Hamburg. Abendblatt-Chefredakteur Lars Haider spricht mit Uni-Präsident Dieter Lenzen über den Ausgleich zwischen Arbeit und Freizeit.

In „Wie jetzt?“, einem Gemeinschaftsprojekt von Hamburger Abendblatt und Universität Hamburg, unterhalten sich Chefredakteur Lars Haider und Uni-Präsident Dieter Lenzen über Themen, die Wissenschaft und Journalismus gleichermaßen bewegen. Heute geht es um die Frage, ob der Begriff der Work-Life-Balance nicht in Wirklichkeit ziemlicher Unsinn ist.

 

Dieter Lenzen: Ich würde gerne eine steile These wagen. Sie lautet: Die Idee von der Work-Life-Balance ist eine absolute Schnapsidee von Leuten, die meinen, dass Arbeit etwas Schlimmes ist, sodass man ein Gegengewicht braucht. Ich frage mich: Wann ist Arbeit denn wirklich so schlimm, und sind Gegengewichte überhaupt geeignet, Arbeit angenehm zu machen? Wenn man sich die Entstehung des Urlaubs ansieht, dann ist der nicht entstanden, um ein Gegengewicht zur Arbeit zu schaffen, sondern, um den Arbeitnehmern die Möglichkeit zu geben, ihre Kräfte neu aufzuladen. Das hatte mit Work-Life-Balance überhaupt nichts zu tun.

Interessante These, die ich so deuten würde: Wenn man das Gefühl hat, ein Gegengewicht zur Arbeit zu brauchen, hat man den falschen Job und sollte sich schleunigst einen neuen suchen.

Lenzen: Oder man hat ein falsches Verständnis von Arbeit. Ich würde gern mal etwas Positives zum Thema Arbeit sagen, nämlich, wie wichtig sie für die eigene Identität ist. Wodurch definieren wir uns denn? Nicht dadurch, dass wir Urlaub machen oder Handball spielen. Wir definieren uns durch das, was den Tag am stärksten beansprucht, und in dem wir eine Expertise haben, also über das, was wir beruflich können. Das dürfen wir nicht schlecht reden, weil es etwas Gutes ist, für den Einzelnen wie für die Gesellschaft. Ich glaube, dass es eine Katastrophe wäre, wenn die Menschen nicht mehr arbeiten könnten beziehungsweise müssten. Die meisten hätten keine Ahnung, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollten. Man ist schnell ein Nichts in dem Augenblick, in dem man keinen Beruf hat, über den man sich definieren kann, oder wenigstens eine Aufgabe.

Trotzdem ist der Begriff Work-Life-Balance einer, der in den vergangenen Jahren immer populärer geworden ist. Offensichtlich gibt es Leute, denen etwas anderes als arbeiten mindestens genauso wichtig ist, zumindest wird das suggeriert.

Das ist ein Kampfbegriff geworden. Wenn Sie in Verhandlungen mit Arbeitgebern erreichen wollen, dass die Arbeitszeit reduziert wird, brauchen Sie solche Kampfbegriffe, auch wenn die Balance nicht definiert wird.

Und vorausgesetzt wird, dass Arbeit etwas ist, dass das Leben wie auch immer aus dem Gleichgewicht bringt. Ihre These meint das Gegenteil, nämlich, dass das Leben durch Arbeit erst ins Gleichgewicht gebracht wird, und sei es nur, weil sie dem Tag, der Woche, dem Monat und dem Jahr Struktur gibt. Woran erkennt man denn, dass man einen Job hat, der zu einem passt und einem guttut? Jemand hat mal zu mir gesagt, dass er seine Arbeit auch machen würde, wenn er kein Geld dafür bekäme. Das ist schon mal ein starkes Indiz…

Es würde vielleicht auch schon genügen, wenn man beim Aufstehen nicht denkt: „Oh nein, jetzt muss ich wieder zur Arbeit.“ Man muss sich spüren als jemand, der etwas bewegen und gestalten kann.

Wenn man morgens schon mit einem schlechten Gefühl aufsteht und zur Arbeit geht, nutzen auch die besten Ausgleichsmaßnahmen nichts. 40 miese Stunden die Woche bekommt man auf jeden Fall nicht ausbalanciert.

Im Grunde reden wir über das Verhältnis von gutem Leben und schlechtem Leben.

Je jünger die Menschen werden, desto weniger wichtiger ist ihnen, viel und lange zu arbeiten. Teilzeitjobs sind selbstverständlich geworden, weil man, zum Beispiel, mehr Zeit für seine Familie haben will.

Es gab schon immer Berufe, die auch deswegen gewählt worden sind, weil man sein Leben stärker selbst bestimmen wollte. Die Familie kann ja auch wie die Arbeit ein Identifikationsfaktor sein, den man nicht unterschätzen sollte.

Der Begriff Work-Life-Balance bekommt auch deshalb eine neue Bedeutung, weil die Trennung zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit sich mit dem Siegeszug des Home-Office auflöst. Früher war klar: Ich fahre ins Büro, also arbeite ich, ich bin zu Hause, also habe ich frei. Das ist heute in vielen Berufen, längst nicht in allen, anders, was ich persönlich übrigens eine gute Entwicklung finde. Weil die Arbeit ein wichtiger Bestandteil des Lebens ist, kann und sollte man sie nicht aussperren. Mein privates und mein berufliches Ich vermischen sich inzwischen so sehr, dass ich gar nicht mehr weiß, wo die Grenzen sind. Ist das schlimm?

Nein, überhaupt nicht. Der preußische Staat hat in der Mitte des 19. Jahrhunderts mit Wissenschaftlern die Vereinbarung getroffen, dass alles, was sie machen, Arbeit ist. Deren Lebens- war also zu hundert Prozent Arbeitszeit. Das war eine sehr kluge Entscheidung, weil man auch aus dem privaten Alltag heraus damals zu wichtigen Erkenntnissen kommen konnte. Es gibt Berufe, die die Trennung zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit schon länger nicht mehr vornehmen, und es gibt auch Kulturen, in denen es so ist. Im Japanischen etwa gibt es gar kein Wort für das, was wir in Deutschland Freizeit nennen. Man hilft sich mit „leisure“. Dort gibt es auch die Angewohnheit, viel länger zu arbeiten, als es förmlich im Arbeitsvertrag steht, und auch den Feierabend noch mit den Kolleginnen und Kollegen zu verbringen. Das gemeinsame Essen ist dann auch Arbeit, und die gemeinsame Arbeit ist das Essen, das ist in Japan häufig nicht zu trennen und das will auch gar keiner trennen. Ich finde das nachvollziehbar: Ich lebe, warum soll ich dabei unterscheiden zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit? Im Übrigen ist „Arrebeit“ im Mittelalter ein Begriff, der Leid bedeutet.

Ist das so? Man merkt wahrscheinlich erst dann, dass die Arbeit kein Leid ist, wenn man sie nicht mehr hat. Wenn ich Ihnen richtig zuhöre, finden Sie Homeoffice deshalb gut, weil es quasi die Trennung von Arbeit und Nicht-Arbeit weiter verringert.

Homeoffice ist ein großer Vorteil, vor allem, weil das Leben, nicht nur das Arbeitsleben, selbstbestimmter wird. Noch mal: Der Gegensatz von Work und Life ist absurd, weil der Begriff, über den wir sprechen, so tut, als sei Arbeit kein Bestandteil des Lebens.