keiner darüber nachdenkt, die Ukraine zu überfallen“:

Grantig wird Schröder, als Quoos das Wort „Loyalitätskonflikt“ versucht zu beenden. „Bitte?“, bellt Schröder dazwischen, und es klingt wie „Schnauze!“ Quoos hebt erneut an, Schröder unterbricht mit scheinbar erstauntem „Ich?“ Als deutscher Staatsbürger könne er gar nicht in einen solchen Konflikt geraten. Das L-Wort – ein Wirkungstreffer. Quoos, der Schröder lange kennt, ist sicher, dass der Ex-Kanzler nicht geflunkert, sondern mit dem Angriffskrieg tatsächlich nicht gerechnet habe. Putin hat Schröder einmal mehr ins offene Messer rennen lassen. Was ist das für eine Freundschaft?

Kein Sinneswandel: Ex-Kanzler Schröder will seine Kontakte in den Kreml auch weiterhin nutzen. (Archivbild mit Wladimir Putin)
Kein Sinneswandel: Ex-Kanzler Schröder will seine Kontakte in den Kreml auch weiterhin nutzen. (Archivbild mit Wladimir Putin) © Bernd Settnik/dpa

Will Schröder verbissen das wohlige Gefühl der Anfangstage konservieren, anstatt veränderte Temperaturen wahrzunehmen? Sicher nur zufällig werden Parallelen zu Schröders Ehen sichtbar, wo anfängliche Euphorie in sachliches Ertragen mündete, das in Entfremdung endete. Die Männerfreundschaft zerfällt in drei ähnliche Phasen.

Der Weg von Talle auf die Weltbühne erweist sich für den neuen Kanzler zunächst als holprig. Im Club der Wichtigen braucht Schröder, des Englischen damals nur mäßig mächtig, für jeden Plausch Dolmetscher. So entsteht keine Nähe.

Gerhard Schröders Kampf gegen den Ruf des Verräters

Doch dann kommt dieser dynamische Russe, spricht Deutsch, hat die unselige Ära Jelzin beendet und verströmt Aufbruch. So wie Schröder, der Jelzin-Freund Kohl in Rente geschickt hat. Eine historische Chance: Russische Energie und deutsche Technologie beleben die kriegsbelastete Achse Berlin/Moskau für einen kontinentalen Aufschwung – das gefällt der USA-kritischen SPD und klingt dennoch nach Zukunft.

Und dann ist da noch die private Aussöhnung zweier Kriegskinder: Hitler-Deutschland hat Millionen russischer Toter auf dem Gewissen, darunter Putins Bruder. Aber Schröder hatte persönlich gebüßt; sein Vater war im Osten gefallen. Opfer tilgt Schuld – das archaische Prinzip von Mafia und Clan als schicksalhafte Grundlage einer Männerfreundschaft.

Letzte Bedenken verfliegen, als Putin im Bundestag auftritt, wenige Wochen nach 9/11. Er gurrt, preist deutsche Kultur und Demokratie. Alle Fraktionen, auch Oppositionsführerin Merkel, erheben sich zum Applaus. Während die russische Armee Grosny zu Schutt schießt wie gut 20 Jahre später Mariupol, erliegen Parlament und Regierung der Selbstergriffenheit. Der Russe macht ja sogar in der westlichen Allianz gegen den Terror mit, auch wenn sie ihm vor allem als Freifahrtschein für seinen brutalen Tschetschenien-Krieg dient.

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