Hamburg. Ärztekammerpräsident Emami beklagt „ewige Nicht-Entscheidung“. Doch es gibt auch andere Signale – besonders in Bezug auf Kinder.
Es wäre so einfach gewesen: Weniger als ein Jahr nach Beginn der Corona-Pandemie ist ein Impfstoff da. Alle lassen sich gegen das alles lähmende Virus impfen – und Ende. Bei einer sofort eingeführten Impfpflicht gegen Sars-CoV-2 im Frühjahr 2021 würden sich Befürworter und Gegner des Piks-Zwangs heute wohl nicht so zoffen, wie sie es derzeit tun.
Doch so simpel ist es nicht, wie Hamburger Ärzte und Experten wissen – nicht nur wegen des über längere Zeit fehlenden Impfstoffes und der Priorisierung, sondern auch wegen der Herausforderungen durch neue Virusvarianten. Hätte eine Impfpflicht angesichts dieser Vorzeichen bereits durchgesetzt werden sollen – und ist sie überhaupt praktikabel? Dazu gibt es auch bei Hamburger Spitzenmedizinern teilweise gegensätzliche Meinungen.
Corona Hamburg: Impfpflicht nicht rechtzeitig diskutiert
Hamburgs Ärztekammerpräsident Pedram Emami sagte dem Abendblatt: „Zumindest Anfang 2021 gab es keine sichere Datenlage hinsichtlich einiger Details, die für diese Entscheidung wichtig gewesen wären. Das konnte ich ja noch verstehen. Dennoch war es sicher eine politische Fehlentscheidung, eine wie auch immer geartete Impfpflicht von vornherein kategorisch auszuschließen und nicht rechtzeitig zu diskutieren.“
Emami glaubt, dass das Impfen auf das Politische reduziert werde. „Die gesundheitliche/medizinische Dimension ist aus dem Fokus geraten. Am einfachsten wäre es am Anfang gewesen: Alle hätten eine offizielle Einladung zu einem konkreten Impftermin bekommen. Ich behaupte einfach mal: Da wäre die Impfquote schneller viel höher gewesen als so, wie wir das gemacht haben. Der Fairness halber muss man aber auch sagen, hier in Hamburg haben wir bei den Erwachsenen mittlerweile eine super Quote. Bei näherer Betrachtung ist nicht alles so schlecht, wie öffentlich manchmal dargestellt.“
Ärzteschaft über Corona: Viele Fragen bei Impfpflicht offen
Doch aus der Ärzteschaft kommen auch andere Signale. Der Vorstandschef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Andreas Gassen, hat Vorbehalte gegen eine Impfpflicht. Seine Argumente lauten unter anderem: Wer regelt sie organisatorisch? Wer kontrolliert? Wer verhängt Strafen?
Hamburgs prominentester Impfarzt Dirk Heinrich widerspricht: „Im Gegensatz zu Äußerungen der KBV-Vorsitzenden wird eine solche Impfpflicht eben nicht zwangsweise in den Praxen exekutiert. Hier irren die Vertreter der Körperschaft, und ich zweifle stark daran, dass sie für die Mehrheit der Kassenärzte sprechen und deren Rückhalt in dieser Frage haben“, sagte Heinrich in seiner Rolle als Bundesvorsitzender des Verbandes der niedergelassenen Ärzte (Virchowbund).
Renz ist vorsichtig bei Corona-Impfungen für Kinder
Ihm zur Seite springt der Vorsitzende der Kinder- und Jugendärzte, Dr. Thomas Fischbach: „Kein Mensch wird bei einer allgemeinen Impfpflicht in Praxen oder Impfzentren zwangsgeimpft werden. So ist das bei der bereits seit zwei Jahren bestehenden Impfpflicht gegen Masern und auch bei der kürzlich eingeführten berufsbezogenen Impfpflicht für Gesundheitseinrichtungen. Allein das Argument, eine Impfung könne Infektionen nicht gänzlich verhindern, war ja bereits bei der einrichtungsbezogenen Impfpflicht nicht stichhaltig.“
Im Verband der Kinderärzte ist der Hamburger Dr. Stefan Renz Fischbachs Vize. Renz hat sich auch bei der Zulassung der Impfstoffe für Kinder immer als sehr vorsichtig gezeigt und auf die wissenschaftlichen Empfehlungen geachtet.
Kammerchef Emami fehlt überhaupt eine „klare, konsequente Kommunikation“. Er sagte: „Es ist wichtig zu unterscheiden, was eine wissenschaftliche Empfehlung ist, was eine politische Maßnahme. Und dann muss klar erklärt sein, warum eine Maßnahme trotz einer Empfehlung anders oder gar nicht umgesetzt wurde. Fehlende Klarheit ist schlimmer als eine Fehlentscheidung.“ Wenn bald der Bundestag entscheide, müssten die Abgeordneten „sowohl alle medizinischen als auch alle juristischen Argumente berücksichtigen“.
Emami: Entwicklung der Pandemie schwer zu beurteilen
Emami selbst will sich nicht klar positionieren. Die Entwicklung der Pandemie sei schwer zu beurteilen. „Für mich steht aber außer Zweifel, dass jeder individuell sicher von einer Impfung profitieren würde. Ich habe mich aber auch früh (Anfang 2021, Anm. d. Red.) öffentlich dazu geäußert, dass ich mir eine Impfpflicht für Gesundheitsfachberufe und Angestellte in vulnerablen Bereichen sehr gut vorstellen kann und grundsätzlich richtig finde“, betont Pedram Emami.
Das war und ist das Schreckensszenario der Corona-Pandemie: Das Gesundheitssystem ist überlastet, Krankenhäuser, Ärzte, Pflegekräfte – eine Auswahl nach schlimmsten Fällen (Triage) wird nötig. Und hier setzt Walter Plassmann an, Vorstandschef der Kassenärztlichen Vereinigung und Jurist. Man müsse, schreibt er im KV-Journal, für eine Impfpflicht unter anderem nachweisen, dass „allein und ausschließlich die Nicht-Geimpften diesen Kollaps herbeiführen“. Für Plassmann ist eine allgemeine Impfpflicht nicht mit dem Grundgesetz vereinbar und würde durch das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe kassiert.
Corona Hamburg: Wirkung der Impfung nicht absehbar?
Wer in die körperliche Unversehrtheit eingreife, müsse schon ein anderes verfassungsmäßig geschütztes Gut anführen, welches das rechtfertige. Eine Überlastung des Gesundheitswesens könne das nicht sein. Und: Wie eine Impfung wirke, sei aufgrund der „Mutationsfreudigkeit“ des Coronavirus noch nicht absehbar.
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„Es wäre mit dem vom Verfassungsgericht bei Grundrechtseinschränkungen geforderten Bestimmtheitsgrundsatz nicht vereinbar, wenn die Impfpflicht nach Belieben durch politische oder gar administrative Entscheidungen immer neu festgestellt werden müsste.“ Das sei etwa bei der Bekämpfung von Polio anders gewesen: Ein stabiles Virus, ein Ziel (ausrotten) von einer Institution (Weltgesundheitsorganisation), eine Impfung im Kindesalter.
Corona in Hamburg: Emotionen stehen Fortschritt im Weg
Für Ärztekammer-Präsident Emami stellt sich bei jedem medizinischen Eingriff die Frage, ob er verhältnismäßig oder notwendig ist.
„Das ist auch in meinem täglichen Arbeiten als Chirurg nicht anders. Und da die Wirkung der Impfung und die Natur dieser Erkrankung andere sind als zum Beispiel bei Pocken oder Masern, gibt es zumindest eine gewisse Berechtigung nachzudenken. Sollte das Nachdenken aber weitere Monate oder Jahre dauern, muss man sich irgendwann fragen, ob die Angelegenheit dann nicht schon hinfällig ist.“ Das größte politische Problem für ihn sei die „ewige Nicht-Entscheidung“. Allerdings hat er Verständnis für Politiker, die unabhängig von ihrer Entscheidung immer mit Ärger rechnen müssten.
Impfarzt Heinrich sagte: „Wer etwas nicht will, konstruiert Gründe – wer etwas für richtig hält, der findet Wege.“ Die Polemik in der öffentlichen Debatte und die Emotionen um die Impfpflicht regen Ärztekammerchef Emami ungemein auf. „Wenn die einen respektvoller sprechen und die anderen rationaler handeln würden, dann hätten wir vielleicht eher eine Chance, diese Krise in jeder Hinsicht halbwegs gut zu überstehen.“