Hamburg. Enthüllt: Nur fünf Fläschchen Biontech pro Arzt. Schreiben aus Spahns Gesundheitsministerium führt zu heftigen Hamburger Reaktionen.

"Chaos", "Aktivismus", "an Dreistigkeit nicht zu überbieten": Das Impfen nimmt eine dramatische Wende. Die am Freitag offensiv verkündete Impfkampagne gegen das Coronavirus sowie das Boostern der bereits vor sechs Monaten vollständig Immunisierten zum Abwenden der vierten Welle der Pandemie drohen zu scheitern. Aus einem Brief des Bundesgesundheitsministeriums an die Bundesländer, der dem Hamburger Abendblatt vorliegt, ist zu lesen, dass die niedergelassenen Impf-Ärzte und Hausärzte pro Woche genau fünf Fläschchen (Vials) mit Biontech erhalten sollen. Das wären bei vorgeschriebener Dosierung 30 Spritzen.

In einer ersten Reaktion zeigten sich Hamburger Ärzte und Experten empört. Von einem „Chaos“ bei der Impfstoffversorgung des geschäftsführenden Gesundheitsministers Jens Spahn (CDU) ist die Rede.

In dem Brief von Spahns Staatssekretär Thomas Steffen „An die Amtschefinnen und Amtschefs der Länder“ heißt es: Steffen wolle „gerne informieren, dass das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) Vorsorge getroffen hat, damit ausreichend Impfstoff für Auffrischungsimpfungen zur Verfügung steht“. Was folgt, ist das Gegenteil. Denn die Ärzte planten mit Biontech und das Ministerium räumt sogar ein, dass 90 Prozent der Bestellungen Biontech seien.

Booster-Impfungen in Hamburg mit Moderna statt Biontech?

Es solle, so heißt es in dem Schreiben, aber „vermehrt“ Moderna zum Einsatz kommen. Denn eine gewaltige Menge Moderna drohe „Mitte des 1. Quartals 2022“ zu verfallen. Ein Hamburger Ärztevertreter sagte, die Impfkandidaten und Ärzte sollten nun das Missmanagement der Politik ausbaden.

Der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung Hamburg, Walter Plassmann, erklärte: „Die Booster-Impfkampagne nimmt gerade Fahrt auf, diese Entscheidung wird sie sofort wieder abwürgen.“ Die Wochen im Voraus geplanten Impftermine seien auch auf einen bestimmten Impfstoff gebucht. Der Wechsel des Impfstoffes könne zu einem Misstrauen der Impfkandidaten führen. Bleibe es bei der „Hauruckaktion von Spahn“ würden die Impfzahlen „spürbar zurückgehen“. Ärztinnen und Ärzte drohten, aus dem Impfen auszusteigen.

Sozialsenatorin Leonhard: "Das können wir nicht gebrauchen"

In den kommenden Wochen, heißt es in dem Brief weiter, sollen niedergelassene Ärzte pro Woche 30 Dosen (5 Vials) an Biontech bestellen dürfen. Impfzentren und mobile Teams dürften 170 Vials ordern. Für die Haus- und Impfärzte in Hamburg ist das ein Schlag ins Gesicht. Noch am Freitag hatte Sozialsenatorin Melanie Leonhard (SPD) hervorgehoben, welch große Bedeutung den Praxisärzten in der Impfkampagne zukomme. Sie musste nun aus dem Hause Spahn lesen: „Bitte informieren Sie die zuständigen Stellen in Ihren Ländern über diesen Schritt.“

Von einer Biontech-Knappheit ist in Hamburg offenbar bislang nicht die Rede. Die Sozialbehörde erklärte am Sonnabend, es sei entsprechend geplant worden, „um möglichst für alle das korrekte Angebot vorhalten zu können“. Sozialsenatorin Melanie Leonhard sagte dem Abendblatt: „Was auch immer der Bundesgesundheitsminister mit diesen kurzfristigen Ankündigungen beabsichtigt – es ist nicht hilfreich.“ Es sei eine große Aufgabe, mehr Menschen von einer Impfung zu überzeugen und gleichzeitig zu boostern. „Wir brauchen dafür die zielstrebige Zusammenarbeit aller Beteiligten, von der Arztpraxis bis in die Hauptstadt. Was wir nicht brauchen können, sind nicht nachvollziehbare, kurzfristige politische Kurswechsel.“

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Hamburgs Ärztekammerpräsident Pedram Emami hatte noch am Freitag gesagt: „Die Pandemie fordert, dass wir alle an einem Strang ziehen.“ Die Ständige Impfkommission hatte Booster-Impfungen für alle ab 18 empfohlen – unter Einhaltung der zeitlichen Fristen nach der vollständigen Immunisierung. Leonhards Amtskollegin aus Mecklenburg-Vorpommern, Stefanie Drese (SPD), sagte im NDR zu dem Schreiben aus dem BMG: „Das ist das völlig falsche Signal.“ Das sei so nicht abgestimmt gewesen.

Hamburger Ärzte: "Wertvolle Zeit fürs Impfen fehlt"

Die Vorsitzende des Hamburger Hausärzteverbandes, Jana Husemann, sagte: „Wir sind bei voller Fahrt ausgebremst worden.“ Spahns Verhalten sei „an Dreistigkeit nicht zu überbieten“. Sonderimpftage in den Praxen müssten abgesagt werden, wenn das angekündigte Biontech-Vakzin fehle. Husemann appellierte: „Wir stecken mitten in einer Pandemie, dieses unnötige Chaos muss aufhören!“

Der frühere Hamburger Hausarzt und heutige Vizevorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Stephan Hofmeister, erklärte, dass Biontech-Kandidaten jetzt wohl Moderna erhielten. „Beide Impfstoffe sind nach vorliegenden Studiendaten und laut Stiko gleichwertig, trotzdem wird es hohen Erklärungsbedarf geben, der wertvolle Zeit bindet, die für das Impfen dann fehlt. Das ist wenig hilfreich, wenn vor allem schnell und viel geimpft werden soll.“