Hamburg. CDU und CSU haben als Volkspartei die Bundesrepublik über Jahrzehnte stabilisiert – doch nun müssen sie von der SPD lernen.
Es ist lange her, da erzählte mir ein ehemaliger Ministerpräsident, wie sehr sich Helmut Kohl um seine Partei sorge. „Angela Merkel wird die Union zerstören – sie weiß es nur noch nicht“, sagte demnach der Kanzler der Einheit über seine Nachnachfolgerin. In dem Zitat klingen Bitterkeit und Zorn mit. Denn Merkel, „Kohls Mädchen“, hatte sich in der Parteispendenaffäre von ihrem Ziehvater losgesagt.
Im Jahr 2000 übernahm sie die Union in schwerer See – in Umfragen lag die stolze Partei plötzlich bei nur noch 30 Prozent. Merkel führte sie in Umfragen bis 2005 nahe an die 50-Prozent-Marke, bevor sie gegen Kanzler Gerhard Schröder den Wahlsieg fast noch verstolpert hätte. 35,2 Prozent holte die gebürtige Hamburgerin am Ende – ein Ergebnis, das sie fast das politische Überleben gekostet hätte.
Union ist in eine Vierteilpartei zerlegt worden
16 Jahre später kann die Union davon nur träumen, sie ist zur Viertelpartei zerlegt worden. Bei der Bundestagswahl im September landete Armin Laschet bei kümmerlichen 24,1 Prozent. Ganz falsch war Kohls Warnung nicht. Die vermeintlich letzte Volkspartei ist nicht wie die SPD über Jahre erodiert, sie ist in den heißen Wahlkampfwochen des Sommers implodiert: Noch Mitte Juni sah das Meinungsforschungsinstitut Allensbach die Union bei 40 und die SPD bei 14 Prozent. Einen Vorsprung von 26 Prozent zu verspielen ähnelt einer Niederlage im Fußball nach einer 6:0-Führung. Das schafft nicht einmal der HSV.
Vor diesem Hintergrund verwundert, warum Armin Laschet nach diesem Wahl-, besser Abwahlergebnis immer noch im Amt ist. Die Niederlage traf die Union unvorbereitet: Geblendet von hübschen Umfragen und freundlichen Leitartikeln hat die Partei über viele Jahre offenbar nicht einmal mitbekommen, wie nackt sie dasteht: Ohne überzeugendes Personal. Und schlimmer noch: ohne eine erkennbare Programmatik. In insgesamt zwölf Jahren Großer Koalition unter Angela Merkel bestand christdemokratische Politik oft darin, die eine Hälfte des SPD-Programms umzusetzen und die andere Hälfte zu verhindern. Für Politik, die gestalten will, ist das ein bisschen wenig.
Wofür stehen 16 Jahre CDU-Regierung?
Man kann es auch härter formulieren: Für die Geschichte der stolzen Union, der Partei des Wohlstands für alle, der Westintegration, des Wirtschaftswunders und der Wiedervereinigung ist das eine bittere Bilanz. Für welche Erfolge stehen 16 Jahre CDU-Regierung? Außenpolitisch machte die Kanzlerin eine gute Figur. Auch die Wirtschaft lief rund, aber nicht aus eigener Leistung, sondern weil Kanzler Gerhard Schröder (SPD) mit der Agenda 2010 die Basis gelegt hat – und Deutschlands Wirtschaftsstruktur wie geschaffen war für das Jahrzehnt der Globalisierung. Es waren goldene Jahre mit niedriger Arbeitslosigkeit und stetig wachsenden Steuereinnahmen. Es ging den Deutschen gut. Heute ahnen immer mehr: vielleicht zu gut.
„Die meisten Fehler machen Unternehmen, wenn es ihnen gut geht, nicht wenn es schlecht läuft“, wusste der frühere Deutsche-Bank-Chef Alfred Herrhausen. Offenbar kannte die Union den Satz des Kohl-Beraters nicht: Das Land hat die Digitalisierung in den zurückliegenden Jahren ziemlich verschlafen. Beim Digital-Economy-and-Society-Index der Europäischen Kommission landet Deutschland, das über Jahre Haushaltsüberschüsse produzierte, auf einem lausigen 12. Rang – hinter Ländern wie Spanien, Malta oder Estland. Die Verkehrsinfrastruktur ist in einem erbärmlichen Zustand – mehr als jede zehnte der rund 40.000 Brücken in Deutschland bekommt von der Bundesanstalt für Straßenwesen die Note „nicht ausreichend“ oder gar „ungenügend“.
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Und der Anteil der Verkehrsinvestitionen am Bruttoinlandsprodukt ist im vergangenen Jahrzehnt sogar noch gesunken. Die Deutsche Bahn fährt im europäischen Vergleich hinterher. Die Corona-Krise bewies, wie überraschend schlecht deutsche Behörden funktionieren – von faxenden Gesundheitsämtern bis zum Robert-Koch-Institut, das bis heute nicht weiß, wie viele Menschen geimpft sind. Und das verheerende Unwetter im Ahrtal hat den Ruf des Organisationsweltmeisters weggespült.
Die Union bewegt sich wie eine Flipperkugel
Nicht für alles ist die Bundesregierung verantwortlich – und nicht die Union. Aber sie hat es nicht vermocht, eine Geschichte zu erzählen, wohin das Land eigentlich will, was sich ändern muss – und was sich vielleicht auch nicht ändern sollte. Gerade das Konservative war eine Strömung, die die CDU und CSU stark gemacht hat. Zuletzt aber hatte man den Eindruck, alles Konservative wäre der Partei irgendwie peinlich. Die Union bewegt sich zeitgeistverliebt wie eine Flipperkugel – ziellos, erratisch, Hauptsache, es gibt Punkte.
Da stellt mancher schon die Frage, was denn Unionspolitiker in den 80er-, 90er- oder Nuller-Jahren bewog, in die CDU oder CSU einzutreten – und was davon geblieben ist. Der umstrittene Unions-Politiker Hans-Georg Maaßen sagte bei einem Auftritt im baden-württembergischen Weinheim: „Ich bin vor 30 Jahren nicht der CDU beigetreten, damit heute 1,8 Millionen Araber nach Deutschland kommen.“ Die Medienlandschaft in der Bundesrepublik tobte nach diesem Satz vor Empörung, der Saal in Weinheim vor Begeisterung. Nun gibt es gute Gründe, sich mit dem ehemaligen Verfassungsschutzpräsidenten kritisch auseinanderzusetzen, aber clever war es nicht, wie Karin Prien, frühere Hamburger Bildungspolitikerin und zuletzt Mitglied in Laschets Zukunftsteam, in der Öffentlichkeit zu fragen, „was Herr Maaßen eigentlich in der CDU sucht“ und die Wahl seines SPD-Gegenkandidaten indirekt zu empfehlen.
Die Union hat – damit hatten viele ihrer Gegner stets gehadert – die rechte Flanke geschlossen: Franz Josef Strauß brachte es einst auf den Punkt: „Rechts von der CSU darf es keine demokratisch legitimierte Partei geben!“ Damit fuhren die Partei und die Republik unter dem Strich gut: Weil rechte Stimmen nie die Mehrheit erlangten, wurden sie in der Union demokratisch eingehegt – so wie es die Grünen und SPD übrigens mit radikal linken Positionen auch schaffen.
Union hat große Teile ihrer konservativen Klientel verloren
Angela Merkel hat die rechte Flanke geöffnet. Kurzfristig konnte sie damit links der Mitte punkten – doch nun hat die Union nicht nur diese Wähler verloren, sondern auch große Teile ihrer konservativen Klientel. Sie hat einen eigenen Traditionskern verleugnet und jede Diskurshoheit aufgegeben. Vermeintlich „rechte Themen“ wie Innere Sicherheit, Integration und Migration hat sie der AfD kampflos überlassen und sie damit fast diskreditiert, die Wirtschaftskompetenz hat sie an die FDP abgetreten. Linke Themen aber können Sozialdemokraten und Grüne seit jeher glaubwürdiger besetzen. Die CDU erinnerte zuletzt an den spießigen Klassenstreber von früher: Der hatte selten eine eigene Meinung, hielt sich lieber an die Mehrheit. Er war vielleicht der Beste in der Schule, aber cool war er nie.
Ungefähr da steht jetzt die Union. Vom politischen Gegner ergießt sich Häme über die Partei, in den eigenen Reihen wächst die Lust am Untergang: „In der CDU darf jetzt kein Stein mehr auf dem anderen bleiben“, sagte etwa JU-Chef Tilman Kuban. Das scheint dann doch überzogen und erinnert fast an den Blogger Rezo und seine unterkomplexe Fantasie von der „Zerstörung der Union“. Jeder, der noch ein paar Tassen in seinem Schrank hat, darf sich das nicht wünschen. Denn die Union hat, bei aller notwendigen Kritik, die Republik über Jahrzehnte geprägt und stabilisiert.
Sogar politische Gegner sorgen sich um CDU und CSU
Was wäre, wenn die CDU/CSU verschwände oder zur Mittelpartei schrumpft? Anderen Staaten wie Italien, den Niederlanden oder Frankreich ist die Implosion der Konservativen nicht gut bekommen – als Konsequenz haben dort Rechtspopulisten kräftig zugelegt. Wer der CDU/CSU den Verfall wünscht, möchte offenbar die AfD endgültig in der Parteienlandschaft etablieren. Auch deshalb sorgen sich sogar politische Gegner um die Union: Bei Lanz sagte der grüne Parteichef Robert Habeck nun: „Wir brauchen eine konservative Mitte-Partei in Deutschland. Ich hoffe, dass die Union diesen Weg findet.“
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Eine funktionierende Union integriert große Bereiche des politischen Spektrums. Nach dem Krieg versöhnte sie Katholiken und Protestanten in einer Bewegung, machte Altnazis und Mitläufer des Dritten Reiches zu Demokraten und half, Klassengrenzen zu überwinden. Das Gute an Volksparteien – und dazu zählt auch wieder die SPD – ist, dass unter ihrem Dach widerstreitende Meinungen zu einem Kompromiss zusammenfinden.
Volksparteien integrieren unterschiedliche Generationen, Geschichten, Gedanken, Geschmäcker. Volksparteien stehen für genau die Vielfalt, die alle stets einfordern, aber nur selten leben: Wo treffen Unternehmer auf Arbeiter, Reiche auf Arme, Gläubige auf Atheisten, Junge auf Alte? In den Volksparteien – sie waren über Jahrzehnte ein Marktplatz der Republik.
CDU: Die eigenen Leute haben nicht für Laschet gekämpft
Eine Union, die wieder erfolgreich sein will, benötigt eine neue Diskussionskultur. Vor allem bedarf es einer politischen Idee. Die Idee, eine schwarze SPD mit besserem Personal zu sein, scheitert in dem Moment, sobald der Gegner das bessere Potenzial aufbietet. Opposition mag – wie es SPD-Urgestein Franz Müntefering einst ausdrückte – „Mist“ sein, sie bietet aber die Chance, inhaltlich klarer und konturierter zu kommunizieren. Die CDU hat im Bundestag zwar 48 Sitze verloren, verfügt aber noch immer über 152 Mandate. Die intrigante Schwester aus Bayern hat nur einen Sitz eingebüßt und kommt auf 45 Abgeordnete. Der Verlust an Köpfen ist zu verschmerzen, wenn es gelingt, die frustrierte und demoralisierte Mitgliederschar wieder zu motivieren. Die Union hat auch deshalb verloren, weil die eigenen Leute nicht für Laschet gekämpft haben.
Mit richtigen Schwerpunktsetzungen und offenen Diskussionen kann sich die Union neu erfinden: Wie wollen wir leben, vor allem aber wovon? Wie lassen sich Wohlstand und Klimaschutz verbinden? Wer soll das bezahlen? Die Jungen, die der Klimawandel trifft? Wie gelingt Migration? Wie lässt sich Gesellschaft zusammenführen? Wo irrt der Zeitgeist? Wo droht Toleranz in Zeiten einer identitätspolitischen Hysterie der Intoleranz den Weg zu bereiten? Themen gibt es genug – und eine neue Regierung aus drei Parteien bietet der Union gerade am Anfang ausreichend Reibungsfläche, um sich zu profilieren. Die Dynamik der Wählerwanderung zeigt ja, was möglich ist – wer schnell verliert, kann auch schnell gewinnen.
Dafür benötigt die Union kluge Köpfe. Nur wo ist der Scholz der Union? Markus Söder ist es nicht – neben Merkel und Laschet ist er im Bunde der Dritte, der für das Desaster bei der Bundestagswahl Verantwortung trägt. Eine bürgerliche Partei, die so unmanierlich miteinander umgeht, entleibt sich selbst. Neue Hoffnungsträger gibt es wenige – in den Ländern hat sich vor allem Daniel Günther hervorgetan, der aber die Landtagswahl im kommenden Mai erst einmal gewinnen muss: vielleicht auch Tobias Hans oder Michael Kretschmer. Alle auf Bundesebene derzeit gehandelten Kandidaten bringen ein Handicap mit – Friedrich Merz steht nicht für Aufbruch, Jens Spahn hat sich als Gesundheitsminister kaum mit Ruhm bekleckert, Carsten Linnemann oder Ralph Brinkhaus sind zumindest derzeit etwas eindimensional. Norbert Röttgen vereint zu viele Niederlagen in seiner Vita.
Auch Friedrich Merz sei für die Union keine Leitfigur mehr
Kein Scholz, nirgends – auch das ist das Ergebnis einer verfehlten Parteiführung. Ein ehemaliges Vorstandsmitglied der Bundes-CDU kritisiert: „Leider haben sich Wolfgang Schäuble und Volker Bouffier als Moderatoren durch ihren Kampf für Laschet verbraucht, auch Merz ist keine Leitfigur mehr. Wo war er im Wahlkampf?“, fragt er: Auch der Niedersachse Bernd Althusmann und Thomas Strobl aus Baden-Württemberg hätten trotz der klaren Voten ihrer Kreisverbände für Söder am Ende für Laschet gestimmt. Sein Resümee: „Das müssen jetzt die Unverbrauchten machen.“
So muss die Union von der SPD lernen: Eine Mitgliederbefragung ist nicht ohne Risiko, aber bietet die Chance, wenn sich so neue Spitzenkräfte ins Rampenlicht dribbeln. Vielleicht kommen Überraschungskandidaten nach vorne – etwa der Historiker Andreas Rödder. Manche mögen verächtlich auf das Beispiel SPD verweisen und meinen damit das Duo Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans. Man kann die beiden kritisieren, aber sie haben ihre Partei geeint und zugunsten von Scholz verzichtet: Hätte der Hamburger hingegen vor zwei Jahren den Mitgliederentscheid knapp gewonnen, die Sozialdemokraten hätten sich vermutlich weiter zerfleischt.
Union: Die Situation der CDU ist nicht aussichtslos
Wichtiger als ein Scholz-Herausforderer sind nun erst einmal Kandidaten, die eine demoralisierte Union wieder aufrichten. Wichtiger als die Mehrheitsfähigkeit im Land ist zunächst die Begeisterungsfähigkeit in den eigenen Reihen. Erst danach kann es dann um den richtigen Mann oder die richtige Frau fürs Kanzleramt gehen. So aussichtslos, wie es nach der vernichtenden Niederlage derzeit erscheint, ist die Situation der CDU indes nicht: In einer tendenziell eher konservativen Republik hat die Union Chancen auf ein Comeback. Sie benötigt klare Konturen, kluge Köpfe und kräftige Flügel, um zu fliegen.
Die Richtung sollte klar sein – und führt nur durch die Mitte. Eine erfolgreiche Union muss sich dem Ewiggestrigen der Rechten ebenso widersetzen wie dem überkandidelten Übermorgigen der Linken. Es geht nicht um 1950 oder 2050, sondern ums Jetzt, ums Hier und Heute. Es wäre höchste Zeit, anzufangen.