Hamburg. Gallois kämpfte mit Napoleon und war Lehrer am Johanneum. Niemand ahnte, dass er eine meisterliche Satire über Hamburg verfasst hatte.
Das Leben, das Jacob Gallois in Hamburg führte, war ziemlich unscheinbar. Er, der als 20-jähriger Überlebender des Russlandfeldzugs Napoleons 1813 halb erfroren in Hamburg gestrandet war, ließ sich hier nieder, fand eine Stellung als Französisch-Lehrer am Johanneum, und führte ein unauffälliges Leben mit seiner Frau Emilie Rodatz, mit der er 14 (!) Kinder hatte. Nach einem halben Jahrhundert im Dienste der Gelehrtenschule blieben dem Sohn eines Pariser Apothekers noch fünf Jahre als Pensionär, bevor er 1872 im Alter von 79 Jahren starb.
Niemand ahnte, dass er im Geheimen eine meisterliche Satire über Hamburg und die Hamburger verfasst hatte. Während sein Sohn Johann Gustav als Anwalt, demokratischer Vorkämpfer und Verfasser mehrerer Bücher über Hamburgs Geschichte einige Berühmtheit erlangte, war Jacob Gallois bald vergessen – bis 75 Jahre nach seinem Tod eine alte Handschrift auftauchte. Seine Tochter Laura hatte sie ihrer Nichte Anna vermacht, deren Mann Willi Schübli sie schließlich an die Journalisten und Autor Carl Albert Lange und Robert Pomfrett weiterreichte, die daraus ein kleines Buch machten: „Der chinesische Spion in Hamburg“, das 1950 erschien.
Jacob Gallois schrieb eine Satire über Hamburg
Gallois hatte in den 30er-Jahren des 19. Jahrhunderts seine Beobachtungen als Skizzen niedergeschrieben und sie in den 50er-Jahren überarbeitet – sein scharfzüngiger Spott weist ihn als Bruder im Geiste Heinrich Heines aus. Er bediente sich eines damals beliebten Kunstgriffs, indem er einen Chinesen als Autor ausweist, der als geheimer Gesandter Berichte für den Kaiser verfasst. Ob Gallois sich jemals um eine Veröffentlichung bemüht hat, wissen wir nicht. Unter seinem Namen hätte er es jedenfalls kaum wagen dürfen – seine Stellung als Lehrer wäre er wohl losgeworden. Denn der „Ehrwürdige Rat“, wie der Senat damals noch hieß, war nicht eben für seinen Humor bekannt.
Nun aber sei Herrn Gallois das Wort erteilt. So schrieb er ...
Über den Senat: In Hamburg braucht man für alles eine gewisse Lehrzeit: der Schneider, um einen Anzug zu verpfuschen, der Zahnarzt, um einen gesunden Zahn mit Erfolg zu ziehen; lediglich der Herr Senator hat so etwas nicht nötig. Sobald solch ein Mann die Tracht anlegt, kommt zu dem Amt auch schon der Verstand. (...) Erwähnte ich schon, dass es 24 Senatoren gibt? Böse Zungen behaupten, dass es im Augenblick 230 gebe, weil man das letzte Mal bei einer Ernennung zu den vorhandenen 23 eine Null hinzugefügt habe.
Über die Hamburgerinnen: Ihr Mund ist zwar hübsch, aber nicht allemal entsprechend möbliert. Es gibt Frauen mit so großen Füßen, dass, sollte sie plötzlich der Schlag treffen, sie aufrecht stehen bleiben würden. Nichts erscheint ihnen zum Schmuck ihrer Person schön genug, und sie sind der Überzeugung, dass mit dem Wert der Dinge, die sie auf dem Körper tragen, auch das Gefallen, das sie erregen wollen, zunimmt. Zum Unglück gleichen sie den Bildern, bei denen der Rahmen weit mehr Wert besitzt.
Über die Bürgergarde: Sie tragen preußisch-blau und eine Kniehose, nach einem Muster aus dem Jahre 1364 geschnitten. Der Säbel ist ihnen untersagt, da man fürchtet, sie könnten sich beim Spielen damit verletzen. Zwölfmal im Jahr übt man ein bisschen, und wenn man danach imstande ist, links von rechts zu unterscheiden, wird man Offizier. Und da ein Jeder alles Mögliche anstellt, um dieser Gunst auszuweichen, muss man schon über sehr, sehr viel Protektion verfügen, um nicht befördert zu werden. Jedes Bataillon hat eine Fahne, eine wahre Jungfrau des Ruhms. Die Devise ist: Die Garde ergibt sich, aber sie stirbt nicht!
Über das Theater: Zur Bequemlichkeit der Einwohner hat man das große Theater an einem der äußersten Enden der Stadt erbaut. Der Architekt ist mit seinen schöpferischen Kräften überaus sparsam umgegangen. Was das Innere betrifft, so wäre es nicht übel, wenn man von der Hälfte der Logen aus wenigstens sehen und von einem beliebigen Platz aus besser hören könnte – ein Übel, welches übrigens der Mehrheit der Schauspieler nur zugutekommt.
Über die Makler: Diese Gattung amphibienhafter Geschöpfe, die sich nur in Dinge einmischen, die sie nichts angehen, nennt sich Makler. Sie bilden die zahlreichste, rührigste und habgierigste unter Hamburgs Cliquen. Als Zeichen ihrer Würde tragen Makler wie Marschälle Frankreichs einen kleinen Stab. Dieser verleiht die Berechtigung, sich in die Angelegenheiten anderer einzumischen und einen Teil des Profits zu beanspruchen.
Über den Michel: Ein so schönes und kühnes Gebäude, das es wirklich verdient hätte, in einer anderen Stadt zu stehen.
Über Kaufleute: Sie können nichts als Ziffern malen. Freundschaft wird einkalkuliert, Ergebenheit addiert, Treu und Glauben subtrahiert, Arglist multipliziert. Adam Riese ist ihr Voltaire. Daher hat ihr Benehmen die ganze Anmut einer Preisliste, die Liebenswürdigkeit einer Rechnung, die Artigkeit eines Frachtbriefs. Begegnet man zufällig einem Kaufmann auf der Straße und begrüßt ihn, so macht er ein Gesicht, als erwarte er zwei Prozent Provision für die Erwiderung des Grußes.
Über Advokaten: Für die Aufrechterhaltung der Zwietracht unter den Bürgern sind die Advokaten da. Sie fördern wo immer den Streit, ohne sich selbst zu erregen, und besonders in Hamburg lieben sie es, um ein Nichts zu stänkern. Die Schikane mästet sie, und die Eintracht der Bürger betrübt sie aufs tiefste. in Frankreich endet alles mit einem Liede, in Hamburg mit Rechnungen, und in diesem Punkte nehmen es die Advokaten zu ihrem Vorteil mit den Apothekern auf.
Über die Oberalten: Es handelt sich um eine Gesellschaft von Invaliden, eine Sammlung von Perücken, einen Rosenkranz von Einfaltspinseln: Es sind antike, beratende und verdauende Nullen. Diese Herren werden dafür bezahlt, dass sie nichts tun, und dies ist die einzige Tätigkeit, die sie tatsächlich in angemessener Weise ausüben.
Über Leichenträger: Sie sind die Makler des Todes und die Lieferanten der Kirchhöfe. Diese Leute riechen auf zehn Schritt nach einem Leichentuch, und es bereitet ihnen Sorge, wenn es einem gut geht. Eine tüchtige Krankheit, die viele Leute hinwegrafft, und erst recht eine Epidemie macht sie restlos glücklich. Sie sind von übertriebener Höflichkeit zu den Ärzten, weil diese allein sie mit der nötigen Ware versorgen. Man muss in Hamburg schon recht begütert sein, um sich den Luxus des Sterbens leisten zu können. Ein Toter erfordert an einem Tage eine Summe, von der er volle sechs Monate leben könnte. Der Aufwand der Leichenzüge übertrifft alles Dagewesene und könnte einen Menschen zugrunderichten, wenn so etwas häufiger vorkommen sollte.
Literarisches: Es bedarf keiner besonders großen Fantasie, um einzusehen, dass auf so merkantilem Boden die Literatur wohl kaum auf einen grünen Zweig kommen kann. Spricht man hier von „belles lettres“, so denken die meisten Leute an solche Briefe, in denen einem Preisermäßigungen mitgeteilt werden. Man legt Schiller beiseite, um die Einfuhrliste zu studieren. Der erste Dichter der Epoche würde hier an geistiger Entkräftung eingehen. Die Bibliotheken sehen sich alle ähnlich, das heißt, sie bestehen aus Kassenbüchern, Bankbüchern, Rechnungsbüchern, Fakturabüchern, Hauptbüchern und schließlich dem Journal, aber nicht von einem Reisenden, sondern von einem langweiligen Stubenhocker geführt. Kürzlich zeigte ich einem Kaufmann das schönste Literaturerzeugnis unserer Tage – der Mann versicherte mir, dass ihn mehr als das Gedruckte das Papier interessiere, da er dieses doch immerhin wieder verkaufen könne.