Hamburg. Nachdem Selcin ertrunken war, suchte Selciuc S. nach einem Schuldigen – und brachte den besten Freund seines Bruders beinahe um.

Er spricht nur gebrochen deutsch, aber auf eine Übersetzung ins Rumänische verzichtet der Angeklagte. Der 19-Jährige hat 40 Minuten Ruhe bewahrt. Erst am Ende der Urteilsverkündung – gerade hat der Vorsitzende Richter Georg Halbach noch einmal auf die Strafe von sieben Jahren verwiesen –, scheint Selciuc S. zu realisieren, was hier vor sich geht. „Sieben Jahre, wofür?“, ruft der Angeklagte laut durch den Raum und schickt eine an das Gericht adressierte unflätige Beleidigung hinterher. Dann führen ihn die Justizbeamten ab.

Schon diese Reaktion spricht dafür, dass Selciuc S. die Dimension seiner so brutalen wie sinnlosen Tat kaum oder gar nicht erfasst hat. Seine Verteidiger hatten zuvor dafür plädiert, den beinahe tödlichen Messerangriff auf den 16 Jahre alten Memati I. am Kalischer Platz als gefährliche Körperverletzung zu werten und mit höchstens drei Jahren Jugendstrafe zu ahnden. Für das Gericht und die Staatsanwaltschaft steht indes fest: Selciuc S. hat einen versuchten, heimtückischen Rachemord zu verantworten. Eine Jugendstrafe von sieben Jahren sei der Schwere der Schuld angemessen.

Prozess: Rache nach Badeunfall – Opfer hatte nichts getan

Selciuc S. hat den besten Freund seines Bruders Selcin niedergestochen – einen Tag nachdem der 15 Jahre alte Selcin am 18. Juni 2021 beim Baden in der Elbe am Falkensteiner Ufer verschwand. Für das tragische Unglück verantwortlich machte der Angeklagte Memati I. – im Glauben, der 16-Jährige habe nicht genug unternommen, um seinen Bruder zu retten.

Tatsächlich, so steht nach Überzeugung des Gerichts fest, hatte das spätere Opfer gar nichts getan. Memati I. beobachtete das dramatische Geschehen vom Strand aus. Mutmaßlich aus Scham und um besser dazustehen, tischte er Selcins Vater eine Lügengeschichte auf, wonach er verzweifelt versucht habe, seinen Freund zu retten, als dieser von der Elbströmung fortgerissen wurde. Ein Verwandter wollte dem Jungen damals zur Hilfe eilen, musste aber per Rettungsleine von einem Polizisten aus dem Wasser gezogen werden. Dieses Manöver ging gerade noch gut aus.

Polizei warnte den Angeklagten vor Selbstjustiz

Getrieben von Wut und Rachegedanken rief Selciuc S. mehrmals bei der Polizei an, um herauszufinden, wer beim Unglück mit dabei war. Er wollte Namen, ein Ziel. Das ging soweit, dass ein Beamter ihn warnte, „jede Selbstjustiz zu unterlassen“, man habe ihn „auf dem Schirm“. Von seinem Vater über Mematis Lügengeschichte zwischenzeitlich in Kenntnis gesetzt, war dem Angeklagten das jedoch einerlei. Am Mittag des 19. Juni 2021 rauchte er einen Joint. „Dann nahm er ein Klappmesser mit zehn Zentimeter Klingenlänge und ging zum Kalischer Platz, um den späteren Geschädigten zu bestrafen“, sagt Richter Halbach.

Memati I. saß dort unter einem Baum, mit dem Rücken an eine kleine Mauer gelehnt und aß einen Döner, als Selciuc S. sich hinter ihn schlich. Wuchtig stach er ihm viermal in den Rücken. Das Opfer habe nicht mit einem Angriff gerechnet, sei völlig arg- und wehrlos gewesen, so Halbach. Der Erklärung des Angeklagten, wonach er Mematis T-Shirt weit zurückzog und glaubte, dreimal „in Luft“ gestochen und ihn nur einmal getroffen zu haben, habe das Gericht keinen Glauben geschenkt.

Selciuc S. wollte Memati I. töten, davon ist das Gericht überzeugt

Im Gegenteil: Die Kammer sei überzeugt, dass Selciuc S. den Jungen von hinten festhielt, um die Stiche mit großer Kraft zu setzen. Auch sei der Angeklagte nicht strafbefreiend vom Mordversuch zurückgetreten. Selciuc S. sei bei seiner Flucht vom Tatort vielmehr davon ausgegangen, „alles getan zu haben, um die Tötung auszuführen“. Den Tod des Jungen habe er mindestens „billigend in Kauf genommen“, und er habe ihn eben nicht bloß „schlimm verletzen“ wollen, wie er behauptete. Zu seinen Gunsten gehe das Gericht von einem Eventualvorsatz aus.

Als die Polizei Selciuc S. wenige Stunden später festnahm, kämpften die Ärzte noch um Mematis Leben. Der Junge hatte 2,5 Liter Blut verloren, sein Zwerchfell war durchtrennt und beinahe auch sein Rückenmark. „Es fehlten nur Millimeter und der Geschädigte wäre jetzt querschnittsgelähmt“, so Halbach. Memati I. hinkt noch heute, die brutale Tat steht ihm immer wieder vor Augen, er ist arbeitsunfähig. Ob seine Leiden jemals wieder verschwinden? Ungewiss.

Schizophrene Störung – trotzdem muss er in normale Haft

Auf eine persönliche Ansprache an den Angeklagten – mahnende Worte oder eine moralische Einordnung – verzichtet Richter Halbach komplett, was gerade in einem Jugendstrafverfahren überrascht. Selciuc S. sei ein „sehr einfach strukturierter Mensch“, sagt er. Jemand, der seinen Platz im Leben noch nicht gefunden habe, der immer wieder straffällig geworden sei, mal wegen Diebstahls, mal wegen Wohnungseinbrüchen. Die Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung, wie von der Staatsanwaltschaft zunächst angestrebt, bleibt Selciuc S. allerdings erspart.

Das wollte er unter keinen Umständen, wie er schon beim Prozessauftakt Mitte Januar durchblicken ließ, da sagte er: „Ich will nicht ins Krankenhaus, ich will in den Knast.“ Zwar leidet der junge Mann nachweislich unter einer schizophrenen Störung. Zu seinen Gunsten sei das Gericht davon ausgegangen, dass diese Erkrankung seine Steuerungsfähigkeit während der Tat erheblich vermindert habe, so Halbach. Sie sei aber, und das ist entscheidend, nicht komplett aufgehoben gewesen.

Die nächsten Jahre wird Selciuc S. hinter Gittern verbringen, sollte das Urteil rechtskräftig werden. In den Gesichtern der Eltern, die schon einen Sohn verloren haben und am Dienstag geschockt auf dem Gerichtsflur stehen, spiegelt sich unendliche Traurigkeit.