Hamburg. In „Wie jetzt?“ spricht Chefredakteur Lars Haider mit Uni-Präsident Dieter Lenzen über die großen Themen unserer Zeit.

In „Wie jetzt?“, einem Gemeinschaftsprojekt von Hamburger Abendblatt und Universität Hamburg, sprechen Chefredakteur Lars Haider und Uni-Präsident Dieter Lenzen über Themen, die Wissenschaft und Journalismus gleichermaßen bewegen. Heute geht es um die Frage, wieso wir bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie immer die gleichen Fehler machen.

Lars Haider: Es gibt eine Frage, die uns alle umtreibt und die mich an den Rand der Fassungslosigkeit bringt: Warum kriegen wir diese Pandemie nicht in den Griff? Warum haben ausgerechnet die deutschsprachigen Länder die niedrigsten Impfquoten? Und warum machen wir die gleichen Fehler immer und immer wieder? Ich verstehe es nicht. Wir wussten, wie dieser Winter werden würde, aber wir sind wieder nicht darauf vorbereitet.

Dieter Lenzen: Ich bin fast schon gar nicht mehr bereit, das alles verstehen zu wollen. Es gibt keine legitimen Motive dafür, sich nicht impfen zu lassen. Wenn die Lage so ist, dass 25 Prozent der Bevölkerung das Leben von 75 Prozent bestimmen möchten, weil sie sich einer Impfung verweigern, dann müssen die Politiker bitte den nächsten Schritt machen. Es ist offensichtlich nicht möglich zu überzeugen, weil die Motive so unterschiedlich sind. Warum diskutieren wir nicht endlich über die Impfpflicht?

Der Präsident der Universität Hamburg: Prof. Dieter Lenzen.
Der Präsident der Universität Hamburg: Prof. Dieter Lenzen. © Andreas Laible / Funke Foto Services

Haben Sie eine Erklärung dafür, dass die Impfquoten ausgerechnet in den deutschsprachigen Ländern so niedrig sind?

Vielleicht hat es mit der Geschichte zu tun. Deutschland und Österreich haben in der Nazizeit eine Wirklichkeit erzeugt, in der es Freiheiten praktisch nicht mehr gab. Dadurch ist das Bedürfnis nach Freiheit in beiden Ländern weit stärker ausgeprägt als das Verantwortungsgefühl. Das könnte eine Erklärung sein. Eine andere ist die Verzagtheit und Zauderei in der Politik. Wir können nur hoffen, dass der neue Kanzler, wenn er denn endlich einmal im Amt ist, durchgreift. So geht es einfach nicht weiter.

Die Frage, welche Rolle die Nazi-Diktatur bei der Höhe der Impfquoten spielt, finde ich interessant. Wolf Biermann hat sie vor Kurzem auch in einem Interview mit dem Abendblatt angesprochen. Kann das wirklich so lange nachwirken?

Wir haben in unseren Schulen über Jahrzehnte für Freiheit und Emanzipation gestritten, übrigens völlig zu Recht, es aber vielleicht dabei nicht geschafft, die Bedeutung der persönlichen Verantwortung mitlaufen zu lassen. Emanzipation heißt nicht, dass man machen kann, was man will. Man emanzipiert sich von ungerechtfertigter Herrschaft. Aber selbstverständlich gibt es auch gerechtfertigte Herrschaft, und das müssen wir anerkennen, insbesondere, wenn es ums Überleben geht.

Kann man sagen, dass wir es mit der Freiheit in den vergangenen Jahrzehnten übertrieben haben, Stichwort antiautoritäre Erziehung und 1968, und dass das in einer solchen Situation wie der Pandemie wie ein Bumerang zurückkommt?

Die kritischen Theorien haben nicht Herrschaft an sich infrage gestellt, sondern nicht berechtigte Herrschaft. Der Gedanke, dass man zwischen legitimer und illegitimer Herrschaft unterscheiden muss, ist leider irgendwann nicht mehr verstanden worden.

Man muss einfach nur erkennen, dass wir nicht in einer Diktatur leben. Einer der Momente, die mich in diesem Zusammenhang verstört haben, war der Auftritt von Sahra Wagenknecht bei „Anne Will“, wo sie erklärte, nicht geimpft zu sein, und das bewusst.

Es gibt ja auch das Beispiel aus der Fußballwelt. Wenn eine Person für sich entscheidet, auf eine Impfung zu verzichten, dann erwarte ich von ihr, dass sie auch die Konsequenz zieht und sich aus der Öffentlichkeit zurückzieht, bis die Pandemie vorbei ist. Wenn man stattdessen in einer Talkshow auftritt, ist das schwer nachvollziehbar.

Sie haben vorhin auch gesagt, dass die Politik nicht konsequent genug war. Ist das Kernproblem nicht gewesen, dass alle Politikerinnen und Politiker relativ früh ausgeschlossen haben, dass es eine Impfpflicht gibt?

Ja, aber die Verhältnisse, wie sie jetzt sind, waren für den Laien nicht vorhersehbar. Deshalb bricht doch niemandem einem Zacken aus der Krone, wenn er als Politiker sagt: Wir haben uns geirrt, die Dinge haben sich anders entwickelt, wir müssen anders entscheiden, als wir dachten, entscheiden zu dürfen. Österreich macht das jetzt vor. Die meisten Wählerinnen und Wähler haben dafür Verständnis.

Ich glaube sogar, dass man all den Ungeimpften mit einer Impfpflicht einen Gefallen tun würde. Denn dann wären sie gezwungen, sich impfen zu lassen, und müssten nicht erklären, warum sie auf einmal doch gegen die Überzeugung handeln, der sie monatelang gefolgt sind.

Für einen Teil der Ungeimpften ist das sicher richtig. Es gibt in bestimmten Situationen aber auch die Verpflichtung des Besserwissenden, die zu schützen, die eine Krise nicht richtig beurteilen können. Wenn jemand betrunken über die Straße geht, halte ich ihn doch selbstverständlich fest, damit er nicht von einem Auto überfahren wird. Das ist sogar meine Pflicht.

Hat uns auch die Bundestagswahl etwas den Blick auf die Corona-Pandemie verstellt? In den Sommermonaten waren wir alle mit etwas anderem beschäftigt als mit dem Virus.

Es war Sommer, es war Wahl, da wollte man keine extremen Entscheidungen treffen. Aber nun ist die Wahl vorbei, und deshalb erwarten wir als Volk jetzt von den Gewählten entschlossenes Handeln. Ich fand es sehr schwierig, dass etwa Brandenburgs Ministerpräsident noch Mitte September gesagt hat, dass man die Masken eigentlich nicht mehr braucht.

Das ist ein guter Punkt. Wir bekommen die Pandemie auch deshalb nicht in den Griff, weil wir die einfachen AHA-Regeln vernachlässigt haben, also so etwas wie Abstandhalten oder Maskentragen, wenn man sich in Innenräumen aufhält.

Wir müssen uns nur mal die Situation in einem Supermarkt anschauen. Im vergangenen Jahr haben alle auf Abstände geachtet, vorschriftsmäßig Masken getragen und nicht gedrängelt. Das war zwischenzeitlich völlig anders. Viele Leute scheinen die Regeln völlig vergessen zu haben. Es ist eine Sorglosigkeit ausgebrochen, die gefährlich ist. Die Impfung sorgt für eine hohe Sicherheit, aber das darf eben nicht heißen, dass alle anderen Maßnahmen nicht mehr beachtet werden.

Impfgegner sagen angesichts der Impfdurchbrüche, die es gibt: Seht ihr, Impfungen bringen gar nichts, man kann das Virus trotzdem bekommen. Was übrigens niemand bestritten hat, nur ist die Wahrscheinlichkeit deutlich geringer – und vor allem die Gefahr, schwer an Covid-19 zu erkranken. Dabei ist es entscheidend, dass wir schnell die Impflücken schließen. Ich kann kaum glauben, dass es noch zwei Millionen ungeimpfte Menschen über 60 Jahre in Deutschland gibt, die ja zu der Gruppe gehören, für die eine Covid-Erkrankung sehr gefährlich werden kann.

Aus der minimalen Zahl an Impfdurchbrüchen, es sind aktuell 0,27 Prozent, zu schließen, dass man sich nicht impfen lassen muss, zeigt, dass die Menschen nicht in der Lage sind, mit Zahlen und Statistiken umzugehen. Die Wahrscheinlichkeit, einen Sechser im Lotto zu bekommen, ist verschwindend gering, und trotzdem spielen das Millionen Menschen.