Hamburg. Verkehrssenator Tjarks über Baustellen, Radwege, Car-Sharing - und sein Rezept gegen die wachsende Wut vieler Hamburger.

Er will mit aller Macht die Mobilitätswende in Hamburg schaffen – Radverkehr und HVV stärken und den Autoverkehr zurückdrängen. Schon das bringt dem grünen Verkehrssenator Anjes Tjarks von mancher Seite Kritik ein. Nun hat er kürzlich darauf hingewiesen, dass die Hamburger Infrastruktur in den kommenden Jahren an vielen zentralen Stellen erneuert werden muss – und dies über lange Zeit zu großen Behinderungen führen wird.

Die Folge war noch wütendere Kritik. Im Abendblatt-Interview erläutert Tjarks, was auf Hamburg zukommt, er lobt die Baustellenkoordinierung, spricht über neue Formen von Radwegen – und ein Mittel gegen die große Wut, die es bei vielen Verkehrsteilnehmern immer wieder gibt.

Herr Senator, wie viele Straßenbaustellen gibt es derzeit in Hamburg?

Anjes Tjarks: Zuletzt waren es rund 700, aber das ändert sich täglich.

Warum wird vor allem gebaut? Geht es meistens um Sanierung oder mehr um den Neubau, etwa von Radwegen?

Anjes Tjarks: Es gibt viele Gründe. Die Verlegungen oder Erneuerungen von Wasser-, Gas-, Fernwärme-, Stromnetz oder Datenleitungen machen mit ungefähr 28 Prozent den größten Teil der Baustellen aus, hinzu kommen Verkehrsmaßnahmen. Wir haben 2020 beispielsweise 194 Kilometer Straße saniert und 62 Kilometer Radwege saniert oder neu gebaut.

Sie haben angekündigt, Hamburg werde wegen Infrastruktursanierungen noch jahrelang im Stau stehen. Wie kann man sich als Verkehrssenator damit zufrieden geben?

Anjes Tjarks: Das habe ich nicht gesagt. Ich habe bei einer Rede im Überseeclub dargestellt, wie viel wir derzeit und in den kommenden Jahren sanieren und erneuern müssen. Fest steht: Wir müssen an den Autobahnen A 1 und A 7 arbeiten, hinzu kommen insbesondere die Elbbrücken in Hamburgs Mitte. Viele Siele sind mehr als 100 Jahre alt und müssen weiter an vielen Stellen der Stadt erneuert werden. 28 Bahnbrücken in Hamburg müssen ersetzt, 42 saniert und der Hauptbahnhof muss erweitert werden. Natürlich ist es dabei unsere Aufgabe, auch über die Baustellenkoordination die Einschränkungen so gering wie möglich zu halten. Es ist aber ein Gebot von Transparenz und Ehrlichkeit zu sagen, dass diese großen Aufgaben nicht ohne Behinderungen für den Verkehr zu bewältigen sind.

Das ehrt Sie. Aber ist es nicht ein Verschulden der Politik, dass die Infrastruktur so marode ist, dass nun alles gleichzeitig erneuert werden muss – und die Stadt dadurch fast lahmgelegt wird?

Anjes Tjarks: Richtig ist, dass zum Beispiel der Bund seit der Bahnreform 1994 lange nicht genug auf die Pflege der Infrastruktur geachtet hat und eine Ausweitung der Angebote nicht auf der Agenda stand. Hinzu kommt: Viele Brücken oder Straßen halten nicht so lange, wie es bei ihrem Bau vorgesehen war. Das liegt schlicht daran, dass der Verkehr stärker zugenommen hat als erwartet. Die Stadt wird aber durch die Arbeiten nicht „lahmgelegt“, sie wird an vielen Stellen modernisiert, saniert und an die wachsende Einwohnerzahl angepasst. Das ist auch dringend nötig.

Viele Menschen haben allerdings den Eindruck, dass die Baustellen in Hamburg nicht optimal koordiniert werden. Kaum umfährt man die eine, steht man vor der nächsten.

Anjes Tjarks: Die Baustellen werden bei uns sehr gut koordiniert – zwischen allen Beteiligten, also den Versorgern für Wasser, Strom, Wärme und Gas, und denjenigen, die Straßen oder Wege bauen oder erneuern. Das ist mir auch wichtig, denn ich bin eben auch Infrastruktursenator. Manche Arbeiten aber lassen sich nicht aufschieben – auch aus Sicherheitsgründen. In Wiesbaden ist diesen Sommer die Salzbachtalbrücke eingesackt. Nur weil dort noch ein weiterer Pfeiler stand, wurde Schlimmeres vermieden. Im November musste die Brücke dann gesprengt werden. Bevor Brücken nicht mehr sicher werden, muss man sie sanieren oder erneuern. Das kann man nur bedingt verändern, um Einschränkungen zu vermeiden. Für eine Stadt, die von zwei großen Flüssen durchquert wird und die stark wächst, sind die Einschränkungen in Hamburg noch vertretbar. Wir liegen bei den Staus nach großen Erhebungen im guten Mittelfeld vergleichbarer europäischer Städte.

Was ist die größte Herausforderung in den kommenden Jahren?

Anjes Tjarks: Neben der Sanierung der A 7 und A 1 sind die Elbbrücken in der Mitte Hamburgs die mit Abstand größte Herausforderung in den kommenden 20 Jahren. Es war ein sehr großer Erfolg, dass Bund und Bahn jetzt nicht nur die Sanierung der bestehenden Elbbrücken planen, sondern auch den Neubau einer weiteren Eisenbahnbrücke über die Norderelbe prüfen. Daneben soll auch noch die U 4 die Elbe queren und die Freihafenelbbrücke saniert werden. Das ist sehr komplex, aber für Hamburgs Verkehr essenziell.

Die Erweiterung des Hauptbahnhofs steht auch an ...

Anjes Tjarks: Ja, das ist auch eine große Aufgabe – und im Grunde seit Jahrzehnten überfällig. Im Dezember werden wir voraussichtlich den ersten städtebaulichen Entwurf präsentieren. Das Volumen des Bahnhofs muss dringend erweitert werden, um noch mehr Fahrgäste und Züge aufnehmen zu können.

Weniger Staus soll es auch durch die Mobilitätswende hin zu Bus und Bahn, Rad und Zufußgehen geben. Das scheint allerdings bisher nicht so gut zu klappen. Die Zahl der Pkw wächst in Hamburg seit Jahren, zuletzt sogar schneller als die der Einwohner.

Anjes Tjarks: Das stimmt leider. Es stimmt aber auch, dass immer weniger Menschen das Auto für Fahrten in der Stadt benutzen. Das zeigen unsere Zahlen sehr deutlich.

Allerdings gibt es offenbar das Bedürfnis, ein Auto zu besitzen. Und Autos benötigen viel Platz und sind auch in der Produktion klimaschädlich. Wie wollen Sie gegensteuern?

Anjes Tjarks: Wir können und wollen niemandem verbieten, sich ein Auto zu kaufen. Wir leben in einem freien Land. Wir können aber die Angebote des ÖPNV ausweiten und sie so gut machen, dass die Menschen irgendwann merken, dass sie kein eigenes Auto mehr brauchen. Und das tun wir.

Davon wird seit Jahren gesprochen – bisher hat das keinen Effekt.

Anjes Tjarks: Deswegen intensiviert der Senat die Bemühungen hier ja auch deutlich. Wir bauen den ÖPNV massiv mit neuen Bahn- und Busstrecken aus, wir erproben den Shuttleservice IOKI, der Menschen von zu Hause zu HVV-Konditionen zu einer S-Bahn-Haltestelle fährt. Moia testet den Betrieb sehr erfolgreich in Hamburg. Und Carsharing-Dienste bieten Autos zu guten Konditionen, wenn man doch einmal eins benötigt.

Leider gibt es die aber meist nicht in äußeren Stadtteilen, wo sie wichtig wären. In Ottensen und Eimsbüttel gibt es genug andere Möglichkeiten, sich fortzubewegen.

Anjes Tjarks: Wir können die Sharing-Anbieter nicht zwingen, überall anzubieten, aber wir stehen in Gesprächen auch über die Ausweitung der Versorgungsgebiete. Zugleich testen wir eine weitere Möglichkeit, das Angebot auszuweiten: den vollelektrischen Telefahrdienst Vay. Hier sind wir mit dem Berliner Start-up übereingekommen, den Betrieb 2022 in der äußeren Stadt, in Bergedorf, zu starten. Der zweite Bezirk soll Harburg sein. Perspektivisch soll Vay darüber hinaus in die HVV Switch App integriert werden.

Was genau macht Vay?

Anjes Tjarks: Das ist ein Sharing-Dienst, der das Fahrzeug fahrerlos zu Ihnen nach Hause bringt. Die Fahrzeuge werden von Menschen ferngesteuert. Manchmal ist es ja so, dass Sie gerne ein Carsharing-Fahrzeug nehmen würden, ein Blick auf die App aber zeigt, dass es einen Kilometer entfernt steht und das ist Ihnen dann zu weit zu laufen. Bei Vay bestellen Sie den Wagen, und er kommt von ferne gesteuert zu Ihnen gefahren, Sie steigen ein und fahren dann selbst. Das hat auch den Vorteil, dass das Unternehmen äußere Gebiete bedienen kann. Wenn jemand das Fahrzeug etwa in Neugraben abstellt, kann es ohne Fahrer im Auto wieder näher ins Kerngebiet gefahren werden.

Spannend. Am wichtigsten für die Verkehrswende bleibt aber der Öffentliche Personennahverkehr. Wegen Corona sind die HVV-Fahrgastzahlen stark eingebrochen. Fürchten Sie, dass das so bleibt?

Anjes Tjarks: Die Pandemie hat ja insgesamt zu weniger Verkehr geführt, auch beim HVV. Ich fürchte, dass es eine Weile dauert, bis sich der ÖPNV vollständig erholt. Aber langfristig bin ich optimistisch. Das Verkehrsaufkommen ist in Hamburg massiv gewachsen – von etwa 50 auf 70 Millionen Personenkilometern allein zwischen 2008 und 2017. Das heißt: Immer mehr Menschen bewegen sich immer häufiger durch die Stadt – aber auf gleichbleibender Fläche. Wenn wir aber immer mehr Verkehr auf derselben Fläche bewältigen wollen, muss jeder Einzelne weniger Verkehrsfläche nutzen, sonst funktioniert es nicht. Die meiste Fläche verbraucht ein Auto, in dem im Schnitt nur 1,3 Menschen sitzen. Das bedeutet: Nur wenn weniger Auto gefahren wird, können wir den Verkehr gut organisieren. Das hat nichts mit Ideologie zu tun, sondern mit Mathematik. Das zeigen übrigens auch die Staudaten: Städte wie Wien oder Barcelona, die die Mobilitätswende energisch vorantreiben, haben die wenigsten Verkehrsbehinderungen. Die Mobilitätswende ist also ein zentraler Schlüssel für besseren Verkehrsfluss.

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Wenn Sie mehr Menschen für den HVV gewinnen wollen, warum erhöhen Sie dann unentwegt die Preise? Der HVV gilt als einer der teuersten Verkehrsverbünde.

Anjes Tjarks: Wir haben die Angebote für Senioren verbessert und für Azubis sowie Schülerinnen und Schüler die Preise gesenkt. Langfristig sollen Schülerkarten kostenlos sein. Es gibt deutliche Rabatte für das Buchen über die App. Und das Angebot wird immer weiter ausgebaut.

Trotzdem: Insgesamt ist der HVV vergleichsweise sehr teuer.

Anjes Tjarks: Er hat auch eines der besten Angebote in Deutschland, und die Kunden sind nach Befragungen sehr zufrieden. Übrigens: Die drei Angebotsoffensiven waren jeweils die größten Leistungsausweitungen in der HVV-Geschichte. Allein im vergangenen Jahr wurden mitten in der Pandemie mehr als 200 weitere Verbesserungen auf den Weg gebracht. Das Produkt ist also deutlich besser geworden.

Seit dieser Woche gilt 3G in allen öffentlichen Verkehrsmitteln. Wie genau laufen die Kontrollen? Muss man nun seinen Impfausweis beim Busfahrer vorzeigen?

Anjes Tjarks: Die Kontrolle der 3G-Pflicht erfolgt stichprobenhaft durch die mehr als 750 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Prüf- und Sicherheitsdienste der Verkehrsunternehmen im Rahmen der Fahrkarten- und Maskenkontrollen. Die allerersten Erfahrungen sind positiv. Viele Fahrgäste begrüßen die Kontrollen.

Zum Radverkehr: Wie kommt ein Senat eigentlich auf die irrwitzige Idee, Radwege zwischen zwei Autofahrstreifen auf die Straße zu pinseln, wie es das dutzendfach in Hamburg gibt? Wer kann verantworten, dass Radfahrer, auch Kinder, in Hamburg zwischen zwei Lkw fahren müssen?

Anjes Tjarks: Sie sprechen die Radfahrstreifen in Mittellage an, bei denen an einer Seite eine Abbiegespur liegt, sodass Autofahrer den Radweg einmal kreuzen müssen, um abzubiegen. Die gelten tatsächlich nach bundesweiten Regelwerken als Standard. Es war trotzdem eine meiner ersten Amtshandlungen als Hamburger Senator, bei Neuplanungen von Kreuzungen, dieses Planungsinstrument grundsätzlich nicht mehr zu verwenden. Zudem haben wir die Radstreifen in Mittellage aus einer ganzen Reihe bestehender Planungen noch rausgeschmissen.

Gerade ist in Hamburg ein Radfahrer auf so einem Streifen totgefahren worden.

Anjes Tjarks: Das war ein sehr tragischer Fall, der mich tief betroffen macht. Die Unfallursache wird aktuell immer noch untersucht. Unabhängig davon: Wir wollen diese Führung bei Neuplanungen vermeiden.

Wäre es nicht sinnvoller, sie durch klügere Verkehrsführungen zu ersetzen?

Anjes Tjarks: Ich denke, da werden wir uns die jeweiligen Straßenführungen sehr konkret anschauen müssen. Einen Unfallschwerpunkt bilden die Radfahrstreifen in Mittellage jedoch nicht, und Unfälle passieren leider auch an anderen Stellen. Aber mir ist sehr klar, dass sich viele Radfahrer auf dieser Infrastruktur unwohl fühlen. Sie ist nicht inklusiv, und deswegen wollen wir sie nicht mehr einsetzen.

Insgesamt scheinen Sie auf die alte CDU-Linie eingeschwenkt zu sein, Radwege nun nicht mehr einfach auf die Straßen zu malen, sondern auch stärker abzugrenzen.

Anjes Tjarks: Wir wollen verstärkt geschützte Radstreifen wie in Kopenhagen oder den Niederlanden bauen. Das ist auch sinnvoll, weil das eine komfortable und sichere Infrastruktur ist. Was die CDU angeht: Die will alles gleichzeitig. Alle Parkplätze und den bisherigen Straßenraum voll erhalten, geschützte Radwege bauen, Fußwege verbreitern und jeden einzelnen Baum retten. Nur wie das alles zugleich gehen soll – das hat die CDU der Stadt noch nicht verraten.

Kaum irgendwo gehen Emotionen so hoch wie auf den Straßen oder bei Diskussionen über Verkehrspolitik. Haben Sie schon ein Rezept, mit all der Wut umzugehen?

Anjes Tjarks: Ich glaube, man muss offen und ehrlich kommunizieren. Ein Beispiel: Wenn man fragt, ob in Hamburg alle Haushalte Glasfaseranschlüsse bekommen sollten, sind fast alle dafür. Dafür muss man aber 9000 Kilometer Leitungen verlegen – das verursacht Baustellen, also Behinderungen. Die muss man dann in Kauf nehmen – oder auf Glasfaser verzichten. Wenn man das offen bespricht, wird es von den meisten verstanden und akzeptiert. Das wünsche ich mir auch von der Kritik. Sie ist immer willkommen, aber sie sollte konstruktiv und ehrlich sein und sich an Fakten orientieren.