Hamburg. Vom unbegleiteten Flüchtling zum Elektrotechniker und Feuerwehrmann: Der junge Syrer hat sich in seinem neuen Zuhause gut eingelebt.
Im September 2015 kam Yassin Al Mesreb als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling aus Syrien in Hamburg an, wo ihm ein Platz in einer Unterkunft zugeteilt wurde.
Sechs Jahre und ein paar Monate später öffnet der mittlerweile 22-Jährige die Haustür. Ein offener, freundlicher Blick, ein sympathisches Lächeln. „Nett Sie kennenzulernen, wollen Sie Ihren Mantel aufhängen?“ Im Wohnzimmer wartet Elisabeth Budczies, bei der Yassin lebt. Soll man sie nun als Pflegemutter bezeichnen, als Vormund, als Erziehungsberechtigte? Egal. Die beiden reden wie Mutter und Sohn miteinander, er nennt sie Lili. Elisabeth ist eine Frau mit starker Ausstrahlung: warmherzig und zugleich energisch, lustig und durchsetzungsfähig.
Integration: So wurde Hamburg Yassin Al Mesrebs neues Zuhause
Im Jahr 2015 war sie mit dem Schicksal der Geflüchteten in Hamburg vertrauter geworden, vor allem über das Projekt Kids Welcome. Schließlich wurde ihr klar, dass sie dazu bereit war, einem von ihnen eine Chance im fremden Land zu bieten, ihm sogar eine neue Bleibe zu geben. Offen berichtet sie, dass ihr dabei mit der Zeit ziemlich mulmig wurde. „Ein völlig Fremder im Haus, das hätte ja auch schiefgehen können“, erzählt sie, und: „Bekannte sagten, ,na toll, pack mal lieber deine Wertsachen weg‘.“
Schließlich habe sie dann erst mal nur eine möblierte Vermietung angeboten, sagt Elisabeth sachlich, denn so etwas lasse sich ja noch am leichtesten wieder auflösen. Diese Vorsichtsmaßnahmen sind ihr heute fast unangenehm, auch wenn Yassin zu ihren Ausführungen verständnisvoll nickt. „Man sollte nicht so tun, als ob das alles immer total leicht war“, sagt sie, „und vieles sind eben auch Lernprozesse für beide Seiten.“
„Yassin ist für uns wie ein Sechser im Lotto“
Yassins Geschichte ist auch eine Geschichte von Weichenstellungen. Die erste hängt mit seiner Erziehung zusammen: Sein Vater habe ihm immer gesagt, dass er in die Welt hinausgehen und Sprachen lernen solle, dass er aufgeschlossen sein müsse für andere Menschen und Kulturen. Yassin, sportlich und gut gekleidet, hat das verinnerlicht, seine Geschwister weniger. Als die Flüchtlingsunterkunft 2016 aufgelöst wurde, stand der Junge vor einer Wahl, die vereinfacht beschrieben so aussah: in eine Jugendwohnung ziehen oder „privat“ in einem Hamburger Haushalt leben.
„Die Wohnungsidee fand ich nicht gut“, sagt er rückblickend. „Für mich hätte das bedeutet, mit meinen Kumpels herumzuhängen und weiter den ganzen Tag arabisch zu sprechen. Das wollte ich nicht.“ Ende 2016 ging es los: Yassin zog zu Elisabeth in eine gemischte Wohngemeinschaft, zu der damals auch Freund Volker, Patentochter Paula, ein Riesenschnauzer und ein Pinscher gehörten.
Weichenstellung Nummer zwei: Mit Elisabeth fand sich eine Ansprechpartnerin, die schnell zu einer Vertrauten wurde. Die Chemie stimmte. „Es passte einfach“, sagt Elisabeth. Und auch: „Yassin ist für mich und unseren Freundeskreis wie ein Sechser im Lotto.“ „Sehe ich auch so“, erklärt Yassin kategorisch.
Erfolgreiche Unterstützung bei der Berufsplanung
Elisabeths Verantwortungsgefühl für Yassin ist mit der Zeit nicht abgeflaut, und es wurde ihr nie zu mühsam, die bei vielen Freiheiten relativ engmaschige Betreuung aufrechtzuerhalten. Dass er Sport macht, in der Schule dranbleibt, Freunde findet – „da hatte ich schon ein Auge drauf“. Ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Integration, der erstaunt, obwohl er eigentlich ganz unspektakulär war: Elisabeth meldete Yassin bei der Freiwilligen Feuerwehr Groß Flottbek an. Dort bestand er die Prüfung zum Truppmann, fasste schnell Tritt und fand in der motivierten Gruppe Freunde, die eben auch Kameraden sind. Lernprozesse auch hier. Ein kleines Beispiel: Dass jemand keinen Alkohol trinkt und kein Schweinefleisch isst, erstaunte zunächst. „Wenn ich heute zum Grillen komme, sagt immer gleich einer ,Hey Jassin, dein Stück Pute ist gleich fertig‘.“
Als es Zeit für die Berufsplanung wurde, setzten sich Elisabeth und Yassin zusammen, studierten Anforderungsprofile und Gehaltstabellen. Eigentlich wollte Yassin, der schon immer gerne gebastelt und viel von Technik verstanden hat, Automechaniker werden. Elisabeth überzeugte ihn schließlich, einen anderen Weg einzuschlagen, und er machte eine Ausbildung zum Elektroniker für Energie- und Gebäudetechnik bei der Firma Wilbrandt. Seine Prüfungen waren im Dezember, das Ergebnis gibt es Ende Januar.
„Klar, dass man das Land kennenlernen möchte, in dem man lebt“
Alles sieht gut aus – die Firma ist bereit, den dann geprüften Gesellen zu übernehmen. Wieder eine Chance. Auch die Urlaube gestaltete Elisabeth interessant und abwechslungsreich. Dass er auf dem Walchensee gerudert ist, bayerische Trachten an- und Skilaufen ausprobiert hat, findet der junge Mann aus Syrien keineswegs verblüffend. „Klar, dass man das Land gut kennenlernen möchte, in dem man lebt“, sagt er dazu. Wie schwer war es, die deutsche Sprache zu lernen, die er inzwischen fließend beherrscht? Antwort Yassin: „Nicht schwer. Nichts ist schwer, wenn man es wirklich will.“
Auch dunkle Zeiten gab es. Nachdem sich die politische Krise in Yassins Heimatstadt Ar-Rakka dramatisch zugespitzt hatte, hörte er von seinen Eltern monatelang nichts mehr. Schließlich rief ihn eine Tante auf dem Handy an, als er gerade im Bus saß. „Eine Frau beschwerte sich dann auch noch, dass ich so laut telefoniere“, erzählt er grinsend, „aber das haben wir dann geklärt.“ Am Anfang habe Yassin mit dem hiesigen Rechtssystem wenig bis gar nichts anfangen können, so Elisabeth. Selbstjustiz und Faustrecht seien für ihn normal gewesen. Heute ist sie sicher: „Er vertraut dem deutschen Rechtsstaat und darauf, dass es Gerechtigkeit für jeden gibt.“
Wenn man Chancen nutzen will, müssen sie erst mal geboten werden
In Zeiten, in denen viel gejammert wird und Tugenden wie Pünktlichkeit und Disziplin längst nicht mehr überall als solche gesehen werden, tut es gut, Yassins Sichtweise auf das Land zu hören, das seine neue Heimat geworden ist. Dass er als Berufstätiger relativ hohe Steuern bezahlen wird, findet er „in Ordnung“. Seinem Bruder hat er das kürzlich beim Skypen so erklärt: „Was glaubst du denn, woher die schönen und sauberen Straßen hier kommen und wovon zum Beispiel wir Geflohenen unterstützt werden?“ Elisabeth steuert eine amüsante Anekdote bei: „Ein syrischer Kumpel hier in Hamburg sagte ihm kürzlich: ,Yassin, wir können nicht nach Syrien zurück, da fährt ja kein Bus pünktlich.‘“
Diese ganze heile Welt-Schilderung wirkt manchmal fast wie aus dem Bilderbuch, und einige Portionen Glück waren natürlich auch im Spiel. Das Haus, in dem Yassin wohnt, ist geräumig, die Gegend behütet, das soziale Netzwerk groß und stabil. „Uns ist schon klar, dass wir es sehr gut haben“, sagt Elisabeth, „das wurde uns besonders während der Pandemie deutlich. Man kann sich auch mal aus dem Weg gehen, und es gibt einen Garten.“ Auch die Nachbarn seien nett und für Yassin aufgeschlossen. Einer älteren Frau hat er gerade die Waschmaschine repariert, andere bieten an, „der Zeitung“ bei Bedarf Positives über den 22-Jährigen zu berichten.
Yassins Geschichte mag nicht typisch sein, aber warum davon ausgehen, dass sie untypisch ist? Wahr ist: Yassin hat seine Chancen genutzt und ist mit Unterstützung wohlmeinender Menschen „am Ball geblieben“, wie man so sagt. Wahr ist aber auch: Wenn man Chancen nutzen will, müssen sie einem erst mal geboten werden.