Hamburg. Auf den tragischen Tod von Horst Hoegener folgt ein kräftezehrender Rechtsstreit. Nun will seine Frau Marita endlich Abschied nehmen.
Das Herz fehlt, seit fast fünf Jahren schon. Es liegt noch immer nicht dort, wo die sterblichen Überreste von Horst Hoegener ihre letzte Ruhe gefunden haben, sondern im Eisschrank eines Beerdigungsinstituts unweit von Hamburg, tiefgekühlt und sicher verpackt. Sie habe bisher nicht die Kraft gehabt, sein Herz im Familiengrab beizusetzen, sagt Marita Hoegener, die Witwe.
Jahrelang war das Herz von Horst Hoegener wie ein Beweisstück asserviert worden – zuerst in Hamburg, dann in Gießen. Rechtsmediziner gingen der Frage nach, warum es nach einem Eingriff am 5. Juli 2017 plötzlich aufhörte zu schlagen – und ob Ärzte des Albertinen-Krankenhauses in Schnelsen eine Schuld traf.
Ärztefehler? Hamburger stirbt nach Katheter-Untersuchung
Selbst als alle Untersuchungen abgeschlossen waren, entschied sich Marita Hoegener gegen eine Nachbestattung – sie habe den Ausgang ihres Rechtsstreits mit der Schnelsener Klinik abwarten wollen, sagt sie. Dieser Streit ist zwar vor wenigen Wochen beigelegt worden und Horst Hoegeners Herz inzwischen zurück im Norden. Nach all den Jahren könnte es beigesetzt werden und Marita Hoegener endlich einen Schlussstrich ziehen. Doch die 81-Jährige ist auch eine Getriebene: Der Fall lässt sie nicht los.
In den Schränken ihres Hauses in Henstedt-Ulzburg stapeln sich Akten und Ordner, gefüllt mit Anwaltsschreiben, Gutachten, rechtsmedizinischen Befunden und Gerichtsdokumenten. Neben einem Portraitbild ihres Mannes und Fotos ihrer Hochzeit vor bald 54 Jahren liegen auf dem Wohnzimmertisch Aufnahmen, die Horst Hoegeners vernarbte Leiche nach der Obduktion zeigen. „Schauen Sie, wie mein Horst aussah“, sagt sie, den Tränen nah.
Trauernde Witwe findet keinen Frieden und glaub an Ärztefehler
Aber die erschütternden Bilder beiseitelegen? Es ruhen lassen, zur Ruhe kommen? Das gelingt ihr nicht. Auch wenn juristisch alles geklärt ist, bleibt die betagte Dame emotional tief in der Tragödie und ihrer Trauer verstrickt. Sie findet keinen Weg hinaus, keinen Frieden. „Das Leben von Horst wurde ausgelöscht und meine Seele zertreten“, sagt sie. Sie habe das Gefühl, jeden Moment zusammenzubrechen. Und ist sicher: „Hätten die Ärzte nicht diesen Fehler begangen, würde mein Mann noch leben.“
Rückblende: Horst Hoegener ist schon lange herzkrank. Seinen ersten Bypass bekommt er 1993. Weil ihn Atembeschwerden plagen, lässt seine Hausärztin den 74-Jährigen am 20. Juni 2017 ins Albertinen-Krankenhaus einweisen. Zwei Tage später geht er zur Herzkatheter-Untersuchung. Doch nach dem Einsetzen des Katheters in die Leiste wird mit dem Kontrastmittel versehentlich zu viel Luft in Hoegeners zwei Bypässe injiziert, so steht es in einem dem Abendblatt vorliegenden Gutachten der Berliner Charité. Beide „Umleitungen“ sollen auf diese Weise verstopft worden sein. Horst Hoegener erleidet einen Herzinfarkt, muss reanimiert werden. Zwischenzeitlich verschlechtert sich sein Zustand. Zwei Wochen später ist er tot.
Nach Katheter-Untersuchung: Obduktion des Leichnams im UKE
Marita Hoegener sagt, sie habe aus der Klinik erfahren, dass bei dem Eingriff etwas schiefgelaufen sei – näher darauf eingehen möchte sie nicht. Unmittelbar nach dem Tod ordnet indes das Hamburger Amtsgericht die Obduktion des Leichnams in der Rechtsmedizin am UKE an. Dabei wird das Herz „zu Zwecken der Beweissicherung bzw. für weiterführende Untersuchungen“ entnommen. Bis zum Abschluss des Ermittlungsverfahrens soll „das Gewebe“ im Institut aufbewahrt und danach „in würdiger Form anonym auf dem Friedhof Öjendorf (Grabfeld 01-04, Gedenkstätte Anatomie)“ beigesetzt werden, heißt es. Marita Hoegener will sich jedoch selber um eine Nachbestattung kümmern.
Am 12. Juli 2017 gibt die Staatsanwaltschaft den Toten – bis auf das Herz – zur Bestattung frei. In der Trauerhalle streichelt Marita Hoegener zum letzten Mal die Stirn ihres Mannes. Im Sarg liegt ein altes Foto, das die beiden bei der Hochzeit im Jahr 1968 zeigt, eine hübsche, strahlende, junge Frau und einen stolzen Bräutigam. Sie hatten sich in Aachen kennen- und lieben gelernt, bevor sie in den Norden zogen.
Albertinen-Krankenhaus: Horst Hoegener starb am 5. Juli
In Kaltenkirchen stieg der Maschinenbauingenieur zunächst in die Firma ihres Vaters ein; sie arbeitete unter anderem als Buchhalterin. Auch eine Karriere als Mannequin schien zum Greifen nahe. Die Ehe blieb kinderlos, dem Glück tat das keinen Abbruch. Als Horst Hoegener am 30. Juni 2017 seinen 75. und letzten Geburtstag feiert, dekoriert sie sein Krankenzimmer mit vielen Rosenblättern. Da liegt er bereits auf der Normalstation. Am 4. Juli verabschiedet er sich von ihr mit dem Worten. „Tschüs, mein Schatz, bis morgen.“ Es ist das letzte Mal, das sie ihn lebend sieht. Am 5. Juli bleibt Horst Hoegeners Herz stehen.
Vier Monate später schließt die Hamburger Staatsanwaltschaft die Akte. Für die Annahme, dass der Herzinfarkt in Zusammenhang mit der Katheter-Untersuchung am 22. Juni gestanden habe, teilt die Ermittlungsbehörde am 7. November 2017 mit, gebe es „keinerlei Anhaltspunkte“ – und damit auch keine Hinweise auf ein Fremdverschulden. Doch die Witwe lässt nicht locker: Bei einem Forensiker in Gießen und einem Kardiologen in Wuppertal gibt sie jeweils ein Privatgutachten in Auftrag. Und vom Albertinen-Krankenhaus fordert sie die Patientenakte ihres Mannes.
Herz wird untersucht und eingelagert
Seit 2013 haben Patienten und ihre engsten Hinterbliebenen ein Recht auf Einsicht in diese Akte. Weil sie aber nur einen Teil der Dokumente erhält, zieht sie vor Gericht – erst nach einem Urteil bekommt sie den Rest. So ein „katastrophales Versagen“ habe er noch nicht erlebt, sagt ihr Anwalt, der Hamburger Medizinrechtler Uwe Brocks. Auf Abendblatt-Anfrage räumt die Klinik ein: „Leider ist für die vollständige Übermittlung der Behandlungsakten deutlich zu viel Zeit verstrichen. Das bedauern wir.“
In Gießen wird das Herz von Horst Hoegener Ende 2017 feingeweblich untersucht und dann eingelagert. Beide Privatgutachter gehen von Fehlern bei der Behandlung aus. Zu diesem Schluss kommt auch das vom Hamburger Landgericht eingeholte kardiologische Sachverständigengutachten der Berliner Charité, nachdem Marita Hoegener bei der Zivilkammer Klage eingereicht hat. Dort heißt es, dass „in zwei anatomisch getrennte Bypassgefäße nacheinander jeweils ein kritisches Volumen Luft injiziert“ wurde.
"Medizinische Standards wurden unterschritten"
Und weiter: „Ein solcher Doppelfehler lässt darauf schließen, dass medizinische Standards unterschritten wurden.“ Die Komplikation habe zum „funktionellen Verschluss der Bypassgefäße geführt“ und zu einem „Herzinfarkt in zwei Gefäßgebieten“. Zwar habe „die Komplikation (…) nicht zwangsläufig zum Tod (…)“ geführt, jedoch wäre „ohne die Komplikation der Tod am 5. Juli nicht eingetreten“. Es handele sich um eine „Kombination von Fehlern, (…) die nicht mehr nachvollziehbar ist und nicht hätte unterlaufen dürfen.“
Möglicherweise strittige Schlussfolgerungen der Expertise werden zwischen den Parteien vor Gericht gar nicht mehr thematisiert, weil sich Marita Hoegener und die Klinik auf einen Vergleich geeinigt haben. Sie habe nicht ewig weiter prozessieren wollen, sagt die 81-Jährige. Zur Höhe des Schmerzensgeldes schweigt sie.
- Pfuschende Ärzte gefährden Leben von tausenden Patienten
- Falsche Diagnose – Zahl der Behandlungsfehler sinkt leicht
- Frühchen nicht behandelt: Klinik muss 15.000 Euro zahlen
Auf Abendblatt-Anfrage heißt es vom Albertinen-Krankenhaus: „Wir bedauern außerordentlich, dass der Patient verstorben ist, unser Mitgefühl gehört den Angehörigen. Ob die 2017 während der Untersuchung aufgetretene schicksalshafte Komplikation die Ursache für das spätere Versterben des Patienten war, wurde im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens nicht festgestellt. Selbstverständlich haben wir damals die Abläufe in der betreffenden Einheit kritisch überprüft.“
Nach dem juristischen Scharmützel geht am 30. Dezember 2021 das Herz von Horst Hoegener auf seine letzte Reise. Auf Bitten der Witwe wird es von einer Ärztin aus Gießen in den Norden überführt. Unentgeltlich. Marita Hoegener hofft, dass sie bald die Kraft findet, diese letzte leibhaftige Erinnerung an ihren Mann im Kaltenkirchener Familiengrab beizusetzen. Das Grab wird ausgehoben, eine schöne Urne dazugestellt. Sie wird loslassen müssen. Bevor sie es beerdige, so die Witwe, werde sie den Behälter öffnen. Sie werde sich das Herz anschauen.
Marita Hoegener kann nicht anders.