Hamburg. Arno Luik ist Bahnkenner und -kritiker. Er lehnt den Umzug des Fernbahnhofs nach Diebsteich ab – ebenso wie den Bau einer U-Bahn.
Arno Luik liebt die Bahn – ob die Bahn ihn ebenso liebt, darf bezweifelt werden: Denn der Sohn eines Bahnhofsvorstehers von der Schwäbischen Alb hat nicht nur einen extrem kritischen Bestseller über das Staatsunternehmen geschrieben („Schaden in der Oberleitung - Das geplante Desaster der Deutschen Bahn“), sondern mehrfach das Großprojekt „Stuttgart 21“ journalistisch auf- und angegriffen. Durch seine hartnäckigen Recherchen wuchs der regionale Streitfall zum Bundesthema. Auch die Verlagerung des Bahnhofs Altona nach Diebsteich lehnt der langjährige Autor der Zeitschrift „Stern“ und frühere Chefredakteur der „taz“ vehement ab.
„Ich finde es sensationell, was in Hamburg passiert: Wir haben in Altona einen optimalen Bahnhof für die alternde Gesellschaft. Er ist der einzige barrierefreie Fernbahnhof, jeder Reisende kann ebenerdig alle Züge erreichen.“ Altona sei zudem perfekt an Bahn- und Buslinien angeschlossen und liege mitten in der Stadt: „Zwischen 130.000 und 150.000 Menschen können ihn zu Fuß erreichen“, lobt Luik. „Nun verlässt man diesen optimalen Ort und zieht in ein Gewerbegebiet mit Friedhof. Dort leben im Einzugsgebiet 5000 Menschen. Das ist skurril, unfassbar – und furchtbar altmodisch.“ Diebsteich sei ein Projekt der Neunzigerjahre, als kaum jemand den Klimawandel bedacht habe. „Dieser Umzug ist ökologisch verwerflich, ökonomisch unsinnig und verkehrspolitisch ein Desaster.“
Verkehr Hamburg: Arno Luik lehnt die U-Bahn ab
Trotz der wortgewaltigen Kritik dürfte der Neubau kommen: Nach einem langen Rechtsstreit erzielten der klagende Landesverband Nord des Verkehrsclubs VCD, die Stadt und die Bahn 2020 eine Verständigung. „Die Verhandlungen und die damit verbundene Denkpause haben sich gelohnt“, sagte damals Matthias Kurzeck, Bundesvorstandsmitglied des ökologisch orientierten VCD und lobte deutliche Verbesserungen. Luik hingegen glaubt, der VCD sei als „Vorfeldorganisation der Grünen“ stark unter Druck gesetzt worden. „Denn merkwürdigerweise unterstützen die Grünen das Projekt.“
In der Hansestadt gibt es ein breites Bündnis für die Verlagerung; bis auf die Linke stimmen alle Parteien dafür – auch Stefanie von Berg, die grüne Bezirksamtsleiterin von Altona steht „hundertprozentig“ hinter dem Umzug: „Für den Bahnverkehr wird das ein deutliches Plus und für das Quartier Diebsteich ohnehin.“ Hinzu kommt ein Argument, das in Hamburg immer verfängt: Auf dem Areal des alten Bahnhofs in Altona sollen 1.900 neue Wohnungen sowie ein Park entstehen. Luik hält dagegen: Man dürfe nicht den Wohnungsmangel gegen sinnvolle Verkehrspolitik ausspielen: „Ich finde es obszön, wie derzeit Bahngelände, das man für die ökologische Verkehrswende dringend braucht, für den Wohnungsbau nutzen will.“
Der Bahnhof Diebsteich soll Deutschlandtakt verwirklichen
Diebsteich soll eine wichtige Rolle im geplanten Deutschlandtakt spielen, der landesweit bis 2030 Zugverbindungen zwischen den Metropolen im Halbstundentakt verwirklichen soll. Der neue Fernbahnhof ermöglicht demnach, dass dort bis zu 380 Züge mehr pro Tag halten. Anders als in Altona können Reisende in Diebsteich zudem am gleichen Bahnsteig etwa in den Zug nach Sylt umsteigen. Der frühere parlamentarische Staatssekretär im Verkehrsministerium, Enak Ferlemann, verwies auf Auswirkungen weit über Hamburg hinaus und versprach im Sommer 2021 „Verbesserungen für Bahnreisende in ganz Deutschland“.
Für Bahn-Infrastrukturvorstand Ronald Pofalla ist Diebsteich ein „wichtiges Puzzlestück für den Deutschlandtakt“. Luik hält diesen Takt für eine Chimäre. „So lange nur 75 Prozent der Züge pünktlich sind und Zigtausende ausfallen, können sie den Deutschlandtakt in der Pfeife rauchen.“
Er fürchtet, dass sich die Kapazität des neuen Bahnhofs sogar verringern könnte. Zudem kritisiert er, dass die Gleise in Zukunft nur mit Rolltreppen oder Aufzügen erreichbar sind. „Die sinnvolle Alternative zum Auto muss kundenfreundlich sein, wie in Altona – diese neuen Bahnsteige in der Tiefe oder Höhe sind es nicht.“ Das Argument, der Durchgangsbahnhof sei besser passierbar als ein Kopfbahnhof, lässt der 66-Jährige ebenfalls nicht gelten. „Das Argument Geschwindigkeit, wenn es denn wirklich stimmt, ist relativ, es geht auch um Bequemlichkeit. Wirklich gut ist die Bahn nur in ihren Versprechungen – sie könnte sogar dem Papst ein Doppelbett andrehen.“
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Den Bürgern fehlt emotionale Beziehung zu dem Bau
Was bringe dem Bahnkunden mehr Geschwindigkeit, wenn er in Zukunft länger zum Zug benötige? „Hamburg hat heute drei Fernbahnhöfe – das ist großartig und kundenfreundlich. Wenn Diebsteich kommt, wird Dammtor seltener angefahren werden.“ Er verweist auf eine Studie des „Spiegels“, wonach sich der Zugang für über 350.000 Pendler, Reisende und Anwohner verschlechtere, für 43.000 Menschen eventuell verbessere. „Diebsteich ist eine unattraktive Alternative für Hamburg und kontraproduktiv für die Ziele einer starken Schiene.“ Man investiere 550 Millionen Euro, um die Bahn schlechter zu machen.
Den Autor wundert noch immer, warum in seiner Wahlheimat Hamburg das Projekt auf so wenig Widerstand stoße: „Vielen Bürgern scheint das Thema zu kompliziert zu sein“, sagt der gebürtige Königsbronner. Eine Erklärung könne der Bau selbst sein. „Es fehlt eine emotionale Beziehung zum Bahnhof Altona. Seit dem Abriss des prachtvollen Backsteinbaus in den 1970er-Jahren – übrigens gegen den Widerstand vieler Bürger – steht dort ein hässlicher Betonklotz, den man nicht lieben kann. Er ist auch deshalb hässlich, weil nötige Verschönerungen von der Bahn vernachlässigt worden sind.“ Hätte der alte neogotische Bau aus dem 19. Jahrhundert noch gestanden, wäre die Verlagerung viel schwerer durchzusetzen gewesen. Luik kritisiert auch den Entwurf für Diebsteich: „Der neue Bahnhof wird fast noch hässlicher als der alte.“
Eine weitere Baustelle wartet fünf Kilometer weiter östlich – am Hauptbahnhof. Gerade wurden die Sieger des städtebaulichen Wettbewerbs zur Erweiterung des Baus gekürt. Denn der Bahnhof platzt aus allen Nähten: Mit 550.000 Nutzern ist er der meistfrequentierte Bahnhof Europas hinter dem Pariser Gare du Nord. Und bis 2040, so kalkulieren Experten, soll das Passagieraufkommen weiter steigen. „Durch den Deutschlandtakt, die S 4 und die U 5 wird sich die Zahl der Menschen, die den Hauptbahnhof täglich nutzen, auf 750.000 Menschen in 20 Jahren erhöhen“, sagt der grüne Verkehrssenator Anjes Tjarks. Nun soll der Bahnhof nach Süden hin um eine große Halle über die Steintorbrücke hinaus erweitert werden. Zudem werden bis weit auf den Hachmannplatz die bestehenden Tonnendächer verlängert.
Die Ideen für den Hauptbahnhof lehnt Luik ab
„Neue Zugänge helfen kaum weiter“, kritisiert Luik die Ideen, die der Hamburger Senat als „großen Wurf“ feiert. „Nötig wäre eine Erweiterung der Gleisanlagen“, sagt der Journalist. „Das Gewusel auf dem Hamburger Hauptbahnhof erinnere heute schon an chinesische Straßenverhältnisse.“ Der Entwurf verbessere die Lage nicht. Ganz im Gegenteil: „Wenn weniger Züge Dammtor anfahren, werden die Fahrgäste vermehrt im Hauptbahnhof zusteigen.“ Der 66-Jährige wünscht sich für die Entlastung des Hauptbahnhofs eine Stärkung des Bahnhofs Altona. „Die Situation aber ist verkorkst. Ein Verkehrskonzept ist in Hamburg über Jahrzehnte vernachlässig worden.“
Luik, dem rhetorische Leisetreterei fremd ist, sieht das Problem in der Grundstruktur des Staatsunternehmens: Die Bahn erinnere mehr an einen Immobiliendealer denn an ein Verkehrsunternehmen. Sie baue Hochhäuser und Einkaufsmeilen, die Reisenden kaum weiterbrächten. „Die eigentliche Aufgabe ist die Schiene. Selbst in den großen Bahnhöfen gibt es keine Warteräume mehr, nur noch Lounges für die privilegierten Kunden.“
Aus Klimaschutzgründen sollte die Stadtbahn kommen
Der Bahnromantiker kritisiert noch einen weiteren verkehrspolitischen Irrweg: „Ich bin prinzipiell gegen Bauten im Untergrund. Der Mensch ist weder Rohrpost noch Maulwurf.“ Den Beweis könne man ständig in der U 3 beobachten: „Die Hamburger, die Touristen sowieso, blicken glücklich aus dem Fenster, wenn die Bahn aus dem Untergrund am Hafen in die Sonne, in die Freiheit fährt. An der Isestraße ist es genauso.“ Anwohnerbeschwerden sieht er nicht: „Ich wohne dort, man gewöhnt sich dran.“
Auch ökonomische Gründe sprächen gegen Züge im Untergrund. „Eine U-Bahn kostet das Acht- bis Zwölffache einer ebenerdigen Stadtbahn.“ Kritisch sieht Luik den Neubau der U 5 – sie soll Bramfeld und die Arenen verbinden und dicht bewohnte Stadtteile wie Steilshoop oder die Jarrestadt ebenso ans Netz anschließen wie die Universität. Die 20 Kilometer lange Strecke, deren Bau im Oktober begann, verläuft fast komplett unterirdisch und bekommt 20 neue Haltestellen.
„Wer Klimaschutz ernst meint, kommt an der Umwidmung von Straßen nicht vorbei“
Luik verweist darauf, dass man oberirdisch ein Vielfaches dafür hätte bauen können. „Das ist nicht nur ökonomisch, sondern auch ökologisch relevant: Die Klimabilanz zerbröselt, wenn Sie die Tunnelbauten betrachten: Ein Kilometer Bau setzt so viel CO2 frei wie 26.000 Autos, die 13.000 Kilometer im Jahr fahren.“ Beim Bau der U 5, sagt er, würden bis zu 10 Millionen Tonnen CO2 ausgestoßen – da sei jede Ökobilanz hinfällig.
Und noch einen Aspekt betont Luik: Bahnhöfe im Untergrund hält er für ungesund – durch den Brems-Abrieb und die mangelnde Lüftung würde sehr viel Feinstaub freigesetzt. Die Zukunft des Öffentlichen Nahverkehrs verlaufe oberirdisch: „Wo ein Wille ist, ist ein Weg. Wer Klimaschutz ernst meint, kommt an der Umwidmung von Straßen nicht vorbei. Schließlich war es auch möglich, die Straßenbahn in Hamburg herauszureißen.“ Das Autoland Deutschland habe den ÖPNV in der Vergangenheit in den Untergrund verdrängt.
Luik streitet für ein Ende des Hochgeschwindigkeitswahns
„Vor zehn Jahren haben die Grünen für die Stadtbahn gestritten, die viele Probleme gelöst hätte. Das ist ein wunderbares Konzept, das heute viele begeistern würde.“ Kopenhagen, Wien, aber auch Paris zeigten, was möglich ist. „Hamburg versteht sich doch als Tor zur Welt – warum werden wir nicht Modellstadt für ökonomisch und ökologische rationale Verkehrspolitik?“, fragt er.
Luik streitet für einen grundsätzlichen Wandel im Denken, eine Abkehr vom Drang in die Tiefe und ins Dunkel, ein Ende des Hochgeschwindigkeitswahns. Und noch etwas sei für eine gelingende Verkehrswende unerlässlich: „Ich würde mir wünschen, dass sämtliche Politiker ihre beruflichen Termine mit öffentlichen Verkehrsmitteln wahrnehmen. Meine Wette: Der heute so erbärmliche Zustand von Bahn und ÖPNV – vor allem auf dem Land – würde sich ganz rasch verbessern.“