Hamburg. Die Messe geht in abgespeckter Version über die Bühne. Trotzdem pulsiert das literarische Leben. Unsere Buchtipps.
Maskenpflicht, 3G, Abstand – eh klar. Die diesjährige Ausgabe der Frankfurter Buchmesse vom 20. bis 24.10. findet mit speziellen Vorkehrungen statt. Aber die Messehallen sind wieder bereit für Publikum, wenngleich dieses auf 25.000 Besucher am Tag beschränkt sein wird. Geboten, neben den üblichen, Bücher-bewehrten Verlagsständen, wird dennoch einiges. Lesungen, Podiumsgespräche, viele davon auch digital, zum Beispiel. Man kann, als Literaturenthusiast, den Kontakt zu den Dichtern und Denkern durchaus suchen.
Das Motto heißt also folgerichtig „Re:connect – Welcome back to Frankfurt“, und immerhin 1700 Aussteller aus 74 Ländern finden bei dieser 73. Ausgabe der größten Buchmesse der Welt auch den Weg in die hessische Metropole. 2019, bei der letzten Ausgabe unter Normalbedingungen, waren es knapp 7500 Aussteller aus 120 Ländern.
Frankfurter Buchmesse: Friedenspreis wird verliehen
Ein abschließender Höhepunkt ist, wie üblich, die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels am 24. Oktober in der Paulskirche. Geehrt wird in diesem Jahr die simbabwische Autorin und Filmemacherin Tsitsi Dangarembga. Das kulturelle Afrika bekommt dann auch hierzulande höchste Weihen, nachdem bereits am siebten Oktober der tansanische Schriftsteller Abdulrazak Gurnah den Literaturnobelpreis zuerkannt bekam.
Ob Blockbuster-Autoren wie Jonathan Franzen („Crossroads“), ewige Horrorthrillerkönige wie Stephen King („Billy Summers“), deutsche Schriftstellerinnen wie Jenny Erpenbeck („Kairo“) oder Thomas-Mann-Fans wie Colm Tóibín („Der Zauberer“) – an gepriesenen und gefeierten Neuerscheinungen herrscht kein Mangel.
Entdeckungsfreudige Leserinnen und Leser werden auch darüber hinaus 2021 leicht fündig, was neue Sachbücher und Romane angeht. Möge ihnen diese Literaturseite mit zehn handverlesenen Tipps der Abendblatt-Kulturredaktion bei der Auswahl helfen.
Eine Nation in Kanada
„Ich hatte mich für mich selbst entschieden“, schreibt die Erzählerin. Und das bedeutet für die Romanfigur Yammie: eine schwierige Trennung. Von einem Mann, von der Stadt. Und die Rückkehr an den Ort, den sie als Kind verließ. Uashat ist ein indianisches Reservat in der Provinz Québec. Dort wird sie als Lehrerin arbeiten, die Kinder der Innu zu unterrichten, wie die indigene Nation hier heißt, sie ist eine von elf in ganz Kanada.
In dem in ihrer Heimat gefeierten Roman „Die kleine Schule der großen Hoffnung“ (C. Bertelsmann, 16 Euro) erzählt die 1987 in Uashat geborene Naomi Fontaine an ihrer eigenen Biografie entlang. Es ist das Zeugnis einer engagierten Lehrerin, die mit ihren Schülerinnen und Schülern, die oft tristen Lebenswelten entstammen, intensive Momente erlebt. Yammies Erlebnisse am Ort ihrer Herkunft sind unterschwellig auch immer Selbstbefragungen: Wie „indigen“ ist sie noch?
„Die kleine Schule der großen Hoffnung“ ist ein Roman über Identität und über die Ureinwohner, die zwischen ihren eigenen Traditionen und der Mehrheitsgesellschaft ihren Weg finden müssen. Kanada ist in diesem Jahr Gastland der Frankfurter Buchmesse, und die auf Französisch schreibende Naomi Fontaine ist eine spezielle Entdeckung jenes Literaturlandes.
Lenz und der Karpfen
Liselotte und Siegfried Lenz saßen oft auf ihrem „Meditationsbänkchen“ am Tetenhusener Teich bei ihrem Sommerhaus. Dort schwammen Fische. Dort entdeckte der große Schriftsteller (1926–2014) seine Liebe zum Karpfen. Der wurde 1999 tatsächlich zum „Fisch des Jahrhunderts“ gekürt. Lenz hielt die Festrede: „Ihr Karpfen seid von altem, ehrwürdigem Geschlecht.“
Abgedruckt ist sie in einem neuen Bändchen, das alle Lenzianer begeistern wird. „Florian, der Karpfen. Ein Märchen und seine Geschichte“ (Hoffmann und Campe, 15 Euro) ist ein Buch, das sich ausschließlich mit Lenz’ Liebe zur Natur und dort insbesondere der Unterwasserwelt beschäftigt. Im Zentrum steht das titelgebende Kinderstück, in dem Karlchen mit den Geschöpfen des Sees Zwiesprache hält auf der Suche nach der begehrten Schwimmblase.
Er lässt sich von zwei Haubentauchern ziehen, und dann trifft er den alten Karpfen Florian. Der kann das mit den Schwimmblasen. „Florian, der Karpfen“ hat sich, wie der Furore machende Roman „Der Überläufer“, im Nachlass gefunden. Die Geschichte, die 1953 im Kinderfunk des NWDR ausgestrahlt wurde, wird in diesem Buch erstmals abgedruckt. Zu sehen sind auch Aufnahmen von Lenz, der Karpfen einst angelte, sie am Ende seines Lebens, am Teich, aber streichelte.
Koks, Rock, Rule Britannia
Man kann wahrlich behaupten, dass dieser Mann dabei war. Alan McGee, 1960 in Glasgow geboren, kam als leidlich erfolgreicher Musiker in den 80ern nach London, entdeckte und managte The Jesus & Mary Chain, gründete das legendäre Label Creation Records. Auf dem waren in den 90er-Jahren die Bands, die Großbritanniens Popruhm neu entfachten: Primal Scream, My Bloody Valentine, Super Furry Animals, Teenage Fanclub. Und Oasis, natürlich.
Eine berühmte Aufnahme zeigt McGee und Noel Gallagher vor 10 Downing Street, wo die Abgesandten des Britpop einst auf Premier Tony Blair trafen. In seinem offenherzigen Memoir „Randale, Raves und Ruhm. Storys eines Labelmachers“ (Matthes & Seitz, 24 Euro), das jetzt auf Deutsch erscheint, blickt McGee zurück. Und man fragt sich schon, wie dieser Teufelskerl das gemacht hat – sich jahrelang zuzuballern mit quasi allem, was greifbar ist, und sich lange Zeit später trotzdem an alles zu erinnern.
Mehr Wahrheit als Dichtung wird dieses vergnügliche Buch dennoch sein, das von Geschmack, wildem Hedonismus und vor allem von einer Zeit handelt, in der Rock noch die maßgebliche Spielart der Popmusik war. Der Lebenshunger verband sich bei den Protagonisten mit einem gesellschaftlichen Aufstieg, aber auch Abstürzen.
Leben bis zum Tode
Ein Jahr will der Schriftsteller in diesem schmalen, dichten Büchlein noch leben. Selbstbestimmt sterben, wenn er noch fit ist und nicht ganz unglücklich. Emotional verschrottet ist er zwar ein wenig. Das wissen wir Leser, weil wir Tomas Espedals autobiografischen Zyklus kennen. In „Wider die Natur“ berichtete er von einer Liebschaft, die endete – es war gleichzeitig das Ende des großen, leidenschaftlichen Liebens für diesen Mann. Mit „Lieben“ (Matthes & Seitz, 18 Euro), dem zehnten autofiktionalem Buch des großen norwegischen Schriftstellers, bei dem Karl Ove Knausgård in die Schreibschule ging (nicht nur ideell, sondern tatsächlich – in Espedals Heimatstadt Bergen), endet das Projekt nun.
Dies ist ein wie immer leiser, Sogkraft aus dem reduzierten Erzählstil und dem forcierten literarischen Existenzialismus ziehender Roman. Sein Held Ich – interessante Verfremdung, weil dennoch in der dritten Person erzählt – hat nach seinem Beschluss das intensivste Jahr seines Lebens. Eine neue Frau, die schwanger wird. Genuss, alles, was schön ist am Leben; und dann bricht dennoch der letzte Tag an. Ich hat aber den Rasen noch nicht gemäht. Kann man sich da wirklich umbringen?
„Lieben“ ist ein weises Buch, voller Melancholie und Lebenslust, und eine Erinnerung an ein kostbares Geschenk.
Beauvoirs Schulfreundin
So etwas nennt man ein literarisches Schätzlein: Fast sieben Jahrzehnte nach seiner Niederschrift erscheint nun erstmals auf Deutsch Simone de Beauvoirs Roman „Die Unzertrennlichen“ (Rowohlt, 22 Euro). Das bislang unbekannte Buch der französischen Starfeministin, Philosophin und Schriftstellerin erschien im vergangenen Jahr im Original. Zur Veröffentlichung freigegeben hat es Beauvoirs Adoptivtochter und Nachlassverwalterin Sylvie Le Bon.
Tat sie gut daran? Sicher doch. Der autofiktionale Text dürfte nicht nur Beauvoir-Fans entzücken, sondern auch bei anderen Leserinnen und Lesern Gefallen finden. Beauvoir (1908-1986) erzählt in „Die Unzertrennlichen“ die Geschichte einer Mädchenfreundschaft. Die Ich-Erzählerin Sylvie ist dabei ihr Alter Ego, eine gerade noch angepasste, dann immerhin ihre Oppositionshaltung zum Glaubensdiktat ihres Umfelds entdeckende Schülerin.
Die Romanfigur Andrée ist ein Abbild von Simones einstiger Schulkameradin Zaza. Ein selbstbewusstes, bewundertes, ja: geliebtes Kind, später eine Teenagerin, die aus einem „militant katholischen“ Elternhaus kommt, sechs Geschwister hat und bei all Nonkonformität im Auftreten, wenn es drauf ankommt, strengen Regeln ausgesetzt ist. Ihr Ende ist tragisch. Ein Buch als Zeugnis einer fremden Epoche.
Der Ur-Transgender
Irene Dische? Vollkommen in Ordnung. Wenn er, auf der Grenze zwischen Fakt und Fiktion surfend, von jemandem wie dem historisch verbürgten Chevalier d’Eon de Beaumont handelt, einem französischen Adligen, der gerne Frauenkleider trug und selbst in Zwischenbereichen unterwegs war.
Im Ton sehr alter Romane erzählt Dische in „Die militante Madonna“ (Hoffmann und Campe, 22 Euro) eine Schelmengeschichte: vom in London ansässigen Botschafter, der in Wirklichkeit für sein Land spioniert. Das klappt besonders gut, wenn er das Geschlecht wechselt. In London wird er/sie, der/die bald inmitten von Intrigen steht, zum Stadtgespräch – aufgrund der Frage, welches Geschlecht d’Eon de Beaumont denn nun in Wirklichkeit hat.
Er selbst ist da, wie er in seinem deutlich auf die Gegenwart gemünzten „Vorspruch“ kundtut, sowieso grundentspannt: „In meiner Zeit und in meinen Kreisen sprachen wir, wie es uns gefiel. In den obersten Gesellschaftsschichten, am kultiviertesten Hof der Welt kleideten sich die Männer wie Frauen und die Frauen wie Männer, und niemand regte sich über solche Kinkerlitzchen auf.“ Ein Roman also, der vielleicht sogar als Kommentar zu heutigen Sprachregeln herhalten kann, mindestens aber ein Plädoyer für allerschönste Libertinage.
Unbedingt herzzerreißend
Drei Brüder, eine tote Mutter. Sie wollte, dass ihre Kinder ihre Asche an den Ort bringen, an dem die Familie urlaubte; ein Holzhaus am See. Also fahren Nils, Benjamin und Pierre noch einmal dort hin, nach all den Jahren. Erinnerungen finden ihren Weg, es gibt Streit, es gibt eine Wiederannäherung.
Und es gibt ein traumatisches Ereignis, das das Leben der Familie für immer veränderte. Im Zentrum der Vergangenheitsbewältigung, die der großartige schwedische Erzähler Alex Schulman in seinem jetzt in gleich 31 Ländern erscheinenden Debüt „Die Überlebenden“ (dtv, 22 Euro) in Szene setzt, steht der mittlere Sohn Benjamin.
Sein Blick zurück im Schmerz fällt auf eine Familie, in der über Gefühle nicht geredet, in der zu viel getrunken wurde. In der es unter den Geschwistern Rivalitäten gab und bei den Eltern unausgesprochene Konflikte. Sehr langsam entblättert sich in diesem raffiniert komponierten Text, der von hinten nach vorne erzählt und dennoch nirgends kompliziert ist, ein Drama, das unbedingt herzzerreißend ist. Alex Schulman, der in seiner Heimat eine TV-Persönlichkeit ist und aus einer bekannten Journalistenfamilie kommt, ist ein Autor, der mit vollem Herzen über die Gefühle schreibt, die Familien zusammenhalten oder auseinandertreiben.
Wir federn zurück
Ein Ökonom, der angesichts pandemischer Bedrohungslagen zukünftig vor allem eine vorausschauende Wirtschaftspolitik fordert? Das verwundert nicht. Aber Michael K. Brunnermeier, aus Bayern stammender Princeton-Wissenschaftler, blickt in seinem Wirtschaftsbuch „Die resiliente Gesellschaft – Wie wir künftige Krisen besser meistern können“ (Aufbau, 24 Euro) mit wachem Blick nicht allein auf die Gesellschaft, sondern auch auf den Einzelnen.
Brunnermeiers Kernbegriff ist der der Resilienz. Er ist auch hierzulande in Mode gekommen. Brunnermeier will ihn explizit als die Kunst und Fähigkeit, „zurückzufedern“, verstanden wissen. Die „Robustheit“ ist also gerade nicht gemeint. Vereinfacht gesprochen, meint Resilienz in Brunnermeiers Sinne, kollektiv als Gesellschaft und individuell als Person durch Anpassungsfähigkeit mit veränderten Lebensvoraussetzungen umgehen zu können.
„Davon, wie stark diese Resilienz ausgeprägt ist, hängt ab, wie unsere Gesellschaft funktioniert“, schreibt Brunnermeier. Für einen Ökonomen hat Resilienz immer auch etwas mit dem Geschehen an den Börsen zu tun, aber interessant wird dieses Buch durch den analytischen Blick seines Autors auf Dinge wie (fehleranfälliges) Krisenmanagement, gentechnologischen Fortschritt und die Unternehmenswelt.
Der Zerfall
Osten war es ganz anders als im Westen. Das ist das mindeste, was sich sagen lässt. Korruption, überall. Mangelwirtschaft. Dafür sind die Menschen einander näher. Als die Romanheldin Tatjana in Berlin ankommt, sieht sie Gesichter, „die wie betäubt wirken“. Sowjetische und postsowjetische Lebenswirklichkeit: Das ist das Thema von Sasha Marianna Salzmanns zweitem Roman „Im Menschen muss alles herrlich sein“ (Suhrkamp, 24 Euro). Die 36-jährige, in Wolgograd geborene und in Berlin lebende Mara-Cassens-Preisträgerin („Außer sich“) erzählt in klugen und warmherzigen Passagen, die einen eigenwillig konstruierten, aber sehr flüssig geschriebenen Roman ergeben, von zwei Müttern und ihren Töchtern.
Fluchtpunkt der Handlung ist Lenas 50. Geburtstag in Jena. Die Migrationsgeschichten der Elterngeneration und die deutsche Sozialisation der Töchter spielen sich vor der Kulisse der geschichtlichen Umbrüche ab. Zerfall der Sowjetunion hier, Wiederaufflammen des russischen Nationalismus dort – in der Erzählgegenwart ist es der Krieg im Donbass, der die Handlung grundiert. Salzmann lotet in ihrem Roman Lebenswelten aus und gewichtet dabei unterschiedlich. Am gelungensten in Szene gesetzt ist Lenas Biografie vor dem Wegzug aus der ukrainischen Heimat.
Deutsche Superhelden
So, man kann es wirklich nicht oft genug schreiben: Wenn dieses derzeit bei Olympischen Spielen und Pandemiebekämpfungen, beim Fußballspielen und im Hinblick auf digitale Belange so irrsinnig durchschnittliche Land zuletzt Helden produziert hat, dann sind es diese. Özlem Türeci und Ugur Sahin, die Biontech-Gründer und Impfstoff-Pioniere, haben 2020 Geschichte geschrieben.
Manches ist über sie zuletzt berichtet worden, viel haben sie selbst erzählt von ihrem Tun seit Anfang 2020, das in der rekordverdächtigen Fertigstellung des mRNA-Impfstoffs, den auch hierzulande so viele in ihrem Impfpass stehen haben. Das Buch „Projekt Lightspeed“ (Rowohlt, 22 Euro), das der „Financial Times“-Journalist Joe Miller gemeinsam dem Mainzer Forscher-Ehepaar vorlegt, erzählt die Entwicklung des Vakzins nun als Medizin-Thriller.
Flüssig und verständlich werden hier nicht nur die Eigenheiten der Biontech-Forschung erklärt, sondern auch sehr akribisch die exakten Vorgänge rekapituliert, die in diesen Triumph der Medizin mündeten. Gerade Sahins Klarsicht – als er mit seinem Projekt am 25. Januar 2020 begann, gab es weltweit 1000 bestätigte Infektionen – und konsequente Vorgehensweise taugen als immerwährendes Anschauungsmaterial. Ein Sachbuch des Jahres.