Hamburg. Der elf Monate alte Michail leidet an einer seltenen Krankheit. In der Asklepios Klinik Nord Heidberg wurde nun ein Eingriff vorgenommen.

Montagmittag. Der kleine Michail liegt im Krankenbett auf der Kinderintensivstation der Asklepios Klinik Nord – Heidberg. Er ist eingewickelt in eine Decke mit buntem Elefanten-Muster. Sein Brustkorb hebt und senkt sich gleichmäßig. Er schläft.

Doch das linke Auge des elf Monate alten Babys ist geöffnet. Der Junge kann es nicht schließen. Sein Augenlid ist fehlgebildet, ebenso wie seine Nase und seine Ohren. Michail leidet am Goldenhar-Syndrom – eine seltene angeborene Fehlentwicklung, die zu Missbildungen im Gesicht führt, die meistens einseitig auftreten.

Operation aufgrund des Krieges nicht in der Ukraine möglich

Der Junge kommt aus Transkarpatien, einer Region im äußersten Westen der Ukraine. Am 27. Februar sollte er in Kiew operiert werden. Der Termin stand bereits fest. Doch drei Tage vorher marschierten russische Soldaten ins Land ein und begannen es zu zerstören. Raketen trafen Gebäude in unmittelbarer Nähe des Krankenhauses. Alle geplanten und nicht lebensnotwendigen Operationen wurden abgesagt. Michails Eltern waren verzweifelt. Natürlich auch wegen des Krieges. Vor allem aber sorgten sie sich um die Gesundheit ihres Sohnes.

Sie nahmen Kontakt mit entfernten Verwandten in Hamburg auf. Diese hatten sie zuletzt vor etwa 20 Jahren persönlich gesehen. „Wir haben sofort angeboten, sie zu unterstützen“, berichtet Neffe Eduard Dederer, der in Deutschland aufgewachsen ist. Aber wie konnten sie helfen? Ihre ukrainische Familie wollte kein Geld. Alles, was sie sich wünschte, war die Operation für ihren Michail.

Eduard Dederer erzählte einer Mitarbeiterin der Asklepios Kliniken von dem tragischen Fall. Über mehrere Stationen landete die Geschichte am Standort Nord – Heidberg. Die Ärzte willigten ein, den komplizierten Eingriff durchzuführen – ohne eine Bezahlung zu erwarten. Sofort schickten Michails Eltern sämtliche Arztberichte aus Kiew nach Hamburg. Eine Ukrainisch sprechende Krankenschwester übersetzte die Papiere. Dann bereiteten sie ihre Flucht vor.

Operation: Sondergenehmigung zur Ausreise für den Vater

Der 36 Jahre alte Vater, der ebenfalls Michail heißt, bekam eine Sondergenehmigung, um das Land zu verlassen. Weil er seinen kranken Sohn betreuen muss, durfte er aus der Ukraine ausreisen. Normalerweise müssen Männer zwischen 18 und 60 Jahren in der Heimat zurückbleiben. Sie können jederzeit als Soldaten in den Krieg eingezogen werden. Die Flucht nach Hamburg hatte Michail wohlüberlegt geplant. Die Familie fuhr mit ihrem klapprigen Peugeot zum Grenzübergang nach Rumänien. Sie hatte gehört, dass dort ein Wachposten stationiert sei, der „nicht so pingelig ist“. Michail sorgte sich, trotz Genehmigung seine Frau Mariana und die beiden Söhne Mikita (2) und Michail nicht begleiten zu dürfen.

Mariana und Michail (36) sind aus der Ukraine mit ihren beiden Söhnen Mikita (2) und Michail geflüchtet.
Mariana und Michail (36) sind aus der Ukraine mit ihren beiden Söhnen Mikita (2) und Michail geflüchtet. © Annabell Behrmann | Annabell Behrmann

Die Asklepios Kliniken hatten ihm ein Dokument zukommen lassen, das die notwendige Operation seines Kindes bestätigte. Doch die Prüfung des deutschen Schriftstückes dauerte. Über eine Stunde wurde die Familie festgehalten, im Ungewissen gelassen – ehe sie die Grenze passieren durfte. Die rund 1700 Kilometer lange Flucht über Rumänien, Ungarn und Tschechien nach Deutschland dauerte drei Tage. Der kleine Michail ist durch sein verkümmertes Augenlid sehr lichtempfindlich, deswegen fuhren die Ukrainer hauptsächlich im Dunkeln. Vor zwei Wochen kamen sie in Hamburg an.

„Ich bin sehr glücklich, hier sein zu dürfen. Ich hatte noch nie eine Waffe in der Hand. Am meisten freue ich mich aber für meinen Sohn“, sagt Michail senior auf Russisch. Er steht im Krankenzimmer der Asklepios Klinik, sein Neffe Eduard übersetzt. Der Vater verschränkt die Arme vor der Brust, er wirkt angespannt. Der Krieg in seiner Heimat beschäftigt ihn, schwirrt in seinen Gedanken herum. Jeden Tag verfolgt er ukrainische Nachrichten. „Aber an erster Stelle steht mein Kind.“ Die Gesundheit seines Sohnes ist alles, was für ihn gerade zählt. Am nächsten Tag soll der Säugling operiert werden.

Operation auch für soziale Entwicklung wichtig

Drei bis vier Stunden sind für die OP am Dienstag angesetzt. Ein Team von Augenärzten, Zahn- und Kieferchirurgen sowie Hals-Nasen-Ohren-Ärzten wird den Eingriff vornehmen. Die Mediziner schließen das Augenlid, entfernen überschüssige Haut an den Ohren und rekonstruieren den gespaltenen Naseneingang und -flügel.

„Für die soziale Entwicklung ist es wichtig, dass das Kind so normal wie möglich aussieht“, sagt Prof. Dr. Markus Kemper, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin sowie Chefarzt am Kinder-Heidberg. Mit der Operation wollen die Ärzte dem Jungen ein normales Leben ermöglichen. Sie wollen verhindern, dass er wegen seines andersartigen Äußeren stigmatisiert wird. Vor allem hat der Eingriff aber gesundheitliche Gründe. „Für das Auge ist es nicht gut, wenn das Lid nicht richtig schließt“, erklärt Kemper. Im schlimmsten Fall könnte Michail erblinden.

Sie operierten den kleinen Michael (v. l.): Die Chefärzte Dr. Henning Hanken, Professor Marc Schargus und Dr. Christoph Külkens.
Sie operierten den kleinen Michael (v. l.): Die Chefärzte Dr. Henning Hanken, Professor Marc Schargus und Dr. Christoph Külkens. © Asklepios Kliniken GmbH | Asklepios Kliniken GmbH

Einige Menschen mit Goldenhar-Syndrom haben zudem Probleme mit dem Hören. Dadurch kann die geistliche Entwicklung beeinflusst werden. Bislang haben die Ärzte bei Michail keine Störung festgestellt. „Im Augenblick bin ich zuversichtlich. Ausschließen kann man sie aber erst in mehreren Jahren.“ Prof. Dr. Kemper hat eine derartige Fehlbildung bei einem Kind noch nie gesehen. Er schätzt, dass das Syndrom bei etwa einem von 20.000 Neugeborenen auftritt. Wie es entsteht, ist nicht vollständig geklärt. Forscher vermuten, dass es sich um eine Unterbrechung der Blutversorgung zwischen dem vierten und achten Schwangerschaftsmonat handelt.

Operation: Ein erster Schritt ist geschafft, aber der Weg ist noch lang

Der kleine Michail ist aufgewacht. Seine Mutter wiegt ihn in den Armen. Sie bleibt mit ihm über Nacht in der Klinik – und hofft, dass die Operation am nächsten Morgen ohne Komplikationen verläuft. Noch mehr Schicksalsschläge wären für die Familie kaum zu ertragen. Erst im vergangenen Jahr haben sie Michail seniors Mutter verloren. Sie war an Corona erkrankt. Die Angehörigen konnten sich die Behandlungskosten im Krankenhaus nicht leisten. Sie setzten erst einen Notruf ab, als ihr nicht mehr zu helfen war. Drei Monate später kam Michail zur Welt. Sein verformtes Gesicht zu sehen, war ein Schock für sie. Dann brach der Krieg aus.

Schon einen Tag nach der Operation wird Michail von der Intensiv- auf die Normalstation verlegt. Sein linkes Auge ist geschlossen. Die Ärzte beobachten nun, ob der Junge das Lid auch wieder öffnen kann oder ein weiterer Eingriff notwendig ist. „Für uns ist es eine große Erleichterung. Aber wir sind noch nicht am Ende angekommen“, sagt Mutter Mariana, die ihren Sohn auf dem Arm hält. Einen Verband trägt er nicht mehr. Michail spielt mit einer Rassel in der Hand und versucht seiner Mutter die Maske vom Gesicht zu ziehen. Dann lächelt er. Für Mariana ist es das Schönste, ihren Jungen so fröhlich zu sehen.