Hamburg. Fahrer in VW-Testfahrzeug übersieht Rotlicht und tötet 40-Jährigen. Wie der Partner des Unfallopfers mit dem Schicksalsschlag umgeht.

Es waren zwei, drei, vier Sekunden. Vier Sekunden, in denen der Fahrer eines VW Golfs nicht aufmerksam war. Vier Sekunden sind lang, wenn man sie abzählt: 1, 2, 3, 4. Quälend lang eigentlich. So lange schaute der Unfallfahrer laut Zeugenaussagen wohl nicht auf die Straße, sonst hätte er den Fußgänger gesehen, der bei Grün den Heidenkampsweg über die Fußgängerampel querte.

Der Fahrer hat ihn aber nicht wahrgenommen und fuhr bei Rot über die Ampel. Er erfasste den damals 40-jährigen Thomas Goltz. Der erlag wenig später seinen schweren Verletzungen, und sein Partner versucht mehr als eineinhalb Jahre nach dem Unfalltod zu verstehen, wie es dazu kommen konnte. Er setzt sich dafür ein, solche Unfälle in Zukunft zu verhindern.

Unfall auf achtspuriger Straße in Hamburg

Kann man eine Straße hassen? Nein, sagt Jan Philip Lange, als er am Heidenkampsweg/Ecke Grüner Deich in Hammerbrook steht und Blumen an der Stelle niederlegt, an dem der wichtigste Mensch in seinem Leben verunglückte. Es sei eben doch nur eine Straße, sagt der 43-Jährige. Aber was für eine. Achtspurig ist sie an dieser Stelle, und tonnenschwere Lkw rasen vorbei.

Es war kurz nach Silvester, das Jahr noch jung, und die Straßen waren wie üblicherweise zu dieser Zeit leerer als sonst. Leider war dieser 2. Januar 2020 ein sonniger Tag. Denn hätte es geregnet, vielleicht wäre Thomas Goltz noch am Leben. „Bei gutem Wetter ist er immer an der S-Bahn-Station Hammerbrook ausgestiegen und zu Fuß zu seiner Arbeit gegangen“, erzählt Jan Philip Lange. Bei schlechtem Wetter sei er umgestiegen in die S-Bahn bis zur Haltestelle Rothenburgsort. Dort war sein Arbeitsplatz in der Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration. Sein erster Arbeitstag nach den Feiertagen.

Goltz wurde in das AK St. Georg eingeliefert

An diesem 2. Januar aber wollte er die 15 Minuten zu Fuß gehen. Um 10.06 Uhr kam es zum Unfall. Noch vor Ort wurde Thomas Goltz reanimiert und mit schweren Kopfverletzungen ins AK St. Georg eingeliefert, dort wurde ihm in einer Notoperation zunächst das Leben gerettet. Ärzte hatten ihm die Schädel­decke geöffnet, damit die Schwellung abklingen sollte. Um 11.15 Uhr standen zwei Polizeibeamte vor der Haustür von Jan Philip Lange und Thomas Goltz in Neu Wulmstorf. Sie baten, ins Haus kommen zu dürfen. Man kennt solche Szenen aus Filmen und hofft, dass so etwas nie real wird.

Für Jan Philip Lange war das sehr real. Er erfuhr so vom schweren Verkehrsunfall seines Partners. Zwölf Jahre waren sie da verpartnert, hatten ein Haus zusammen gebaut, waren viel auf Reisen, am liebsten in den USA. Über das Internet hatten die beiden sich kennengelernt. Bei Thomas Goltz muss es wohl Liebe auf den ersten Blick gewesen sein, denn noch am Abend des ersten Treffens zog er bei Jan Philip in Köln ein. Zu Hause in Neu Wulmstorf hat sich Thomas Goltz gern um den Garten gekümmert. Er war aktiv in der Neu Wulmstorfer SPD und Ratsherr.

„Du fragst dich immer, warum?"

Sechs Tage lang lag er im Koma. Dann verstarb er. Ja, hätte es doch am 2. Januar bloß geregnet. Es sind natürlich solche Gedanken, die immer wieder aufkommen. Aber Jan Philip Lange ist zu sehr im Hier und Jetzt und weiß, dass solche Gedanken nichts bringen. Aber sie kommen dennoch.

„Du fragst dich immer, warum? Es ist so sinnlos.“ Der Film- und Fernsehproduzent hat sich in seine Arbeit gestürzt, besucht die Mutter seines verstorbenen Partners regelmäßig und war in diesem Jahr zum ersten Mal allein auf Reisen. Der Schmerz über den Verlust ist dennoch allgegenwärtig. „Ich lebe so weiter, aber es ist eben nur ein Weiterleben, kein Leben“, sagt er, und ihm bricht die Stimme. „Über allem liegt ein Schleier.“

Unfallfahrer wegen fahrlässiger Tötung verurteilt

Am 17. August 2021 wurde der Unfallfahrer vom Amtsgericht St. Georg wegen fahrlässiger Tötung zu einer sechsmonatigen Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt. Zeugenaussagen zufolge ist davon auszugehen, dass der Unfallfahrer vier Sekunden lang nicht auf die Straße geschaut hat und dadurch weder die auf Rot springende Ampel noch Thomas Goltz gesehen hat. „Als Ablenkungsgrund kommen nach den Ergebnissen in der Untersuchungsakte offenbar nur die Messgeräte infrage, die in dem Testfahrzeug, einem VW Golf, installiert waren. Dieses wurde auch im Plädoyer der Staatsanwältin so formuliert“, so Jan Philip Lange.

Und genau um diese Messgeräte, um die mögliche Ablenkung, die diese für die Testfahrer seiner Meinung nach bedeuten können, darum geht es ihm mehr als eineinhalb Jahre nach dem Tod seines Partners. Deshalb spricht er öffentlich darüber. „Wäre es vermeidbar gewesen?“, fragt er sich immer wieder. Was ihm wichtig ist: „Thomas hat keine Schuld. Er ist bei Grün über die Fußgängerampel gegangen.“ Der Fahrer müsse abgelenkt worden sein. Laut Gutachten hat er nicht aufs Handy geschaut.

VW prüft Alltagstauglichkeit der Autos mit Messgeräten

Nur der Fahrer weiß, warum er nicht auf die Straße geguckt hat, hat dazu jedoch nichts in der Verhandlung gesagt. „Es stellt sich die Frage, ob solche Fahrten im öffentlichen Straßenverkehr sinnvoll sind“, so Lange. Er hat sich an den VW-Konzern gewandt.

Der VW-Konzern sagt zu dem Einzelfall nichts. Nur allgemein so viel: Solche Fahrten, sogenannte Abstimmungsfahrten, werden durchgeführt, kurz vor der Produkteinführung eines Fahrzeugs. Da gehe es darum, dass normale Autofahrer zu normalen Verkehrsbedingungen noch einmal mit dem Fahrzeug unterwegs sind, um abzustimmen, ob qualitativ alles passt. Die Mess- und Aufzeichnungsgeräte seien dafür im Kofferraum untergebracht. Fällt dem Fahrer während der Fahrt etwas auf, so beschreibt es ein Konzernsprecher, werde ein Knopf gedrückt, um die Situation aufzuzeichnen.

Der Fahrer ist verurteilt. Thomas Goltz wird nicht wieder lebendig. Der Schmerz bei Jan Philip Lange bleibt.