Hamburg. Frauen rangen Jahrzehnte um ihre Rechte. Wie die Bewegung erst zersplitterte und mit viel Glück endlich ihren Willen bekam.

An diesem Montag ist vieles anders gewesen – und doch wirkte es wie immer, als Johann Eddelbüddel ans Rednerpult trat. „Meine geehrten Herren“, sagte der Abgeordnete am 24. März 1919 in der Bürgerschaft. Doch ganz richtig war seine Anrede nicht. Aber was sollte daran schon falsch sein? So fing er immer an.

Doch an diesem Tag musste er sich verbessern. „Damen, Herren“, stotterte Eddelbüddel, „Sie werden verzeihen, wenn ich … nicht sofort beim ersten Wort hineingefunden habe.“ Es war das erste Mal in der Geschichte Hamburgs, dass männliche wie weibliche Abgeordnete im Plenarsaal saßen. Dass Männer und Frauen sie gewählt hatten.

Demokratie beinhaltete Jahrzehnte der Rebellion

Dieser Meilenstein hatte Jahrzehnte der Rebellion gekostet. Der Weg dorthin riss Verbündete auseinander. Es dauerte Jahre, bis sie wieder an einem Strang zogen. Am Ende war es Glück, das zum Fortschritt führte. Glück im Unglück. Was führte zum Wahlrecht? Wieso stritten die Aktivistinnen?

Und wer waren die Vorreiterinnen? Die Historikerin Rita Bake fasst die Geschichte zusammen. „Man meint aber unter Menschenrechten nichts anderes als Männerrechte“ heißt das Buch, in dem sie die Ereignisse noch einmal aufrollt – und nun für die Leserinnen und Leser des Abendblatts kommentiert.

Ab 1848: Emilie Wüstenfeld und die bürgerlichen Rebellinnen

Emilie Wüstenfeld eröffnete die erste Gewerbeschule für Mädchen.
Emilie Wüstenfeld eröffnete die erste Gewerbeschule für Mädchen. © Museum für Hamburgische Geschichte

„Vorreiterin in der ersten Generation in Hamburg war ganz klar Emilie Wüstenfeld“, sagt Bake. Sie sitzt in ihrem Wohnzimmer in Lokstedt. Immer wieder steht die Historikerin auf, um ein Buch aus dem Regal zu ziehen oder in der Frauenbiografie-Datenbank ein Detail nachzuschlagen. Sie setzt Wüstenfelds Wirken in den Kontext der bürgerlichen 1848er Revolution.

Vor dem Hintergrund machte die Vorreiterin sich für die Armenpflege stark, sprach sich für religiöse Toleranz und eine bessere Bildung für Mädchen aus. Doch nicht alle Bürgerlichen teilten ihre Werte. Im Gegenteil: Die angesehene Amalie Sieveking unterstützte in ihrem „Weiblichen Verein für Armen- und Krankenpflege“ nur strenge Protestantinnen und Protestanten. Die anderen schickte sie fort.

Wüstenfeld gründete eigene Vereine

Das ärgerte Wüstenfeld. Sie gründete eigene Vereine, zum Beispiel 1848 den „Sozialen Verein zur Ausgleichung konfessioneller Unterschiede“. Eine Gruppe bürgerlicher Frauen schloss sich an. Die gemeinsame Arbeit habe den Wunsch geweckt, „für das geistige und materielle Wohl unseres Geschlechtes zu wirken“, heißt es in einem Jahresbericht. Und so war der Grundstein der bürgerlichen Frauenrechtsbewegung gelegt.

Am Holländischen Brook 25 – in der heutigen Hafen City – befand sich die Hochschule für das weibliche Geschlecht.
Am Holländischen Brook 25 – in der heutigen Hafen City – befand sich die Hochschule für das weibliche Geschlecht. © Ebba Tesdorpf

Zwei Jahre später eröffneten Wüstenfeld und andere Frauen die „Hochschule für das weibliche Geschlecht“. Mädchen sollten unabhängig von Konfession und sozialer Schicht die Fröbelsche Pädagogik kennenlernen, eine demokratische Früherziehung für Kindergärten. Aber die Gesellschaft war nicht bereit für Wüstenfelds Vorstoß. Sieveking schürte üble Nachrede, und auch aus der Politik kam Gegenwind. Die Schule musste 1852 schließen.

Eine Schülerin in der ersten deutschen Gewerbeschule für Mädchen.
Eine Schülerin in der ersten deutschen Gewerbeschule für Mädchen. © Gesellschaft der Freunde des vaterländischen Schul- und Erziehungswesens Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Landesverband Hamburg

Erst 1866 gelang der Aktivistin der Sprung nach vorn. Sie eröffnete die erste deutsche Gewerbeschule für Mädchen. Dort bildete Wüstenfeld ihre Schülerinnen in Berufen aus, die dem sogenannten weiblicher Charakter entsprachen. Eine Tradition, die später der neue bürgerliche Allgemeine Deutsche Frauenverein (ADF) in Hamburg weiterführte – allerdings nicht unter Wüstenfeld, sondern der jüngeren Helene Bonfort.

Ab 1896: „Evolution, nicht Revolution!“ unter Helene Bonfort

Die junge Frau unterrichtete an der Gewerbeschule, war mit Wüstenfelds Gedanken vertraut. Als sie 1896 am „Internationalen Kongreß für Frauenwerke und Frauenbestrebungen“ teilnahm, ergriff sie der Tatendrang. Eine Teilnehmerin soll einen „Weckruf“ gestartet haben, berichtete der Hamburger Generalanzeiger. Die Frau dichtete:

Wir stehen beisammen, wie Schwestern es thun, Die Freiheit zu schützen, woll’n nimmer wir ruhn’n, Wir lieben den Frieden, wir hassen den Streit, Doch wenn uns die Pflicht ruft, dann sind wir bereit: Wir wollen gleiches Recht für’s weibliche Geschlecht, Wir woll’n nicht länger dienen als des Mannes Knecht! Hurrah, Hurrah, die Frauen sind da.

Helene Bonfort ist Vorreiterin der bürgerlichen Frauenrechtsbewegung in zweiter Generation.
Helene Bonfort ist Vorreiterin der bürgerlichen Frauenrechtsbewegung in zweiter Generation. © Andrea Orth

Kurz darauf gründete Bonfort die Ortsgruppe des ADF. Der Verein markierte den Aufbruch in die zweite Generation der bürgerlichen Frauenrechtsbewegung. Kurz darauf schlossen sich 70 Hamburgerinnen an. Ende 1899 waren es schon 430 Mitglieder, darunter auch Männer. Bonfort wollte, dass Mädchen und Frauen sich fortbilden konnten, da das Geld vielerorts knapp war. Bürgerliche mussten Personal entlassen oder sogar selbst arbeiten. Zwar hätten sie als Kontoristinnen arbeiten können, waren aber nicht qualifiziert genug. Eine bessere Bildung verstanden Bonfort und ihre Kolleginnen daher als Selbsthilfe für Frauen. Der ADF hielt fest:

Evolution, nicht Revolution! Auf allen Gebieten des häuslichen und des öffentlichen Lebens soll der Kultureinfluß der Frauen zu voller innerer Entfaltung und freier äußerer Wirkung gebracht werden.

Erst die Bürgerlichen der dritten Generation forderten die politische Gleichstellung von Männern und Frauen. Das trieb einen Keil zwischen die älteren Gemäßigten und wenige jüngere Radikalen. Konkret: Während Bonfort die Frauenarbeit nur im gesellschaftlichen Bereich ansiedelte, forderte die jüngere Lida Gustava Heymann das Wahlrecht und die direkte Teilhabe am Staat. Ein Streit entbrannte.

Ab 1898: Zerwürfnis mit Lida Gustava Heymann

Heymann war nicht immer radikal. Sie kam aus einem großbürgerlichen Haus, hatte sich jahrelang gesellschaftlich engagiert. Sie war Lehrerin an einer Armenschule und eröffnete 1897 Hamburgs erstes Frauenhaus. Dort ließ sie Duschen installieren, richtete einen Kinderhort ein, auch erwerbstätige Frauen lud sie zum Mittagstisch ein. Außerdem hatte Heymann ein Herz für Prostituierte, forderte die Kriminalisierung der Freier, nicht der Sexarbeiterinnen. Dann verlagerte sie ihren Fokus.

Lida Gustava Heymann zählte zu den Radikalen der bürgerlichen Frauenrechtsbewegung.
Lida Gustava Heymann zählte zu den Radikalen der bürgerlichen Frauenrechtsbewegung. © unbekannt

„Lida Gustava Heymann machte eine Entwicklung durch“, sagt Bake. „Sie merkte, dass ehrenamtliche private wohltätige Arbeit nicht ausreichte, um die desolaten Verhältnisse, unter denen Frauen zu leiden hatten, grundlegend zu ändern. Also analysierte sie die Machtstrukturen und erkannte, dass Frauen politisch tätig werden und auch in städtischen und staatlichen Verwaltungen Ämter übernehmen mussten. Sonst würde sich nichts ändern.“ Infolgedessen forderte sie gleiche politische Rechte für Frauen, darunter das Wahlrecht.

Doch Bonfort wollte davon nichts wissen. 1898 kam es zum Zerwürfnis. Bei der „Generalversammlung des Bundes Deutscher Frauenvereine“ diskutierten sie, ob neben gesellschaftlichen auch staatliche Aufgaben zur bürgerlichen Frauenbewegung gehörten. Während die Ältere verneinte, bejahte die Jüngere. Den großen Knall beschreibt Heymann in ihrer Autobiografie:

Wahrlich, wir hatten uns nicht aus den Familienfesseln befreit, um uns von diesen alten Damen schulmeistern zu lassen, und als Helene Bonfort wieder einmal in einer Vorstandssitzung unseren Vorschlägen entgegentrat, erklärte ich, es sei bedauerlich, daß sie das Schulmeistern nicht lassen könne – sie war Lehrerin gewesen –, sie habe keine Schulklasse vor sich, sondern erwachsene Menschen, die alle gleich berechtigt seien. Sie wies meine Bemerkung als ungehörig zurück und beantragte die Aufnahme meiner Äußerungen in das Protokollbuch. Dieses kindische Benehmen gab mir Veranlassung, endlich zu tun, was ich schon lange vorhatte. Ich sagte den Damen, daß für mich kein Interesse bestehe, weiter mit ihnen in ihrem Damenkränzchen zu arbeiten, auf solche Weise komme man nicht zum Ziel.

Die Radikalen traten daraufhin aus der Ortsgruppe aus, gründeten den „Deutschen Verein für Frauenstimmrecht“ und näherten sich erst später wieder an.

Parallel ab 1875: Die sozialdemokratischen Rebellinnen

Anders als die Bürgerlichen stellten weniger gut gestellte Frauen schon früher radikale Forderungen. „Die Frauen aus dem sozialdemokratischen Lager sahen die desolate Situation der Arbeiterschicht und wollten umfassende Änderungen des kapitalistischen Wirtschaftssystems“, sagt Bake. Ganz anders Bonfort und Co.: „Sie wollten vorerst nur reine Sozial- und Bildungsreformen.“

Noch eins unterschied die Schichten: Während die Bürgerlichen allenfalls das Wahlrecht im Rahmen des Hamburgischen Bürgerrechts forderten, wollten die Sozialdemokratinnen das Wahlrecht für alle. Das ist ein Unterschied. Denn: „Ans Bürgerrecht war das Wahlrecht gekoppelt, das ein bestimmtes zu versteuerndes Einkommen voraussetzte“, sagt Bake.

Luise Zietz war Sozialdemokratin und forderte: „Her mit dem Frauenwahlrecht!“
Luise Zietz war Sozialdemokratin und forderte: „Her mit dem Frauenwahlrecht!“ © Andrea Orth

Wäre die bürgerliche Vision also ein großer Fortschritt gewesen? Teile der Arbeiterschaft – ob Mann oder Frau – wären weiterhin außen vor gewesen? Die Sozialdemokratinnen wollten höher hinaus. Und ihre Partei unterstützte sie. 1891 forderte die Partei als erste das Wahlrecht für alle. Als Frauen 1908 politischen Parteien beitreten durften, kam Luise Zietz in den Parteivorstand. Sie ist eine von vielen Sozialdemokratinnen, die forderten: „Her mit dem Frauenwahlrecht!“

Ab 1917: Die Zerstrittenen finden zusammen

Erst nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs fanden die Bewegungen zusammen. Die Aktivistinnen wollten sich an der „Heimatfront“ des Deutschen Reiches verdient machen, hofften im Gegenzug auf politische Gleichstellung. Ohne Erfolg. Einen Vorteil hatte die Arbeit trotzdem: „Die meisten Sozialdemokratinnen und gemäßigten Bürgerlichen haben sich in der Kriegshilfe wiedergefunden, in Lazaretten gearbeitet und positiven Kontakt zueinander gefunden“, sagt die Historikerin Bake. „Das hat die Kluft zwischen ihnen verkleinert, weshalb sie sich ab 1917 für das Bürger- und Wahlrecht eingesetzt haben.“

Historikerin mit Bundesverdienstkreuz

Rita Bake rollt die Hamburger Geschichte neu auf. Die Historikerin  lehrte unter anderem an der Universität Hamburg, brachte den Studierenden mehr über die Frauen der Hansestadt bei. Sie arbeitete auch als stellvertretende Direktorin der Landeszentrale für politische Bildung, entwarf historische Stadtrundgänge mit kleinen Theaterstücken. Außerdem entwickelte Bake eine Frauenbiografie-Datenbank für Hamburg, die sie kontinuierlich fortführt.

Im Jahr 2018 erreichte sie den Höhepunkt ihrer Karriere: Der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier verlieh ihr das Bundesverdienstkreuz für ihre Erinnerungsarbeit. Er ehrte sie für ihr Engagement. Denn Bake hatte zum einen den „Garten der Frauen“ auf dem Ohlsdorfer Friedhof mit errichtet, lenkt dort den Fokus auf bedeutende Hamburgerinnen wie Luise Zietz. Zum anderen gedachte sie der Opfer des Nationalsozialismus und setzte sich für das Verlegen von Stolpersteinen ein.

Als Sozialdemokraten und Liberale schließlich eine Neugestaltung der Hamburger Verfassung forderten, sahen die Frauenrechtsaktivistinnen ihre Zeit gekommen. Sie schlossen ihre Vereine zum „Stadtbund Hamburgischer Frauenvereine“ zusammen und forderten das Bürgerrecht für Frauen – darunter auch die gemäßigten Bürgerlichen. Die Radikalen blieben außen vor, da sie sich strikt gegen den Krieg und daher auch die Kriegsarbeit aussprachen. Allerdings richtete ihr „Verein für Frauenstimmrecht“ ein Gesuch an die Bürgerschaft. Darin argumentierten die Radikalen, die Frauen sollten für Kriegsfürsorge mit dem Wahlrecht entlohnt werden.

Der Stadtbund fordert das Bürgerrecht für Frauen.
Der Stadtbund fordert das Bürgerrecht für Frauen. © Staatsarchiv Hamburg.

Doch der Senat blieb taub, brachte erst im November 1918 einen Vorschlag zu einem geänderten Bürgerrecht ins Parlament. Nur war das Kaiserreich bereits instabil und damit auch die Verfassung. Als der „Arbeiter- und Soldatenrat“ kurz darauf die politische Führung der Stadt übernahm, war das alte Bürger- und Wahlrecht längst überholt. Noch im November führte der Rat das Wahlrecht für alle ein.

Bake sagt: „Der Arbeiter- und Soldatenbund hat die Forderungen der SPD nach einem allgemeinen und gleichen Wahlrecht für beide Geschlechter übernommen und sofort eingeführt. Manchmal hat man eben Glück.“ Am 16. März 1919 fand die erste demokratische Wahl zur Hamburgischen Bürgerschaft statt, der am 24. März die konstituierende Sitzung und die Rede des Abgeordneten Eddelbüddel folgte.

1919: Die erste Alterspräsidentin in der Bürgerschaft

Einmal mehr Glück hatten die Aktivistinnen, da eine Frau als älteste Abgeordnete das Amt der Alterspräsidentin innehatte. Die 71 Jahre alte Helene Lange eröffnete die erste Sitzung, hielt ihre Rede also noch vor Eddelbüddel und sagte:

Wir Frauen bringen diesen Glauben und diesen Optimismus mit. Sonst wären wie nicht hier. Wer ein Leben lang für Ziele gekämpft hat, die bis zuallerletzt in unerreichbarer Zukunft zu liegen schienen, der bringt aus diesen Kämpfen viel Zuversicht mit zu dem, was man noch nicht sieht. Diese Zuversicht nun als Bürgerinnen mit in den Dienst der Arbeit dieser Versammlung stellen zu dürfen, ist uns allen eine hohe Genugtuung und eine heilige Pflicht. In neuer Zusammensetzung – ohne Zweifel ein vollständigerer Ausdruck des Volkswillens als je zuvor – tritt diese Versammlung ihre Aufgabe an.