Hamburg. Ansgar Lohse über Zeichen der Hoffnung, den Mut zu Lockerungen, Fehler der Politik – und die Probleme einer Impfpflicht.

Prof. Dr. Ansgar Lohse ist Sprecher der AG Infektionsforschung und Gesellschaft in der Hamburger Akademie der Wissenschaften, Mitglied im Deutschen Zentrum für Infektions­forschung und Klinikdirektor am UKE. Der Wissenschaftler plädiert für einen Einstieg in den Ausstieg aus den Corona-Maßnahmen und eine Rückkehr zu mehr Normalität.

Die Inzidenzen sind zuletzt leicht gesunken. Haben wir den Scheitelpunkt der Omikron-Welle erreicht?

Ansgar Lohse: In Hamburg deutet vieles darauf hin, deutschlandweit dürfte es bis zur Trendwende noch einige Tage dauern. Aber vieles macht Hoffnung: So stagniert die Zahl der Corona-Patienten auf den Intensivstationen. Klinische Beobachtungen zeigen uns, dass die meisten Infizierten kaum noch schwere Verläufe haben und bei den Geimpften praktisch gar keine schweren Verläufe mehr auftreten. Inzwischen hat nur noch eine kleine Minderheit der Patienten, bei denen wir das Coronavirus nachweisen, wirklich Covid-19. Die meisten liegen wegen anderer Erkrankungen in der Klinik. Die Lage ist besser, als es die Zahlen abbilden.

Nun taucht die Variante BA.2 in der Debatte auf – lässt sich dazu schon etwas sagen?

Lohse: Eine Mutation ist zunächst nichts Besonderes. Das Virus ist einem dauernden evolutionären Wettbewerb ausgesetzt, da wird es ständig neue Varianten geben. Wenn der Druck durch eine hohe Immunität in der Bevölkerung wächst, werden sich vor allem solche Varianten durchsetzen, die der Immunantwort des Menschen zumindest teilweise entkommen können. Häufig machen diese Varianten dann aber weniger krank. Das ist ein Grundprinzip der Virus-Evolution.

Corona-Politik: Deutschland hinkt hinterher

Ist diese neue, weniger besorgniserregende Lage schon bei allen in Politik und Gesellschaft angekommen? Oder haben wir immer noch das gefährlichere Delta-Variante vor Augen?

Lohse: Leider hinken wir in Deutschland oft mit den Maßnahmen hinterher und sind zu sehr von den Bildern der vorherigen Wellen und Gefahren geprägt. Schutz­regeln kamen häufig zu langsam, und sie werden viel zu langsam wieder zurück­genommen.

Wenn wir auf zwei Jahre Pandemie zurückschauen: Zu Beginn, im Jahre 2020, waren wir sehr überzeugt von unserem Gesundheitssystem, inzwischen ist dieses Selbstbild einer Ernüchterung gewichen. Auch bezogen auf die Opferzahlen liegt Deutschland nur im Mittelfeld. Haben wir uns zu sicher gefühlt?

Lohse: Deutschland hat normalerweise eher zu viele Intensivbetten, das hat uns in der Pandemie aber geholfen. Wir sind nur sehr selten und in sehr wenigen Regionen wirklich an Grenzen gestoßen. In meinem früheren Krankenhaus in London beispielsweise mussten bei einer Kapazität von 800 Betten zeitweise 250 Patienten beatmet werden – eine solche Situation hat es hierzulande nicht im Entferntesten gegeben.

Corona: Was wir von Dänemark lernen können

Gibt es denn Dinge, die Sie ärgern?

Lohse: Ja, der wissenschaftliche Diskurs kam in Deutschland zu kurz, die wissenschaftsbasierte Beratung fand leider eher über Twitter statt als in sinnvoll zusammengestellten Expertenkreisen. Wir haben einen Mangel an guter epidemiologischer Expertise – das, was man angelsächsisch Public Health nennt, die Wissenschaft vom öffentlichen Gesundheitswesen, ist in Deutschland unterentwickelt. Andere Länder sind da sehr viel besser aufgestellt, und man nimmt dort neben Wirkungen auch Nebenwirkungen der Maßnahmen in den Blick.

Welche Länder sind besser aufgestellt?

Lohse: Dänemark war und ist in vielerlei Dingen vorbildlich: Unser Nachbar hat beispielsweise nur in kurzen, kritischen Phasen die Schulen geschlossen und sie ansonsten offen gehalten. Die Dänen haben die Regeln stets schnell angepasst und zügig wieder gelockert, sobald es angemessen war. Zugleich war die Impfkampagne exzellent.

Da hinkt Deutschland etwas hinterher …

Lohse: Ja, und das ist mir unverständlich: Die Impfung schützt, wie erhofft, sehr effektiv vor schweren Verläufen. Und kein Experte hatte erwartet, dass sie vor jeder Infektion schützt. Zugleich gibt es so gut wie keine Kontraindikationen gegen die Impfung. Jeder und jede kann sich also eigenverantwortlich schützen. Das ist somit keine staatliche Aufgabe mehr.

Lohse: Mehr Eigenverantwortung bei Corona

Sollten wir also den Dänen folgen, die alle Beschränkungen aufheben? Der Senat betont schon: Dänemark und Hamburg können nicht verglichen werden.

Lohse: Es ist das gleiche Virus, und somit gut vergleichbar. Aber in Dänemark wurde auch immer auf die Eigenverantwortung der mündigen Bürger gesetzt. Da haben wir noch Nachholbedarf.

Rächt sich, dass hierzulande die Eigenverantwortung durch viele staatliche Regeln ersetzt wurde?

Lohse: Den Begriff „rächen“ halte ich für übertrieben. Es führt jetzt aber in Deutschland zu mehr gesellschaftlicher und politischer Unruhe.

Nicht jede der Regeln ist plausibel und stimmig – wenn ich etwa Geisterspiele an der frischen Luft und volle Konzerthäuser sehe …

Lohse: Das stimmt. Wir versuchen zu viel zu regeln und wollen, typisch deutsch, alles ganz genau richtig machen – und übertreiben dadurch. Regeln müssen aber klar verständlich und leicht zu befolgen sein, um die Bevölkerung nicht zu überfordern.

Wo vermissen Sie die Klarheit der Regeln?

Lohse: Beispielsweise weiß niemand mehr, welche Bestimmungen und Nachweise in welchen Bundesländern greifen. In Niedersachsen benötigen Sie eine FFP2-Maske beim Einkaufen, in Hamburg reicht ein Mund-Nasen-Schutz, seit Freitag muss bei Angehörigenbesuchen in Kliniken wieder eine FFP2-Maske getragen werden.

Die Deutsche Gesellschaft für Krankenhaushygiene hat einen Kurswechsel bei Testungen und Masken gefordert und empfiehlt die Fokussierung der Maßnahmen auf besonders gefährdete Gruppen – stimmen Sie zu?

Lohse: Das galt von Anfang an. Wir müssen uns auf den Schutz von Risikogruppen konzentrieren. Diese Aufgabe ist inzwischen durch die Impfungen deutlich überschaubarer und einfacher geworden.

Lohse: Corona-Quarantäne ist übertrieben

Sind die Quarantäneregeln noch angemessen?

Lohse: Nein, ich halte sie inzwischen für übertrieben. Es kann nicht sein, dass ganze Kita-Gruppen und die Eltern eine Woche zu Hause bleiben müssen, wenn die Kindergärtnerin positiv getestet wird. Viele Engpässe in den Kliniken entstehen durch diese strengen Corona-Auflagen. Wer Krankheitssymptome hat, muss zu Hause bleiben oder mindestens eine Maske tragen. Nur in Risikobereichen wie Kliniken und Altenpflege müssen wir natürlich streng bleiben.

Die wichtigsten Corona-Themen im Überblick

Wo können wir Lockerungen zulassen?

Lohse: Wenn die Welle jetzt abebbt, sollten wir vor allem in den Schulen lockern und dort auf regelmäßige Tests verzichten. Alle Kinder und Jugendliche werden sich in den nächsten Monaten infizieren – das ist auch nicht schlimm, weil sie nur sehr selten schwerer erkranken. Und das Schul- und Kindergartenpersonal sollte inzwischen einen sehr guten Impfschutz haben. Wir könnten und müssten heute hier viel gelassener sein.

Wie lassen sich Veranstaltungen am besten sichern – mit 2G plus?

Lohse: Wir müssen gar nicht mehr für maximale Sicherheit sorgen – das kann jeder Bürger für sich erledigen, indem er sich dreimal impfen lässt und sich eventuell mit einer Maske schützt.

Warum die Corona-Impfung wichtig bleibt

Die Spanier behandeln Covid-19 fortan wie eine Grippe. Das klingt gewagt.

Lohse: Die Wirksamkeit der Impfung ist besser bei Covid-19 als bei Influenza, insofern ist das konsequent.

Wann endet die Pandemie – der Medizin­historiker Mark Honigbaum sagt, wenn die meisten Menschen immun sind und nicht mehr darüber reden. Geimpft sind sie längst – aber die Aufregung bleibt.

Lohse: Dieser Übergang von einer Pandemie in eine Endemie geschieht allmählich. Auch wenn wir jetzt entspannter sein können, müssen wir gerade im Herbst auch wieder wachsam sein.

Die Probleme der Corona-Impfpflicht

Was halten Sie von einer Impfpflicht?

Lohse: Die Impfpflicht kommt eindeutig zu spät und ist kaum umsetzbar. Bis Mitte März sollen medizinische Einrichtungen den Impfstatus der Beschäftigten übermitteln, danach entscheiden die Gesundheitsämter. Bis dahin aber dürfte die Welle längst abgeflacht sein. Trotzdem sollten wir in der Gesellschaft diskutieren, für wen eine Impfpflicht in Zukunft nötig und umsetzbar ist. Eine Pflicht in bestimmten Bereichen des Gesundheitswesens kann sinnvoll sein – wir müssen dann aber diskutieren, wie wir das überwachen und durchsetzen wollen.

Was halten Sie von einer allgemeinen Impfpflicht?

Lohse: Dazu benötigen wie ein ohnehin überfälliges Impfregister. Und ohne einen klugen Sanktionsmechanismus ist die allgemeine Impfpflicht ein stumpfes Schwert, das die Gesellschaft weiter spalten wird.

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    „Impfregister“ ist ein schönes Stichwort – das dürfte schon am Datenschutz scheitern.

    Lohse: Sowohl unsere Datenlage als auch unsere klinische Forschung hat in dieser Pandemie deutlich ihre Grenzen aufgezeigt bekommen. Es besteht dringender Reformbedarf, um für zukünftige Pandemien besser gerüstet zu sein.

    Gilt das schon für den Herbst 2022?

    Lohse: Ja. Wir benötigen unbedingt Strategien für den kommenden Herbst, in dem neben Corona aber auch Influenza, RSV und Noroviren betrachtet werden müssen, da gegen diese Viren die natürliche Immunität durch die Maßnahmen gerade schwindet. So werden wir die Menschen motivieren müssen, sich gegen Grippe impfen zu lassen, gerade auch Kinder und Jugendliche. Für Corona gilt: Letztendlich wird jede und jeder diesem Virus in den nächsten Monaten, spätestens im nächsten Winter begegnen. Aber jeder kann sich durch die Impfung hinreichend schützen – für welche anderen Erkrankungen haben wir dieses Glück?