Hamburg. Durch den Krieg und Politikversagen steht das Land vor dem tiefsten Einschnitt seit Jahren. Ohne Reformen wird es nicht gehen.

Inzwischen mangelt es nicht mehr an klaren Zustandsbeschreibungen. „Die aktuelle Krise wird nicht in wenigen Monaten vorübergehen“, warnte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) dieser Tage und sprach von einer „historischen Herausforderung“. Der grüne Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck unkte: „Wir müssen uns darauf vorbereiten, dass sich die Lage zuspitzt.“

Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger prophezeite in der „Süddeutschen Zeitung“: „Wir stehen vor der größten Krise, die das Land je hatte.“ Und Finanzminister Christian Lindner sagte: „Es besteht die Gefahr einer sehr ernst zu nehmenden Wirtschaftskrise aufgrund der stark gestiegenen Energiepreise, aufgrund der Lieferkettenprobleme, aufgrund auch der Inflation.“ Er wagte sogar, etwas konkreter zu werden: „Was wir jetzt brauchen, sind mehr Wachstumsimpulse, mehr Gründungen, mehr Überstunden, um unseren Wohlstand zu sichern.“

Regierung: Hinter Deutschland liegt goldenes Jahrzehnt

Die Reaktion auf diese Forderungen war ein anschwellendes Aufheulen. Bei Twitter war mal wieder der Teufel los. Viele Medienkommentare lasen sich so wie auf t-online: „Eine Frechheit“. Während das Lamentieren über die Schwere der Krise unumstritten ist, wird ein Lösungsvorschlag schnell torpediert. Schon die Idee, die Wohnungen nachts etwas weniger zu heizen oder weniger heiß zu duschen, brachte viele in Wallung und stieß auf wütende Proteste in Medien und Politik. Einige verfolgen das, was sich gerade zusammenbraut, teilnahmslos wie die Zuschauer einer Fernsehsoap. Es interessiert, aber scheint einen persönlich kaum anzu­gehen.

Da drängt sich die Frage auf, ob Deutschland überhaupt in der Lage ist, sich aus der Multikrisenlage aus Energieknappheit, Gasmangel und Inflation zu befreien – zumal noch die Pandemie und der demografische Wandel hinzukommen. Anfang des Jahrtausends hatte es Kanzler Gerhard Schröder – allerdings gegen massive Widerstände in den eigenen sozialdemokratischen Reihen – geschafft, das Land zu reformieren. Die üppige Ernte fuhr seine Nachfolgerin ein. Hinter Deutschland liegt ein goldenes Jahrzehnt. Aber wird sich eine Regierung noch einmal aufraffen können? Zieht die Bevölkerung mit? Und gelingt es der Wirtschaft, umzusteuern? Schaffen wir das?

„Deutschland kann Krise“

Führende Ökonomen sind durchaus zuversichtlich. „Deutschland kann Krise“, sagt Berenberg-Chefvolkswirt Holger Schmieding. „Insgesamt sind wir etwas besser durch die Pandemie gekommen als der Durchschnitt vergleichbarer Länder“, konstatiert er. „Unsere Industrie ist Kummer gewöhnt und widerstandsfähig. Sie hat sich schon von vielen Krisen schneller erholt, als manche Beobachter es erwartet haben.“ Der Ökonom Thomas Straubhaar, langjähriger Leiter des HWWI, sieht die Lage ähnlich und traut gerade der Wirtschaft und dem Mittelstand einiges zu. „Sie sind gerade im Schnellzugtempo dabei, neue Problemlösungen zu suchen, zu finden und umzusetzen.“ Als Beispiele führt er die Rückkehr der Lagerhaltung und der vertikalen Integration in der industriellen Fertigung an oder den Aufbau doppelter Versorgungslinien, damit wenigstens eine funktioniert.

Die Unternehmer selbst klingen nicht ganz so zuversichtlich. Zwar haben große Unternehmen wie BASF gerade wieder überraschend gute Geschäftszahlen für das zweite Quartal, das von den Krisen bereits geprägt war, veröffentlicht, aber die Skepsis wächst, dass es so bleibt. „Es geht um Wohlstand, Wachstum und Arbeitsplätze, um den sozialen Frieden und gesellschaftlichen Zusammenhalt in unserem Land“, warnte gerade Christian Kullmann, der Chef des Verbands der Chemischen Industrie. „Dass wir eine Situation haben, die so ernst ist, hätte ich vor zwei, drei Jahren für ausgeschlossen gehalten.“

DAX ist der große Verlierer

Die Börse sieht die Lage ähnlich – seit Jahresbeginn ist der DAX der große Verlierer: Das deutsche Börsenbarometer büßte fast 25 Prozent ein, während der US-amerikanische Dow Jones rund 15 Prozent und der britische FTSE-100 sogar nur rund fünf Prozent verloren. Tatsächlich fallen die Wachstumserwartungen für Deutschland im Wochentakt. Zuletzt hat die Europäische Kommission ihre Schätzungen von 1,6 auf 1,4 im laufenden Jahr und von 2,4 auf 1,3 im kommenden Jahr gekürzt. Sollte Putin das Gas abdrehen, wird es noch schlimmer.

Die Berenberg-Experten halten Deutschland für besonders gefährdet. Sollte es zu einer Gasnotlage kommen, dürfte die Wirtschaft im kommenden Jahr noch stärker einbrechen, als die pessimistischen Prognosen der Bank bislang voraussagen, die ein Minus von 1,5 bis 2 Prozent für die Eurozone und ein Minus von 2,5 bis 3 für Deutschland befürchten.

„Hohe Inflationsraten sind ein Spaltpilz für die Gesellschaft"

Noch sind die Auftragsbücher der Unternehmen voll und die Gewinne hoch, doch Deutsche-Bank-Vorstandssprecher Christian Sewing macht sich Sorgen für die nächsten zwölf Monate, sagte er auf einer Bankenkonferenz in Frankfurt. Zudem erhöhe der anhaltende Preisdruck das Risiko einer Rezession. Zur Preisexplosion kämen die anhaltende Corona-Pandemie, angespannte Lieferketten und Engpässe am Arbeitsmarkt. Sollte es im Zuge des Ukraine-Krieges zu einem Gas-embargo kommen, werde es eine „tiefe Rezession“ in Deutschland geben.

„Hohe Inflationsraten und negative Realzinsen sind ein Spaltpilz für die Gesellschaft. Wenn ein hoher Prozentsatz der berufstätigen Familien sagt, sie können aufgrund der gestiegenen Preise am Ende des Monats nichts mehr sparen, dann führt das auf Dauer zu gesellschaftlicher Unruhe.“ Schon jetzt ist klar, dass sich Haushalte auf eine Verdreifachung des Gaspreises einstellen müssen – mancherorts werden die Nebenkosten auf das Niveau der Kaltmiete steigen.

Die Grünen zeigen erstaunliche Flexibilität

Holer Schmieding, Chefvolkswirt der Berenberg Bank.
Holer Schmieding, Chefvolkswirt der Berenberg Bank. © Klaus Bodig / HA

Für die Politik sind das keine gute Nachrichten. Wie aber wird ein so breites Bündnis – von der FDP über die SPD bis zu den Grünen – die Krise meistern? Die Signale sind widersprüchlich. Olaf Scholz war als SPD-Generalsekretär einer der Väter der Agenda 2010 – so wie der heutige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Die Grünen zeigen in Person von Wirtschaftsminister Robert Habeck eine erstaunliche Flexibilität, während die FDP sich quasi seit Gründung als Partei der liberalen Reformen versteht.

Zudem dürfte die größte Oppositionspartei, die CDU/CSU-Fraktion, die Regierung in ihrem Reformeifer nicht bremsen, sondern antreiben. Für Reformen ist die Ampel vielleicht sogar die allerbeste Konstellation – wer daran zweifelt, stelle sich eine Große Koalition unter Angela Merkel vor und die AFD als größte Opposition wie bis 2021 oder Armin Laschet an der Spitze einer Jamaika-Koalition und einer SPD in der Opposition.

„Die Ampel steht für Kompromisspolitik"

Lob kommt dann auch von Ökonomen: Was Habeck gerade an Krisenpolitik bewältigte, hätte kein Liberaler oder Konservativer so an einer grünen oder roten Opposition vorbeigebracht, sagt Thomas Straubhaar. „Vielleicht folgt als nächster Schritt sogar eine ergebnisoffene energiepolitische Wende, die nur noch die Ziele vorgibt, aber die Wege der Wirtschaft offenlässt.“ Der Ökonom erwartet insgesamt ein „pragmatisches Durchwursteln“, was nicht negativ sein müsse. „Die Ampel steht für Kompromisspolitik, weil alle ihren eigenen Grundsätzen folgen müssen und die eigene Klientel nicht vollständig vergrätzen dürfen“, sagt der Hamburger.

Holger Schmieding sieht Krisen auch als „Motor des Fortschritts“: „Zumindest in zwei Punkten erwarte ich, dass die Ampel bei allem Streit etwas bewegen kann: Digitalisierung und straffere Planungs- und Genehmigungsverfahren. Mehr Tempo nach dem Vorbild von Tesla.“ Damit spielt er auf die Rekordgeschwindigkeit beim Bau des Werkes in Grünheide an. Auch bei den so dringend benötigten Flüssiggasterminals legt die Republik derzeit ein Tempo vor, das man lange nicht mehr gesehen hatte.

Viele stellen die „Work-Life-Balance“ über alles

Bleibt die Frage, ob die Menschen in Deutschland ähnlich reformbereit sind wie vor zwei Jahrzehnten und mitziehen. Das Krisenbewusstsein ist wie damals in breiten Bevölkerungsschichten angekommen. Zu Beginn des Jahrtausends war Deutschland der kranke Mann Europas, heute ist es in besonderem Maße von der kippeligen Weltlage betroffen. Andererseits haben zehn Jahre Wirtschaftswunder und eine geradezu fahrlässige Verwöhnpolitik die Menschen eingelullt. In den vergangenen Jahren wurde jedes Problem – ob Pandemie oder Finanzkrise – mit Steuermilliarden gelöst, Kurzarbeit erlöste die Menschen vor der Angst um den Job; vielfach haben wir uns daran gewöhnt, dass die Politik alle Krisen löst.

Corona hat manche geradezu von einer Vollzeitarbeit entwöhnt, viele fliehen in Teilzeit und stellen die „Work-Life-Balance“ über alles. Auch so ist der aktuelle Fachkräftemangel zu erklären. Und die Gesellschaft ist älter geworden – lag das Durchschnittsalter Anfang des Jahrtausends bei rund 41 Jahren, sind es nun knapp 45. Ältere Gesellschaften aber sind oft weniger beweglich als jüngere.

"Deutschland hat sich zu lange ausgeruht"

„Erfolg macht nachlässig. Deutschland hat sich zu lange auf den Erfolgen der Agenda 2010 ausgeruht“, kritisiert Holger Schmieding. „Wir stehen gerade im Vergleich zu Frankreich längst nicht mehr so gut da, wie viele das offenbar noch glauben. Deutschland ist von der Spitzengruppe in Europa ins obere Mittelfeld zurückgefallen.“

Thomas Straubhaar, Wirtschaftswissenschaftler.
Thomas Straubhaar, Wirtschaftswissenschaftler. © Roland Magunia/Hamburger Abendblatt

Straubhaar fürchtet auch, dass die Corona-Politik die Fähigkeit der Menschen schwächt, der Krise Herr zu werden. „Nachdem man zwei Jahre eine No-Risk-Corona-Politik verfolgte und die Bevölkerung erschreckte, darf man sich nicht wundern: Wer Dauerangst sät, wird eher eine verängstigte und weniger eine risikofreudige Bevölkerung ernten“, sagt der gebürtige Schweizer mit deutschem Pass. Besser wäre gewesen, der Bevölkerung „reinen Wein einzuschenken und zu sagen, dass es keine absolute Sicherheit gibt“. Vielmehr setzten nur Freiheit und Eigenverantwortung jene Kräfte frei, die ermöglichen, Sicherheit zu finanzieren.

„Die etablierten Institutionen haben erkennbar Probleme"

Schmieding setzt am Ende durchaus Hoffnungen in die Politik: „Wer wie Habeck, oder einmal sogar Olaf Scholz in seiner Rede zur Zeitenwende, die richtigen Worte findet, kann Unterstützung für notwendige, aber nicht von vornherein populäre Maßnahmen finden.“

Etwas skeptischer ist der Hamburger Henning Vöpel, Direktor des Centrums für Europäische Politik. Er sieht nicht nur ein Bündel von Krisen, die gleichzeitig wirken, sondern eine fundamentale System- und Ordnungskrise. „Die etablierten Institutionen, Regeln und Verhaltensroutinen haben erkennbar Probleme, mit dem neuartigen Phänomene umzugehen.“ Es mangele nicht nur an Erfahrungen, sondern auch an Mustern, die wir anwenden könnten. „Ob Klimawandel, Pandemie oder Digitalisierung – sie alle verlangen tiefgreifende Veränderungen, die bis ins Kulturelle reichen und neue Denkweisen erfordern. Deshalb fällt es uns auch oft schwer, die neuen Realitäten zu beschreiben und zu verstehen.“

Regierung: Zerfall alter Ordnungen markiert Zeitenwende

Viele reagierten mit Unverständnis, Überforderung und Unsicherheit. „System- und Ordnungskrisen lassen sich nicht im bestehenden System oder Ordnungsrahmen lösen. Der Zerfall alter Ordnungen markiert eine Zeitenwende, weil es politisch-institutionell neuer Strukturen und sozial-psychologisch neuer Haltungen bedarf.“

Dann wäre diese Krise nicht nur eine Krise, sondern eine Herausforderung ganz neuer Dimension. Aber einfach wäre ja auch zu einfach.