Hamburg. Die Pandemie wird Deutschland auch 2022 prägen – und internationale Krisen die Politik beschäftigen. Worauf wir uns einstellen müssen.

Wird’s besser? Wird’s schlimmer?

Fragt man alljährlich.

Seien wir ehrlich:

Leben ist immer lebensgefährlich.

Erich Kästner kannte Corona nicht – aber das Leben. Sein in diesen Tagen oft zitierter Satz hat nichts an Weisheit eingebüßt. Jede Vorhersage dessen, was im neuen Jahr ansteht, ist Spökenkiekerei. Aber eine unterhaltsame, sonst hätten wir nicht jahrzehntelang Blei gegossen. Und manchmal hilft der Blick zurück beim Blick nach vorn, weil sich mit den Ableitungen aus der Vergangenheit durchaus Trends für die Zukunft abzeichnen. Was also bringt 2022? Eine Annäherung.

Corona: Die Entwicklungen in Deutschland

Eine Pandemie, das wissen wir seit nunmehr zwei Jahren, ist eigentlich nicht vorhersehbar. Zunächst hielten wir den Ausbruch in China für ungefährlich, dann wähnten wir uns im Frühjahr 2020 am Rande des Weltuntergangs. Einem unbeschwerten Sommer folgten eine zweite und eine dritte Welle. Im Sommer 2021 hielten wir die Pandemie nicht zuletzt wegen der Impfungen für besiegt, bevor die vierte Welle zuschlug. Erst fürchteten wir Alpha, dann Delta und nun Omikron.

Es ist für den Menschen immer schwierig gewesen, sich exponentielle Verläufe überhaupt vorzustellen. Doch auch Mathematiker lagen mit ihren Prognosen oft daneben, weil sie extrapoliert haben, also den Trend einfach in die Zukunft fortgeschrieben haben. Doch Menschen ändern ihr Verhalten. Und die Virusmutationen machen Vorhersagen fast unmöglich – eine Variante, die sich noch leichter überträgt und gefährlicher ist, wäre der Super-GAU. Eine Variante, die sich abschwächt, hingegen könnte den Weg aus der Pandemie weisen.

Die Omikron-Variante ist vielleicht beides – weil sie aber im Winter viele Menschen infizieren wird, werden die Monate bis Ostern nicht einfach werden. Das Expertenpapier zeigt, dass Deutschlands Infrastruktur vor einem echten Stresstest steht, wenn viele Menschen zeitgleich krank werden oder in Quarantäne müssen. Bis Ostern - so steht zu befürchten – könnte das Land zumindest regional mehrmals oder dauerhaft heruntergefahren werden. So könnte der Winter 2022 dem Winter 2021 ähneln – wahrscheinlich nur ohne monatelange Schulschließungen.

Zugleich aber spricht manches dafür, dass diese Omikron-Welle die letzte ist, die unser Land lähmen wird. Die Virologin Isabella Eckerle twitterte, dass Omikron „das ,Ticket‘ in die endemische Situation werden“ könne. Das Virus wäre dauerhaft „heimisch“ geworden, das Immunsystem der Menschen wäre mit dem Virus in Kontakt gekommen, die Erkrankungen wären meist nur noch milde. Die Gewöhnung der Gesellschaft wird dazu führen, dass wir mit dem Virus zu leben lernen. Viel bleibt uns auch nicht übrig: Gerade die jüngeren, weniger anfälligen Generationen werden ihr Recht auf ein „normales Leben“ lautstärker einfordern. Hinzu kommt, dass der ökonomische Druck zunehmen wird, auf zu rigide Beschränkungen zu verzichten. Die Einhegungspolitik war effizient, aber auch sehr teuer. Man wird eine Ökonomie nicht auf Dauer mit Steuergeldern am Leben halten können.

Vielleicht wird das so schwer kritisierte Schweden am Ende den Weg weisen – das Konzept „Freiheit in Selbstverantwortung“ könnte auf der Langstrecke einer Pandemie erfolgreicher sein als ein Staat, der mit Hammer und Tanz, mit Lockdown und Lockerung, das Virus kleinzuhalten versucht.

Wie die Wirtschaft sich erholt

2022 sollte eigentlich alles besser werden – doch davon ist in den letzten Tagen des Jahres 2021 nicht mehr viel zu spüren. Die vierte Corona-Welle, Omi­kron und die Lieferengpässe, die die deutschen Herzkammern Auto und Maschinenbau treffen, haben sämtliche Blütenträume zunichtegemacht. Mit einem Plus von rund 2,6 Prozent ist die Bundesrepublik 2021 nur halb so schnell gewachsen wie der Euro-Raum. Deutschland ist Schlusslicht in Europa.

Und der Aufholprozess dürfte sich um mehrere Monate nach hinten verschieben. Der Präsident des Maschinenbauverbandes VDMA fürchtet, dass die Materialengpässe mindestens bis ins zweite Halbjahr 2022 anhalten. So kann die eigentlich gute Auftragslage nur langsam abgearbeitet werden. Das IfW Kiel rechnet für 2022 nur noch mit einem Wachstum von vier Prozent statt wie zunächst erwartet um 5,1 Prozent. Das Münchner ifo-Institut stutzte seine Wachstumserwartung sogar auf 3,7 Prozent zurück. Und in diesen Prognosen sind Lockdown-Maßnahmen noch nicht einmal enthalten.

Beide Institute fürchten zudem, dass trotz des schwächeren Wachstums die Inflation hoch bleibt. Mit den Preisen dürfte es 2022 mit drei bis 3,3 Prozent (bislang 2,3) steiler nach oben gehen als befürchtet. Hier schlagen die Kosten der Lieferengpässe und gestiegenen Energie- und Rohstoffpreise durch. Damit könnten mittelfristig Zinserhöhungen ins Haus stehen. Worauf Banken und Sparer hoffen, fürchtet die Politik: Jeder Zinsschritt könnte die Schuldenkrise in Europa wieder anheizen, die die Europäische Zentralbank in den vergangenen Jahren durch die Ausweitung der Geldbasis nicht gelöst, sondern nur überdeckt hat.

Unklar bleibt zudem, wie sich die Pandemie in den kommenden Monaten entwickeln wird – und welche Regionen sie trifft. Dabei trifft das Virus die Volkswirtschaften nicht mehr so hart wie in den zurückliegenden Monaten. „Die ökonomischen Folgen der Pandemie sind weiterhin empfindlich, aber sie nehmen von Welle zu Welle ab“, sagt der Konjunkturchef und Vizepräsident des IfW Kiel, Stefan Kooths.

Politik: Neue Krisen, neue Aufgaben

Die Konjunkturdaten sind auch für die neue Ampelkoalition in Berlin relevant – denn ein verzögertes Wachstum reißt erhebliche Löcher in den Haushalt. So dürfte sich das Defizit im Staatshaushalt 2022 von 162 Milliarden Euro 2021 auf 80 Milliarden nur halbieren, erwartet das ifo-Institut. Das Minus engt die wirtschaftliche Bewegungsfreiheit ein. Gerade für die FDP mit Finanzminister Christian Lindner sind das schlechte Nachrichten – offenbar hat die Union die Liberalen als Hauptgegner ausgemacht. Die Normenkontrollklage gegen Lindners Nachtragshaushalt in Karlsruhe klingt schon wie eine Kampfansage. Und der neue CDU-Chef Friedrich Merz wird die FDP in ihrer Kernkompetenz Wirtschaft und Finanzen Wähler streitig machen.

Strategisch ist das vernünftig: Die Union hat zuletzt erheblich an die Liberalen verloren. Da in Deutschland inzwischen Dreierbündnisse eher die Regel denn die Ausnahme werden, wird es für die CDU/CSU noch wichtiger, als stärkste Partei ins Ziel zu gehen. Die alte Leihstimmenlogik gilt nicht mehr. Bei der Bundestagswahl fehlten der Union am Ende 1,6 Prozentpunkte zu Platz 1 – und der Chance, den Kanzler zu stellen.

Olaf Scholz –  nach dem Honeymoon folgen die Mühen.
Olaf Scholz – nach dem Honeymoon folgen die Mühen. © AFP | JOHANNA GERON

Gleich vier Landtagswahlen stehen 2022 an – und hier kann die Union in drei Ländern nur verlieren. Denn im Saarland (27. März), Schleswig-Holstein (8. Mai) und Nordrhein-Westfalen (15. Mai) stellt sie den Ministerpräsidenten, in Niedersachsen (9. Oktober) ist sie Juniorpartner unter Stephan Weil. Alle Bundesländer gelten als Swing States, die in der Vergangenheit wechselnde Regierungen hatten. Auf der einen Seite setzen die Ministerpräsidenten auf einen Amtsbonus, auf der anderen liegt das Momentum derzeit eindeutig bei den Sozialdemokraten. Sie führen in Umfragen im Saarland (33:28), in Schleswig-Holstein (28:21), in Nordrhein-Westfalen (31:22) und Niedersachsen (36:23) deutlich vor den Christdemokraten.

Gerade die letzten Wahlen in diesen Ländern zeigen einen interessanten Trend: Kurz vor der Bundestagswahl hatte der „Schulz-Zug“ im März 2017 Fahrt aufgenommen, im Saarland war ein Sieg fest eingeplant. Anfang des Monats lagen SPD und Union damals gleichauf – bei der Wahl gewann CDU-Amtsinhaber Tobias Hans dann mit 40,7 Prozent und elf Prozentpunkten Vorsprung. Wird Hans noch einmal zum Hoffnungsträger der Union?

Nach seiner Wahl vor fünf Jahren kippte Schleswig-Holstein, wo der SPD-Ministerpräsident Torsten Albig im März zeitweise sechs Prozentpunkte vor seinem Herausforderer Daniel Günther lag und eine fast arrogante Siegeszuversicht ausstrahlte. Bei der Landtagswahl am 7. Mai landete Günther plötzlich fünf Prozentpunkte vor dem Amtsinhaber. Eine Woche später fiel auch die vermeintliche SPD-Hochburg Nordrhein-Westfalen. Ministerpräsidentin Hannelore Kraft verspielte einen komfortablen Vorsprung, der im März bis zu 14 Prozentpunkte betrug, und ging hinter Armin Laschet als erste Verliererin ins Ziel. Binnen weniger Wochen war die Stimmung im Land komplett auf rechts gedreht.

Niedersachsen hingegen bekam erst drei Wochen nach der Bundestagswahl im Oktober 2017 einen neuen Ministerpräsidenten – auch hier überraschte das Ergebnis. Stephan Weil gelang der erste Sieg der kriselnden Sozialdemokratie nach langer Zeit. Einer der Gründe: Die Deutschen lieben ein Machtgleichgewicht. Wer im Bund regiert, verliert häufig in den Ländern. Daraus könnte die Union Hoffnung schöpfen. Zudem mag sie darauf spekulieren, dass der so oft beschworene Zauber, der jedem Anfang innewohnt, meist rasch verfliegt, so auch in Berlin.

Der Honeymoon der Ampelparteien wird nicht ewig währen, und Anfängerfehler gehören zu einem Regierungsstart dazu wie der Nieselregen zu Hamburg. Allerdings ist das Bündnis so breit, dass die alten Muster hier versagen könnten. Möglicherweise wenden sich unzufriedene Sozialdemokraten zunächst den Grünen oder der FDP zu, bevor sie ins Oppositionslager überlaufen. Der Ausgang der vier Landtagswahlen ist offen.

Immerhin auf den Ausgang eines Urnenganges aber darf man wetten: Die Bundesversammlung wird Frank-Walter Steinmeier im Februar für eine zweite Amtszeit wählen.

Ein Blick auf die Weltlage

Das „Ende der Geschichte“ riefen vorwitzige Politikwissenschaftler nach dem Fall der Mauer aus. Inzwischen ahnen wir, die Geschichte geht gerade erst los. Eine neue Unübersichtlichkeit regiert auf fast allen Kontinenten. In Brasilien soll im Oktober gewählt werden – allerdings steht zu befürchten, dass der rechtsextreme Präsident und Trump-Jünger Jair Bolsonaro im Falle einer Niederlage nicht so einfach von der Macht lassen wird. Zugleich hat der ehemalige linke Präsident Luiz Inácio Lula da Silva sich bereiterklärt, ebenfalls zu kandidieren. Das Land mit seinen 212 Millionen Einwohnern hat extrem unter Corona gelitten, kaum ein Staat der Welt ist so polarisiert. Brasilien steht vor schweren Zeiten.

Ein gefährlicher Konfliktherd droht im Osten Europas. An der russisch-ukrainischen Grenze könnte der schwelende Konflikt eskalieren, Russlands Präsident Wladimir Putin hat Truppen zusammengezogen. Manche Beobachter fürchten eine Invasion im Winter – im Januar oder Februar – und eine Annexion der Ostukraine. Andere Experten setzen darauf, dass der durchaus rational agierende Putin nur hoch pokert.

Was plant Russlands Präsident Putin in der Ostukraine?
Was plant Russlands Präsident Putin in der Ostukraine? © AFP | Mikhail Metzel

Eine permanente Zuspitzung zeichnet sich auch im Südchinesischen Meer ab. Die Aggressionen Chinas gegenüber der als abtrünnig wahrgenommenen Provinz Taiwan haben zugenommen - immer wieder provoziert Peking mit Kampfflugzeugen, die in den taiwanesischen Luftraum eindringen. Militärexperten hoffen, dass der Volksrepublik noch die militärischen Mittel fehlen, die schwer einzunehmende Insel schnell zu erobern.

Und: dass China um seine Schwäche weiß. Unabhängig vom Taiwan-Konflikt tritt die Volksrepublik immer selbstbewusster auf – die alte ökonomische Welt, die China als Werkbank des Westens wahrgenommen hat, verliert an Gültigkeit. Längst ist die Volksrepublik nicht nur Herausforderer, sondern Marktführer in vielen Zukunftstechnologien. Und die ökonomische Abhängigkeit gerade der deutschen Automobilindustrie ist so groß geworden, dass die politische Bewegungsfreiheit schwindet.

Auch in der Europäischen Union droht Ungemach: Im April stehen die beiden Wahlgänge der Präsidentschaftswahlen in Frankreich an. Gleich mehrere Kandidaten der extremen Ränder machen mobil: Éric Zemmour und Marine Le Pen von rechts, Jean-Luc Mélenchon von links. Trotzdem geht Emmanuel Macron bei einer erneuten Kandidatur als Favorit ins Rennen. Seinen Wahlsieg dürften fast alle europäischen Regierungschefs in ihr Abendgebet aufnehmen.

Im neuen Jahr lässt der Sport hoffen

Gibt es denn gar keine guten Nachrichten, die uns das Jahr 2022 verschönern? Immerhin lässt der Sport hoffen. Gleich zwei Hamburger Fußballclubs schicken sich an, ab Sommer nicht nur erstklassig, sondern auch in der 1. Klasse zu spielen. Herbstmeister FC St. Pauli darf mit einer Wahrscheinlichkeit von 69 Prozent mit dem Aufstieg rechnen. Von den 39 Herbstmeistern der eingleisigen 2. Bundesliga stiegen 27 am Saisonende ins Oberhaus auf.

Die wichtigsten Corona-Themen im Überblick

Allerdings trübte sich das Bild zuletzt ein – von den letzten fünf Herbstmeistern schaffte nur Arminia Bielefeld 2019/20 den Aufstieg. Eintracht Braunschweig (2016/17) wie Holstein Kiel (2017/18) scheiterte in der Relegation. Dem HSV gelang 2018/19 und 2020/21 gleich zweimal das Kunststück, noch auf Rang 4 abzurutschen. Aber vielleicht hat der HSV gelernt – und spielt endlich mal eine gute Rückrunde. Und am Ende steigen sogar zwei Hamburger Teams auf!?

Die WM in Katar findet vom 21. November bis zum 18. Dezember statt. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass die deutsche Elf weiter kommt als 2018. Damals scheiterte der amtierende Weltmeister in der Vorrunde noch an sich selbst. Mit dem neuen Trainer Hansi Flick, der der Mannschaft neues Leben eingehaucht hat, dürfte das nicht passieren. Mein Tipp: Es geht mindestens ins Viertelfinale.