Hamburg. Der Torjäger erlangte 1960 seinen wohl schönsten Titel: Nach 32 Jahren wurde die Meisterschaft endlich wieder nach Hamburg geholt.

Wenn es heute um glorreiche Zeiten des HSV geht, wird häufig der 1:0-Sieg im Landesmeister-Pokal (heute Champions League) 1983 gegen Juventus Turin herangezogen. Doch der Weltruhm des Vereins wurde 23 Jahre früher begründet: am 25. Juni 1960, als die Hamburger den 1. FC Köln im Finale um die Deutsche Meisterschaft in Frankfurt mit 3:2 besiegten und Uwe Seeler zwei Tore erzielte. „Durch diesen Erfolg ist der HSV in die internationale Klasse aufgestiegen“, glaubt auch Gert „Charly“ Dörfel, der einst die Flanken für „Uns Uwe“ so wunderbar auflegte.

Bereits in den Jahren zuvor blitzte das Potenzial der jungen Mannschaft mehr als nur auf. 1957 und 1958 musste sich der HSV jeweils erst im Endspiel gegen Borussia Dortmund (1:4) und Schalke 04 (0:3) geschlagen geben. Und also folgte der nächste Versuch.

Uwe Seeler: HSV reiste mit dem Trans-Europ-Express an

Freizeitprogramm: Uwe Seeler mit Jochen Meinke am Schießstand.
Freizeitprogramm: Uwe Seeler mit Jochen Meinke am Schießstand. © WITTERS | HansDietrichKaiser

Wie aber nimmt man Fußballern vor einem großen Finale die Nervosität? Zum Beispiel mit einer ungewöhnlichen Spaßeinheit. Vor den Toren Wiesbadens stand für die Spieler des HSV eine Mannschaftsmeisterschaft im Vierkampf auf dem Programm mit den vier Disziplinen Fußballtennis, Schießen mit dem Luftgewehr, Minigolf und Kegeln. „Es wurde nicht schlecht geschossen. Trainer Günther Mahlmann erzielte mit sechs Schuss 53 von 60 möglichen Ringen“, berichtete Abendblatt-Reporter Jupp Wolff am Finaltag. Der sonst so treffsichere Uwe Seeler brachte es nur auf 47 Ringe. Kein schlechtes Omen, wie sich herausstellen sollte.

Bereits am Donnerstag war der HSV-Tross mit dem Trans-Europ-Express (TEE) „Helvetia“ aus Hamburg angereist und hatte sich im noblen Wiesbadener Hotel Schwarzer Bock einquartiert. „Das Hotel hatte uns einen Trainingsplatz in der Nähe organisiert, einmal am Tag wurde dort leicht trainiert. Ansonsten gingen wir viel spazieren“, erinnerte sich der damalige HSV-Kapitän und Mittelläufer Jochen Meinke, der im Januar im Alter von 92 Jahren gestorben ist, noch 2020 ausführlich im Abendblatt-Gespräch. Meinke galt schließlich als das „Lexikon“ der Mannschaft. Diese Gänge nutzte Trainer Günther Mahlmann für etliche Vieraugengespräche. „Das hat Mahlmann richtig gut gemacht“, sagt Meinke, „er hat jeden absolut auf das Finale fokussiert.“

„Wir waren eine verschworene Gemeinschaft“

Vor dem Duell zwischen dem HSV und dem 1. FC Köln waren die Rollen klar verteilt – die Hamburger gingen trotz ihrer Endspielteilnahmen nur als Außenseiter ins Rennen. „Die meisten FC-Spieler standen ja in der deutschen Nationalmannschaft“, weiß Rechtsaußen Klaus Neisner noch. Wie ein Karl-Heinz Schnellinger oder die 54er-Weltmeister Helmut Rahn und Hans Schäfer.

Die Vorteile des HSV? Erstens die Jugend (acht Spieler nicht älter als 25) bei der zu erwartenden Hitze (35 Grad) im Frankfurter Waldstadion. Zweitens der Zusammenhalt. „Wir waren eine verschworene Gemeinschaft“, sagte Torwart Horst Schnoor, der von Uwe Seeler bestätigt wurde: „Ich kann mich nicht erinnern, dass wir mal längere Zeit Zoff hatten, so etwas gab es bei uns nicht“, sagte Seeler, „und wenn ich mal gemeckert habe, haben Jochen Meinke und mein Bruder Dieter gesagt: ,Halt den Mund, geh nach vorne und schieß ein Tor, dann wird alles gut‘.“

Ganz Hamburg fieberte mit

Dass die oft erzählte Geschichte mit den elf Hamburgern, die nach 32 Jahren endlich wieder die Meisterschaft in die Hansestadt holen sollten, nicht ganz zutrifft (der gebürtige Berliner Klaus Neisner kam erst im Alter von acht Jahren nach Hamburg, Klaus Stürmer wurde in Glinde geboren): geschenkt. Als elf „Fußball-Hamburger“, von denen sieben beim HSV aufwuchsen, kann man die Mitglieder der Mannschaft von 1960 allemal bezeichnen. „In den Tagen vor dem Finale herrschte eine nie erlebte Euphorie“, sagt Schnoor. „Ging man durch die Hamburger Innenstadt, hingen in den Schaufenstern HSV-Fahnen und Fotos von uns Spielern, überall wurde uns Glück für das Köln-Spiel gewünscht.“

7000 bis 10.000 (die Angaben variieren) der 70.000 Stadionbesucher sollen HSV-Fans gewesen sein. Nach dem Anpfiff um 17 Uhr blieb die Partie lange ausgeglichen, es entwickelte sich ein erbitterter Kampf, in dem alle fünf Treffer nach der Pause fielen. Den Rückstand durch Christian Breuer (53.) egalisierte Uwe Seeler nach Wiederanpfiff (53.). Charly Dörfel, dem die 2:1-Führung gelang (75.), war damals erst 21 Jahre jung und galt als frech.

Auch die mitgereisten Frauen zitterten mit

Und diese Unbekümmertheit bewahrte sich der Linksaußen auch im Endspiel. „Ich habe ja immer mit meinen Gegenspielern gesprochen, das war gegen Köln nicht anders, teilweise auf Englisch. Georg Stollenwerk hat das aber gut vertragen“, grinst Dörfel. „Bis ich mal einen Steilpass bekam. Da habe ich zu Georg gesagt: Du, jetzt muss ich aber weiter ...“

Auf der Tribüne zitterten die mitgereisten Frauen der HSV-Spieler mit. „Ich saß neben Erika Meinke, und der habe ich so eine Viertelstunde vor Schluss gesagt: ,Wenn unsere Männer tatsächlich Meister werden, dann werde ich mich hemmungslos betrinken – und dann in einer Hecke übernachten‘“, erinnerte sich Minchen Piechowiak, die Gattin von Erwin.

Uwe Seeler gelang das Siegtor

Doch Köln schlug zurück, kam durch Christian Müller (86.) zum 2:2, ehe Uwe Seeler das 3:2-Siegtor gelang (88.). „Am Ende haben die Kölner zum Schiedsrichter gesagt: Pfeifen Sie ab, das wird nichts mehr mit uns“, beschrieb der 2011 verstorbene Gerd Krug einst die Schlussminuten. „Die Gluthitze dürfte uns geholfen haben, denn Köln baute am Ende doch merklich ab“, sagte Meinke.

Bis zuletzt erinnerte sich Seeler an die Tumulte nach dem Abpfiff: Hunderte siegestrunkene HSV-Fans stürmten das Spielfeld, einige trugen ihn auf den Schultern vom Rasen. Erst in der Kabine konnten sich alle Spieler in die Arme fallen. „Es gab aber auch einmal einen stillen Punkt für mich“, sagte Seeler, „es war nicht selbstverständlich für mich, was geschehen war. Ich habe mich beim lieben Gott bedankt, dass ich, der ja nicht aus einem reichen Elternhaus stammte, das alles miterleben durfte. Ein unglaubliches Glücks­gefühl.“ Auch Verteidiger Erwin Piechowiak betonte: „Für mich war diese Meisterschaft der größte Tag als Fußballer.“

Siegerehrung fand im Frankfurter Hof statt

Was kaum noch einer weiß: Die Siegerehrung fand zum ersten (und zum letzten) Mal nicht unmittelbar nach Spielschluss auf dem Platz statt, sondern im vom Deutschen Fußball-Bund angemieteten Hotel Frankfurter Hof. Der Hintergrund: Ein Jahr davor hatte es nach dem Finale zwischen Eintracht Frankfurt und Kickers Offenbach (5:3 n. V.) große Krawalle gegeben. Die Spielerfrauen durften bei der Gala nicht dabei sei, mussten im Schwarzen Bock auf ihre Liebsten warten.

Zurück im Mannschaftsquartier wurde der Titel – wie von Minchen Piechowiak angekündigt – endlich ordentlich gefeiert. „Es ging wirklich hoch her, der Alkohol floss in Strömen, es war fröhlich und laut“, weiß Ilka Seeler noch. „Einzig Jupp Posipal, der als Betreuer und vor allem als gute Seele noch dabei war, hatte Probleme. Er konnte nichts trinken, denn er hatte hartnäckigen Schluckauf ...“ Und wie ging die Story mit Minchen und der Hecke aus? „Mit dem Betrinken hat es geklappt, aber ich habe ein, zwei Stunden im Hotelbett geschlafen, dann ging es zum Flughafen.“

100.000 Menschen wollten den deutschen Meister feiern

Kurios: Am frühen Morgen mussten die Spielerfrauen per Flieger zurück nach Hamburg, während die Spieler erneut in den TEE „Helvetia“ stiegen. Abendblatt-Reporter Rudolf Weschin­sky durfte mitfahren und schilderte, wie gesittet es trotz des Überraschungs­erfolgs zuging: „Beim Mittagessen – es gab Ochsenschwanzsuppe, Schnitzel und Pfirsich Melba – gab Trainer Mahlmann der Stewardess Order: Die Mannschaft trinkt nur Limonade!“ Als Dieter Seeler provozierend ankündigte, er würde sich jetzt an der Zug-Bar nach einem Whisky umsehen, „nahm ihn Mahlmann beim Genick wie ein Kaninchen und drückte ihn in seinen Sessel zurück“.

Als sehr kreativ erwiesen sich HSV-Fans mit ihrem Transparent vor dem Endspiel in Frankfurt: „Hoch lebe der Karneval in Köln am Rhein, doch HSV wird Meister sein.“ Sie sollten recht behalten.
Als sehr kreativ erwiesen sich HSV-Fans mit ihrem Transparent vor dem Endspiel in Frankfurt: „Hoch lebe der Karneval in Köln am Rhein, doch HSV wird Meister sein.“ Sie sollten recht behalten. © WITTERS | HansDietrichKaiser


Nach der Ankunft um 17.58 Uhr im Dammtor-Bahnhof (der Hauptzug war bereits in Lüneburg abgekoppelt worden) kam es zu Jubelszenen, wie sie Hamburg noch nicht gesehen hatte. Rund 100.000 Menschen wollten den deutschen Meister feiern, davon alleine 30.000 Fans im alten Stadion am Rothenbaum. Mit zehn geschmückten VW Käfer, begleitet von zehn Polizeipferden, bahnte sich die Mannschaft im Schneckentempo den Weg.

Die ganze Stadt feierte mit

„Schon die Rückfahrt durch Norddeutschland war ein Triumphzug“, schwelgt Meinke in Erinnerungen. „Menschenmengen standen an den Bahnhöfen. Doch der Empfang war noch mal eine Steigerung. Ganz Hamburg schien auf den Beinen zu sein. Mit Worten kann man das nicht beschreiben.“ Die Fans skandierten unaufhörlich „HSV, HSV, HSV“, riefen immer wieder „Uwe, Uwe, Uwe“, um so in gewohnter Manier den Doppeltorschützen gebührend zu feiern.

Gerechnet habe man damals nicht mit solch einem Empfang: „Als wir nach den verlorenen Endspielen nach Hamburg zurückkehrten, wurde davon viel weniger Notiz genommen“, sagt Meinke. „Und nun das. Phänomenal. Das hat uns alle umgehauen, das war fantastisch und ist für jeden von uns unvergesslich.“

Siegprämie fiel gering aus

Wie Helden nach einer großen Schlacht seien die HSV-Spieler im Stadion gefeiert worden, schilderte das Abendblatt jene Ereignisse: „Wie ein Donnerschlag wälzte sich das ,Hurra‘ über die Stadt fort, bis nach Altona, Eilbek und Eimsbüttel.“ Gegen 20.30 Uhr folgte noch ein Empfang durch den Senat im Rathaus, der Zweite Bürgermeister Edgar Engelhard ehrte die Meister mit der großen Sportplakette in Bronze. Im Ratsweinkeller klang der Abend aus. Meinke: „Viele von uns waren geschafft. Mir taten die Schultern weh vom vielen Klopfen.“

Mit VW-Käfern fuhren die Spieler ins Rothenbaum-Stadion ein.
Mit VW-Käfern fuhren die Spieler ins Rothenbaum-Stadion ein. © WITTERS | HansDietrichKaiser

Im Vergleich zu den Feierlichkeiten fiel die Siegprämie bescheiden aus. Laut Verbandsstatuten war eine Zahlung von netto 1000 D-Mark erlaubt. Dass ein paar Scheine mehr in die Taschen der Spieler wanderten, gilt als sicher. Auch wenn sich niemand an die Summe erinnern kann ...

„Mein Chef empfing mich freudig"

Und Uwe Seeler, der strahlende Sieger von damals, ohne „den der HSV nie Meister geworden wäre“ (Neisner), wie ging es mit ihm nach dem glorreichen Finalsieg weiter? Der erschien am Montag zur Arbeit in der Spedition Schier, Otten und Co. „Mein Chef empfing mich freudig, klopfte mir auf die Schulter und sagte: ,So, jetzt aber an die Arbeit‘.“ Der Alltag kehrte schnell wieder ein nach der einzigen deutschen Meisterschaft, die Seeler in seiner großen Karriere erringen konnte. „Uwe hätte mir ruhig einen Meistertitel mehr schenken können“, sagt seine Frau Ilka, „weil es doch so schön war.“

Immerhin kam für Ilka – und alle HSV-Fans – noch der DFB-Pokalsieg 1963 dazu, als Uwe Seeler gegen Borussia Dortmund alle drei Tore zum 3:0-Sieg beisteuerte. Die zweite Chance auf den Gewinn des Pokals vergaben Seeler und Co. 1967, als man gegen Bayern München beim 0:4 chancenlos war. Weil die Bayern aber als Titelverteidiger für den Europapokal der Pokalsieger qualifiziert waren, durften die Hamburger ebenfalls an diesem europäischen Wettbewerb teilnehmen und erreichten sogar das Finale gegen den AC Mailand, das im Stadion „De Kuip“ von Rotterdam am 23. Mai 1968 allerdings mit 0:2 verloren ging.

Nur drei Spieler aus der Meister-Mannschaft leben heute noch

Von den HSV-Helden von 1960 leben nun nur noch Horst Schnoor, Charly Dörfel und Klaus Neisner. Viel zu früh musste Uwe Seeler von seinem Freund Klaus Stürmer Abschied nehmen, der am 1. Juni 1971 als 35-Jähriger an Hodenkrebs starb. „Ich bin erschüttert. Ich verlor einen guten Freund“, sagte Seeler tief getroffen.

Das Abendblatt schrieb damals: „Sie begannen ihre Karriere gemeinsam: Wenn man von Klaus Stürmer spricht, muss in gleichem Atemzug auch Uwe Seeler genannt werden und umgekehrt. Es begann 1953, im Brüsseler Heysel-Stadion, beim Jugendturnier für Nationalmannschaften, veranstaltet vom Weltfußball-Verband. Ein 18-Jähriger, Klaus Stürmer, trug beim Einmarsch die deutsche Fahne; ein 16-Jähriger, Uwe Seeler, lief hinterdrein. Im Spiel stürmten sie nebeneinander, und nachher in der Kabine machte der Ältere dem Jüngeren ein Kompliment: „Du, neben dir möchte ich immer spielen.“

Uwe Seeler musste einige Verluste verkraften

Sie spielten nebeneinander, sieben Jahre lang beim HSV. Es war die Epoche der großen Erfolge, Stürmer, Seeler, Dörfel, Werner, um die Renommiertesten zu nennen, machten Fußball in Hamburg zu einer guten Ware, man könnte es das „goldene Jahrzehnt des HSV“ nennen.“

Der Tod von Bruder Dieter (Nierenversagen) im Alter von nur 47 Jahren war ein genauso schlimmer Schock für Uwe. Jürgen Werner, mit dem Seeler 1962 an der WM in Chile teilgenommen und der auch 1996 dem ersten HSV-Aufsichtsrat angehört hatte, starb 2002 66-jährig, Horst Dehn (wurde 68) folgte 2005. Auch Gerhard Krug, der 74 Jahre alt wurde, gehörte bis kurz vor seinem Tod 2011 dem Aufsichtsrat des Vereins an. Am 31. März 2021 starb Erwin Piechowiak, am 9. Januar 2022 Jochen Meinke, der für Uwe Seeler „ewige Kapitän“. Und vergangene Woche ging auch „Uns Uwe“. Von ihnen allen bleibt viel in Erinnerung, vor allem aber der schönste Titel, den der HSV für Hamburg jemals geholt hat.