Hamburg. Psychosomatiker Bernd Löwe mahnt zu mehr Zuversicht, möchte weniger Corona-Nachrichten, spricht über Long Covid und Angst.
Prof. Dr. Bernd Löwe ist Klinikdirektor am UKE und Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie für Innere Medizin. Ein Gespräch über die verbreitete Angst, Long Covid und die Wege aus der Pandemie.
Hamburger Abendblatt: Wie ist es um unsere psychische Gesundheit nach zwei Jahren Pandemie bestellt?
Bernd Löwe: Die Pandemie schlaucht uns: Zunächst hatten wir alle gehofft, Corona würde uns nur einige Wochen beschäftigen – jetzt dauert der Ausnahmezustand schon zwei Jahre an. Wir sehen auch bei uns in der Klinik zunehmend Betroffene, die durch die Pandemie und den Lockdown krank geworden sind: Menschen sind vereinsamt, Ängste sind größer geworden, Essstörungen haben sich verschlimmert. Das ist für uns ein großes Thema.
Wie sehr hat uns die Angst im Griff?
Löwe: Natürlich hat die Berichterstattung über die Pandemie Wirkung gezeigt. Wenn Menschen Symptome spüren, wird ihre Wahrnehmung sehr geprägt durch Ängste, Erwartungen und Erfahrungen. Das geschieht unbewusst.
Heißt das, dass sich manche mit Fieber und Halsschmerzen schon bald auf der Intensivstation sehen?
Löwe: Das ist der Prozess des Katastrophisierens, den manche durchaus durchleben. Die damit verbundene Angst führt dazu, dass Symptome viel intensiver wahrgenommen werden. Genauso gibt es aber auch das Verdrängen von Symptomen, bis sie so schlimm werden, dass man sie nicht mehr leugnen kann. Je länger eine Symptomatik dauert – etwa bei Long Covid – desto deutlicher werden die Effekte der Psyche. Natürlich gibt es die Symptome, aber manche Patienten nehmen sie durch Ängste, negative Erwartungen und Vorerfahrungen viel intensiver wahr.
Führt die ausführliche Berichterstattung über Long Covid am Ende zu mehr schlimmeren Fällen?
Löwe: Das ist jetzt sehr vereinfacht, aber nicht ganz falsch. Long Covid ist sehr komplex – natürlich ist das Virus beteiligt, aber die Psyche spielt ebenfalls eine große Rolle. Die Öffentlichkeit ist derzeit extrem auf Covid-19 und Long Covid fokussiert. Wir haben also eine geschärfte Aufmerksamkeit auf diese Symptome. Das muss gar nicht schlecht sein. Aber manchmal bekommt man den Eindruck, dass es außer Covid-19 keine anderen Erkrankungen mehr gibt. So driften andere Symptome anderer Erkrankungen aus dem Fokus der Aufmerksamkeit – etwa bei Herzerkrankungen, Schlaganfällen, Hautkrebs und psychischen Störungen. Die eigene Aufmerksamkeit wird ganz auf die Covid-19-Symptome gelenkt. In den Kliniken sehen wir, dass an manchen Stellen andere Erkrankte als Folge der Pandemie zu spät, also erst in einem sehr schlechten Zustand, zu uns kommen.
Europa macht inzwischen auf und lockert fast alle Maßnahmen: Dänemark, Finnland, Norwegen, Schweden, die Schweiz – gibt es dort weniger Angst vor Covid und Long Covid?
Löwe: Die Krankheit gibt es auch in Großbritannien oder Dänemark. Das wäre mir zu spekulativ. Vielleicht werden die Risiken dort anders abgewogen.
Im „Deutschen Wörterbuch“ von Jacob und Wilhelm Grimm steht: „Angst ist nicht bloß Mutlosigkeit, sondern quälende Sorge, zweifelnder, beengender Zustand überhaupt.“ Gibt es sie vielleicht doch, die German Angst?
Löwe: Ich glaube nicht, dass es ein deutsches Phänomen ist. Es gibt beispielsweise eine Studie aus Frankreich, die nachweist, dass der Glaube, an Covid-19 erkrankt gewesen zu sein, die langfristigen Körperbeschwerden stärker beeinflusst als die tatsächliche Infektion mit dem Virus.
Als die harmlosere Hongkong-Grippe 1969 Deutschland heimsuchte, hat das kaum jemanden interessiert, Politik und Medien haben stets abgewiegelt. Jetzt reagieren wir ganz anders. Wie erklären Sie sich das?
Löwe: Das dürfte der Zeit und dem heute beschleunigten und intensiveren Informationsaustausch geschuldet sein. Die Angst war real in den ersten Monaten der aktuellen Covid-19 Pandemie – es gab eine vitale, existenzielle Bedrohung, weil uns damals die Impfung fehlte. Wir haben viele Menschen im Umfeld und den Krankenhäusern schwer erkranken und sogar sterben sehen. Da fühlen Menschen mit. Das hat sich nun qualitativ verschoben: Durch die Impfungen haben die meisten keine vitale Bedrohung mehr.
Ist das schon in den Köpfen angekommen? Oder haben wir eine verzerrte Wahrnehmung und fixieren uns zu sehr auf Negativnachrichten?
Löwe: Es gibt zweifellos einen Kreislauf aus medialer Berichterstattung und persönlicher Aufmerksamkeit. Wenn alle über Covid-19 berichten, erwarten viele zu erkranken und fokussieren sich noch stärker auf das Thema, was eine vermehrte Berichterstattung nach sich zieht. Das verstärkt sich gegenseitig.
Wir spüren gerade, dass das Interesse etwas nachlässt. Könnte das ein Indiz dafür sein, dass die Angst abnimmt?
Löwe: Ja, das deutet daraufhin. Das wäre auch rational, da aktuell vermehrt über den Übergang zur Endemie gesprochen wird.
Am Anfang der Pandemie war die Angst hilfreich – sie hat uns vorsichtig werden lassen. Inzwischen scheint uns die Angst eher zu lähmen, in den Alltag zurückzufinden. Wie fangen wir die Angst wieder ein?
Löwe: Das ist immer eine Frage der Information. Die Handhabbarkeit von Covid-19 auf den Intensivstationen und die abnehmenden Todesraten sind wichtig und müssen kommuniziert werden. So können wir unsere Ängste mit der Realität abgleichen. Wir müssen gleichzeitig wieder über andere Themen reden und berichten, die für die Gesundheit ebenso wichtig sind: Vorsorgeuntersuchungen, psychische Erkrankungen, Resilienz – wie gehe ich achtsam mit Belastungen und Stress um? Das würde zur Normalisierung beitragen.
Was raten Sie Menschen, die sich vor dem Virus fürchten, die Angst zu überwinden?
Löwe: Das muss man individuell lösen. Ich frage Betroffene, welchen Unterschied es macht, Angst zu haben, welchen Sinn die Angst hat und für wie wahrscheinlich sie einen schweren Verlauf halten. Da kommen wir teilweise auf sehr hohe subjektive Risikoeinschätzungen, zum Beispiel von 30 oder 50 Prozent, die weit über den tatsächlichen Risiken liegen. Gespräche helfen, diese Befürchtungen zu nehmen und auf eine realistischere Basis zu stellen. Wir fragen konkret: Was hilft es, Angst zu haben, außer dass es den Betroffenen damit schlechter geht? Es gibt auch das Bild der Lebenstorte, die verschiedene Bereiche wie Arbeit, Familie, Freunde, Gesundheit abbildet – momentan ist das Tortenstück Gesundheit, geprägt durch die Pandemie, einfach sehr dominant. Die anderen Tortenstücke müssen wieder größer werden.
Sind wir ein Opfer der Moderne? Unser Leben wird immer sicherer, wir werden immer älter – und zugleich immer ängstlicher. Warum?
Löwe: Ist das so? Bei Sätzen mit „immer mehr“ werde ich vorsichtig. Es heißt beispielsweise auch, es gebe immer mehr depressive Störungen. Wenn man Zahlen betrachtet, stimmt das gar nicht. Ich bezweifele auch, dass die Ängste schlimmer sind als früher. Schaut man sich langfristige Studien an, haben sich Angst, Depressivität und Lebensqualität im Laufe der Jahrzehnte eher verbessert. Gerade aber nimmt Covid-19 einen zu großen Bestandteil in unserem Leben ein, der Fokus auf das Virus beeinflusst uns massiv in unserem Tun und in unserer Wahrnehmung. Ich möchte aber nicht missverstanden werden: Schutzmaßnahmen sind natürlich wichtig.
Was ist jetzt geboten?
Löwe: Ich glaube, die Politik sollte rational informieren und die vielen anderen wichtigen Themen stärker in den Mittelpunkt rücken. Wichtige Fragen wie der Umwelt- oder Klimaschutz sind in der Pandemie ja fast in den Hintergrund getreten. Unsere Wahrnehmung muss sich wieder weiten – auch in den Medien: Corona gehört nicht jeden Tag auf die Titelseite.
Sind die Inzidenzen noch hilfreich – sie machen ja glauben, es werde jeden Tag schlimmer.
Löwe: Die Inzidenz ist interessant, aber sie darf uns nicht steuern. Entscheidender ist, wie viele Menschen schwer krank werden. Wir dürfen aber auch die Long-Covid-Fälle nicht aus den Augen verlieren. Die Betroffenen leiden wirklich und das viele Monate lang. Sie benötigen eine Therapie, aber das Hilfsangebot ist bislang nicht ausreichend oder betrifft nur Teilaspekte der Erkrankung. Und wir müssen uns um die kümmern, die gar nicht infiziert waren, aber unter der Pandemie leiden und erkrankt sind, etwa junge Studierende, die im Digitalstudium nie jemanden kennen lernen konnten. Einige haben Schwierigkeiten, mit den Folgen zurechtzukommen.
Fürchten Sie Spätfolgen der Pandemie – eine Art Corona-Trauma?
Löwe: Wir müssen nicht alle Folgen negativ sehen: Es hat uns in manchen Bereichen durchaus einen Schub gegeben, Dinge zu verbessern und zu digitalisieren. Der größte Teil der Menschen hat eine große Anpassungsfähigkeit, auch die allermeisten Kinder, Jugendliche und jungen Erwachsenen werden da rauskommen und die Defizite schnell wieder aufholen, wenn wir eine Normalisierung haben. Leider gelingt es nicht allen. Entscheidend ist, welche Disposition jemand in einer solchen Krise mitbringt: Wer viele Risikofaktoren aufweist, früh traumatisiert oder vernachlässigt wurde, Vorerkrankungen hatte oder insgesamt schlechtere Startbedingungen im Leben hatte, der leidet stärker als andere und entwickelt eher langfristige Beschwerden.
Die Deutsche Gesellschaft für Krankenhaushygiene hat betont, die Angst sei ein schlechter Ratgeber.
Löwe: Angst muss man differenzieren. Sie hat uns anfänglich zur Vorsicht gemahnt und die Impfungen unterstützt. Aber nun muss sie auf einen rationalen Boden gestellt werden – Covid-19 wird Teil unseres Lebens und damit auch Teil des allgemeinen Lebensrisikos. In der Politik ist Angst jetzt ein schlechter Berater.
Benötigen wir einen ganz anderen Namen für Omikron, weil sich die Corona-Erkrankung so gewandelt hat? Es wäre fatal, die hohen Inzidenzen mit den Bildern aus Bergamo in Beziehung zu setzen.
Löwe: Das machen die meisten nach meiner Wahrnehmung nicht mehr. Aber wir müssen immer wieder erklären und „dekatastrophisieren“: Bergamo wird so jetzt nicht mehr passieren – wir haben die Impfungen und eine ungefährlichere Variante des Virus.