Hamburg. Der Vorschlag von Till Steffen (Grüne) trifft bei Koalitionspartner SPD auf wenig Zustimmung. Besonders ein Punkt ist umstritten.
Es war die knappste Entscheidung aller sechs Hamburger Wahlkreise bei der Bundestagswahl 2021: Mit 29,8 Prozent der Erststimmen setzte sich Ex-Justizsenator Till Steffen von den Grünen im Wahlkreis Eimsbüttel als Direktkandidat gegen den jetzigen Parlamentarischen Staatssekretär im Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Niels Annen (SPD), durch, der auf 29,6 Prozent kam. Gerade einmal 400 Stimmen betrug der Unterschied zwischen beiden. Glück für Annen: Er zog im letzten Augenblick über die Landesliste doch noch erneut in den Bundestag ein.
Jetzt sind die beiden Wahlkreis-Konkurrenten erneut aneinander geraten – wenn auch nur indirekt. Steffen hat zusammen mit zwei Kollegen von SPD und FDP im Auftrag der Ampelkoalition einen Vorschlag für die große Reform des Bundestagswahlrechts vorgelegt. Er sieht vor, dass der 2021 auf 736 Abgeordnete angewachsene Bundestag auf seine gesetzlich vorgegebene Größe von 598 Sitzen zurückgeführt wird. Anders ausgedrückt: Es soll künftig keine Überhang- und Ausgleichsmandate mehr geben, die zuletzt 2021 zur starken Aufblähung des Parlaments geführt hatten.
Bundestag: Vorschlag sorgt für Kritik von Annen
In der jüngsten Sitzung der SPD-Bundestagsfraktion hat Annen laut einem Bericht des Onlinemagazins Pioneer Briefing bereits Kritik an dem Vorschlag geäußert. Annen soll darauf hingewiesen haben, dass er nach dem Steffen-Modell aus dem Bundestag geflogen wäre. Doch damit nicht genug: Was Annen zusätzlich empörte, war die Regelung, die Steffen und seine beiden Kollegen für den Fall drohender Überhangmandate vorsehen.
Wenn eine Partei in einem Bundesland fünf Direktmandate gewinnt, ihr aber nach dem Zweitstimmenergebnis nur vier Sitze zustehen, soll ein Direktmandat gestrichen werden. Leer geht der eigentlich bereits gewählte Direktkandidat aus, der im Vergleich mit seinen Parteifreunden in den anderen Wahlkreisen den geringsten Stimmenanteil hat.
Annen wies in der Fraktionssitzung darauf hin, dass die anderen gewählten Hamburger SPD-Direktkandidaten höhere Erststimmenergebnisse als er erzielt hätten und er also vermutlich betroffen wäre, falls die Hamburger SPD rechnerisch ein Überhangmandat erzielen sollte. Selbst wenn er also bei der nächsten Wahl in Eimsbüttel vor Steffen liegen sollte, würde er nach dessen Vorschlag nicht sicher in den Bundestag einziehen.
Steffen hält Vorwurf Annens für "Quatsch"
Das Modell von Steffen und seinen beiden Mitstreitern, die die Obleute der Ampel-Koalition in der Kommission des Bundestags zur Reform des Wahlrechts sind, sieht zudem vor, dass die Wahlkreise, deren Direktkandidaten nicht in den Bundestag einziehen, trotzdem im Hohen Haus vertreten werden. Entweder: Es wird eine dritte Stimme bei der Wahl eingeführt, die sogenannte Ersatzstimme, mit der die Wähler die Kandidierenden benennen, die sie alternativ zu ihrem Favoriten im Bundestag sehen wollen. Oder: Es zieht der Kandidat oder die Kandidatin über den Wahlkreis in den Bundestag ein, der die zweithöchste Stimmenzahl auf sich vereinigen konnte.
Nach Lage der Dinge würde die Sache in Eimsbüttel so oder so auf Steffen oder den Grünen-Kandidaten oder die Grünen-Kandidatin hinauslaufen. In der SPD-Fraktionssitzung soll Annen Steffen als einem der Autoren des Modells genau das als Kalkül unterstellt haben. Gegenüber dem Abendblatt wollte sich Annen jetzt nicht zum Wahlrecht äußern.
Steffen hält den Vorwurf seines Wahlkreis-Kontrahenten für „Quatsch“. Es könne ebenso sein, dass die Grünen in Hamburg in die Situation kommen, ein Überhangmandat zu erreichen, das ihnen nach dem neuen Wahlrecht dann gestrichen würde. „Unser Vorschlag sieht vor, dass die Zahl der Abgeordneten verbindlich auf 598 begrenzt wird. Das heißt, alle Parteien müssen Mandate abgeben“, sagt Steffen. Bei der Wahl 2021 holte die CDU 34 Überhangmandate, CSU elf und die SPD zehn, die restlichen 83 Sitze waren Ausgleichsmandate zur Wiederherstellung des Zweitstimmenverhältnisses.
SPD erreicht fast gewohnheitsmäßig Überhangmandate
Wie Annen lehnte auch Dorothee Martin, direkt gewählte SPD-Bundestagsabgeordnete im Wahlkreis Hamburg-Nord/Alstertal, den Vorschlag der Ampel-Obleute ab, aber insgesamt gab es in der 206-köpfigen SPD-Fraktion nur 30 Gegenstimmen oder Enthaltungen. In den Bundestagsfraktionen von Grünen und FDP stimmten jeweils fünf Abgeordnete nicht zu.
Die ablehnende Haltung der Hamburger SPD-Abgeordneten wird auch verständlich vor dem Hintergrund, dass die SPD über die vergangenen Jahrzehnte fast gewohnheitsmäßig Überhangmandate erreichte und so ihr (an sich eher geringes) Gewicht in Berlin stärken konnte. Fast traditionell lautet das Wahlziel der hiesigen Sozialdemokraten, alle sechs Wahlkreise direkt zu gewinnen. Das Hamburger Gewicht in Berlin würde mit der Reform insgesamt schrumpfen: Bezogen auf die Einwohnerzahl stehen dem Stadtstaat 13 Abgeordnete zu, nicht 16 wie derzeit.
"Vorschlag schadet unserer Demokratie"
Aydan Özoguz, die Sprecherin der Gruppe Hamburger SPD-Bundestagsabgeordnete, sieht in dem Vorschlag zur Wahlrechtsreform „Vor- und Nachteile für die SPD“. Die Hamburger SPD-Parlamentarier sähen es aber „eindeutig kritisch, dass die neue dritte Stimme der Wählerinnen und Wähler das Verfahren kompliziert macht“, so Özoguz. Sie hätten die Sorge, dass das neue Wahlrecht gerade die klassische SPD-Wählerklientel abschrecken könnte. Außerdem sei es schwer zu vermitteln, dass ein direkt gewählter Kandidat nicht in den Bundestag einzieht.
„Es kann doch niemand nachvollziehen, dass ein Wahlkreisgewinner nicht in den Bundestag einzieht – dieser Vorschlag der Ampelkoalition schadet unserer Demokratie“, sagt ganz ähnlich auch der CDU-Bundestagsabgeordnete Christoph Ploß, der außerdem kritisiert, dass das Ampel-Modell die Wahl komplizierter und weniger nachvollziehbar macht.
Bundestag: CDU verlor 2021 ein Überhangmandat
Hinter vorgehaltener Hand sind die Christdemokraten nicht völlig unzufrieden mit dem Reformvorschlag, denn 2021 verlor die Hamburger Union ein Mandat als Ausgleich für ein Überhangmandat an die Parteifreunde in Baden-Württemberg. Diese länderübergreifende Ausgleichsregelung entfällt nach dem Steffen-Modell, weil es keine Überhänge mehr gibt. Noch ist der Gesprächsfaden zwischen Regierungs- und Oppositionsfraktionen nicht abgerissen. Die Union wird voraussichtlich ein Modell vorlegen, nach dem die Zahl von 299 Listenmandaten und ebenso vielen Direktmandaten in den 299 Wahlkreisen gesetzlich festgeschrieben wäre. Doch das dürfte auf Ablehnung aufseiten der Ampel treffen.
Sollte die Ampel ihr Modell mit der erforderlichen einfachen Mehrheit im Bundestag durchsetzen, womit viele Beobachter rechnen, dann wird erwartet, dass die Union vor das Bundesverfassungsgericht zieht. Es ist in erster Linie die CSU, die darauf drängt, weil ihr droht, dass sie künftig nur noch in ländlichen Gegenden vertreten ist, nicht aber in München oder Nürnberg, wo ihre Erststimmenergebnisse schwächer sind.
Steffen verteidigt sein Modell mit dem Hinweis, dass es nur in 34 der 299 Wahlkreise zu einen anderen Ergebnis als 2021 geführt hätte. „Bei allen Zumutungen für einzelne – die Verkleinerung des Bundestages auf 598 Abgeordnete ist eine Frage der Glaubwürdigkeit der Politik“, sagt der Grünen-Politiker. Wer auf Überhang- und Ausgleichsmandate nicht verzichten wolle, der müsse die Zahl der Wahlkreise verringern. Steffen hält dann 250 bis 270 Wahlkreise für realistisch. Das würde unter Umständen auch dazu führen, dass Hamburg einen Wahlkreis verliert.