Hamburg. Ex-Bürgerschaftsabgeordnete Christiane Schneider (Die Linke) über die Aufarbeitung von G-20 und den Zustand der politischen Linken.
Christiane Schneider (Linke) war über Jahrzehnte eine prägende Figur in der linken Szene. Nach dem G-20-Gipfel mahnte die damalige Chefaufklärerin ihrer Fraktion in der Bürgerschaft auch eine selbstkritische Aufarbeitung an. Was ist daraus geworden – und wie steht die Szene fünf Jahre nach dem Gipfel da?
Hamburger Abendblatt: Sie haben es einen Fehler genannt, dass man sich vor dem Gipfel zu wenig damit beschäftigt habe, ob auch Gewalt ein legitimes Mittel sei. Wie kam das in der linken Szene an?
Christiane Schneider: Ich habe viel Zustimmung für meine damaligen Aussagen im Abendblatt erhalten. Aber auch offene Ablehnung. Mir wurde vorgeworfen, dass ich mich entsolidarisieren würde. Man hat ja schließlich zusammengestanden, und aus unseren Reihen wurden Leute von der Polizei extrem verfolgt. Ich kann den Impuls auch verstehen, von meinen Worten getroffen zu sein. Für mich war wichtig, vor der Auseinandersetzung im Sonderausschuss meine Position darzulegen, um authentisch zu agieren und Duddes (Polizeiführer Hartmut Dudde, d. Red) Eskalationsstrategie und die Polizeigewalt kräftig kritisieren zu können.
Wurde die extreme Gewalt in der Szene aufgearbeitet, wie Sie es gefordert haben?
In Ansätzen gab es eine Diskussion. Nicht nur im anarchistischen Spektrum wurde verteidigt, was beim G-20-Gipfel passiert ist. Andreas Blechschmidt (Sprecher der Roten Flora, d. Red) hat in einem Buch dagegen kritischere Töne angeschlagen. Ich habe selbst einen Aufsatz geschrieben. Es war eine Diskussionsveranstaltung geplant, dann kam Corona. Das hat das erst einmal praktisch unmöglich gemacht.
Das klingt, als wäre die Debatte erneut eingeschlafen. Wann gibt es endlich eine klare Antwort von Linken auf die Gewaltfrage?
Ehrlicherweise wohl nie. Schon wegen der Generationenwechsel nicht. Viele junge Menschen erleben gesellschaftliche Zwänge, denen sie unterworfen werden, als schmerzhaft. Manche von ihnen – junge Männer und zunehmend auch Frauen – empfinden Gewalt als Befreiung und Selbstermächtigung dagegen. Das war schon immer so. Dadurch kommt es immer mal wieder zu Gewaltausbrüchen. Und auch die Frage, ob Gewalt legitim ist, kommt deshalb in den Diskussionen immer wieder auf, aber man sollte keinen allgemeinen Beschluss erwarten.
Das erfüllt ein Klischee: Endlose Diskussionen ohne Ergebnis. Verzweifeln Sie daran?
Natürlich ist es für ältere Menschen frustrierend zu sehen, dass die Fehler und Erfahrungen, die man selbst früher gemacht hat, wiederholt werden. Aber ich habe gelernt, dass alle Generationen ihre eigenen Erfahrungen machen müssen.
Was haben die Ereignisse mit den Demonstrierenden gemacht?
Das Auftreten des Staates war teilweise krass rechtlos und hatte wesentlichen Anteil an der Eskalation. Das begann mit der Verhinderung des Protestcamps in Entenwerder und ist einer der Faktoren, die auch Einstellungen zu Gewalt prägen können. Ich hatte nach G 20 den Eindruck einer gewissen Schockstarre und Resignation, nicht nur in der linksradikalen Szene. Die Polizei hat mit ihrem Vorgehen Menschen entmutigt, Rechte verwehrt und Recht gebrochen. Das kann einem nicht gefallen, völlig unabhängig davon, wo man politisch steht.
Andere haben unter anderem ein Stickerheft aufgelegt, um die Randale zu feiern.
Auch hier sind wir wieder bei der Seite des Staates und der Polizei, aber auch der Debatte über die Geschehnisse. Ich halte es für falsch, die schwersten Ausschreitungen zu glorifizieren. Es setzen angesichts der Repression aber auch Solidarisierungseffekte ein. Außerdem waren die Reaktionen sehr unterschiedlich. Im Schanzenviertel gab und gibt es es viele, die unter dem Eindruck der massiven Polizeipräsenz standen. Die eben nicht den Eindruck hatten, dass die ganze Stadt angezündet werden sollte. Je weiter weg die Menschen vom Kern des Geschehens waren, desto drastischer fiel in der Regel auch ihr Urteil über die Geschehnisse aus.
Auch in bürgerlichen Milieus gibt es in Hamburg traditionell viele Sympathien für linke Ideen. Hat der Rückhalt nach G 20 gelitten?
Eine Spaltung kann ich nicht erkennen. Die unterschiedlichen Sichtweisen lassen sich manchmal aber nicht auflösen. Ich kenne zum Beispiel eine Familie, die sich darüber zerstritten hat, weil die Eltern sehr erschrocken über die Protestierenden waren – aber ihre Tochter, die dabei war, hatte ein ganz anderes Bild.
Laut Verfassungsschutz stieg die Zahl der „gewaltorientierten Linksextremisten“ nach G 20 an. Wie sehen Sie die Szene?
Der politischen Linken geht es nicht gut, auch wegen der Corona-Krise. Einige haben sich bestimmt auch zurückgezogen. Abgesehen von der Kennzeichnungspflicht für Polizeibeamte sind auf der staatlichen Seite keine nötigen Lehren gezogen worden, die Polizeigewalt wurde rechtlich nicht aufgearbeitet.