Hamburg. In „Wie jetzt?“ spricht Chefredakteur Lars Haider mit Uni-Präsident Dieter Lenzen über die großen Themen unserer Zeit.
„Wie jetzt?“ – so heißt ein Gemeinschaftsprojekt von Hamburger Abendblatt und Universität Hamburg. Darin unterhalten sich Chefredakteur Lars Haider und Uni-Präsident Dieter Lenzen über Fragen, die Wissenschaft und Journalismus gleichermaßen bewegen. Diesmal geht es um den Zustand der Bundesrepublik: Ist er wirklich so marode, wie es viele behaupten? Und worum geht es dabei eigentlich – um Gebäude und Straßen oder um Menschen?
Lars Haider: Viele Politiker, gerade jene aus der Opposition, behaupten oft und gern, dass die Republik marode sei, und verweisen dann auf Schultoiletten, auf denen sie selbst wahrscheinlich zuletzt vor zehn Jahren gewesen sind, wenn überhaupt. Ich finde unser Land alles in allem gar nicht so marode. Im Vergleich zu vielen anderen Ländern, in denen ich unterwegs war, muss ich sagen, dass wir mit unserer Infrastruktur ordentlich dastehen. Auch wenn sie natürlich nicht so gut ist, wie es unser Anspruch sein müsste.
Dieter Lenzen: Der geschätzte Investitionsbedarf für Objekte, das heißt für Gebäude, Schulen oder Straßen, liegt in Deutschland bei 130 Milliarden Euro. Die Schulen stehen mit 44 Milliarden Euro ganz vorn. Ich bin auf dieses Thema gekommen, als ich neulich eine Autobahntoilette aufsuchen musste. Wenn es von der Fotos geben würde, und darunter stünde „made in Germany“, dann würde bei uns niemand mehr Urlaub machen.
Aber Autobahntoiletten sind nun mal auch mit das ekligste, was es gibt, zumindest wenn sie auf normalen Parkplätzen stehen und nicht zu einem Restaurant gehören.
Und trotzdem fragt man sich, warum das so ist. Das Gebäude war völlig in Ordnung, aber die Toilette war nicht gesäubert worden. Damit sind wir an einem wichtigen Punkt, wenn wir über die marode Republik sprechen: nämlich der Dienstleistungsknappheit, und die geht weit über Autobahntoiletten hinaus. Wir haben ein großes Defizit im Pflegebereich, wir leben in einem Land, das seine Alten nicht vernünftig betreuen kann. Oder nehmen Sie das Beispiel von Lieferungen nach Hause. Unsere Post kommt gar nicht mehr jeden Tag, sondern in der Regel nur noch jeden zweiten. Der Hausarzt heißt zwar immer noch Hausarzt, kommt aber gar nicht mehr nach Hause, wenn man ihn ruft. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Unser Dienstleistungssektor ist marode, weil die Berufe, die es dort gibt und die immer wichtiger werden, zu schlecht bezahlt werden. Da müssen wir ran, da ist viel zu holen, ob mit einem höheren Mindestlohn oder anderen Maßnahmen. Leider mögen viele Menschen diese Berufe nicht ausüben.
Das ist eine interessante Herangehensweise an die Frage, wie marode die Republik ist, lieber Herr Lenzen. Aber Sie haben recht: Dienstleistungen aller Art werden in einer Zeit, in der Menschen stärker im Homeoffice arbeiten, immer wichtiger. Wir berichten im Abendblatt fast jede Woche davon, wie schwer es etwa ist, Paketboten oder andere Zusteller zu finden, die Nachfrage danach ist in der Corona-Pandemie noch einmal stark gestiegen. Sie zu befriedigen wird kaum gelingen, wenn in naher Zukunft die geburtenstarken Jahrgänge nach und nach in den Ruhestand verschwinden und den Arbeitsmarkt auf einmal doppelt so viele Menschen verlassen wie dazukommen. Der Chef der Bundesanstalt für Arbeit, Detlef Scheele, hat im Abendblatt-Interview gesagt, dass wir im Saldo in den kommenden Jahren 400.000 Einwanderer pro Jahr benötigen. Das werden wir doch gar nicht schaffen. Unsere Struktur, unsere Republik wird also noch maroder, weil wir viel zu wenige Menschen haben, die hier arbeiten wollen. Denn machen wir uns nichts vor: So attraktiv ist Deutschland mit seinen ganzen Formularen, mit hohen Steuern und Abgaben und der vergleichsweise schwer zu erlernenden Sprache nun auch wieder nicht … Eigentlich müssten wir doch jetzt, wenn ich Ihren Argumentationen folge, sagen: Jeder, der bei uns etwas machen kann, ist herzlich willkommen.
Dieses Argument spielt in der Migrationsdebatte leider kaum eine Rolle. Es geht immer nur um die Frage, ob jemand berechtigt ist, nach Deutschland zu kommen, weil er oder sie verfolgt ist. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Das ist eine wichtige Frage, und sie muss unabhängig davon beantwortet werden, ob derjenige hier auch arbeiten kann. Das Versäumnis der Bundesregierung aber war, verleugnet zu haben, dass Deutschland de facto ein Einwanderungsland ist. Leider ist es ein zufälliges und kein gesteuertes Einwanderungsland. Da könnten wir uns ein Beispiel an Kanada nehmen.
Wir könnten und sollten doch glücklich sein über jeden, der zu uns kommt und der arbeiten will. Es geht eben nicht nur um Fachkräfte und hoch qualifizierte Arbeitnehmer, es geht auch um die vielen, vielen Dienstleistungsjobs, die das Leben leichter und besser machen können.
Mein Physiotherapeut ist ein Syrer, und zwar einer, der vor dem Krieg nach Deutschland gekommen ist und der lieber hier arbeiten wollte, nachdem er sich in seiner Heimat zum Physiotherapeuten hat ausbilden lassen. Solche Menschen müssen wir willkommen heißen.
Dafür müssen wir aber als Land an uns arbeiten. Denn neben all den Schwierigkeiten, die ich schon geschildert habe, schreckt Menschen aus anderen Ländern natürlich auch der Alltagsrassismus ab, nach Deutschland zu kommen. Allein daran muss sich etwas radikal ändern, weil wir ansonsten den Saldo von 400.000 Einwanderern pro Jahr niemals erreichen werden.
Es reicht aber nicht, irgendwo „Refugees welcome“ hinzuschreiben. Wenn wir möchten, dass sich jemand bei uns wohlfühlt, dann muss man alles dafür tun und sich bewusst sein, dass es einen internationalen Wettbewerb um Arbeitskräfte gibt und künftig noch stärker geben wird. Wenn ich jemanden zu mir nach Hause einlade, dann mache ich ja nicht alle Fenster auf, damit er friert und möglichst schnell wieder verschwindet … Das heißt: Jenseits des Umstandes, dass wir ein friedliches und wohlhabendes Land sind, muss es Motive im Alltagsleben geben, die die Menschen anlocken. Und dann müssen wir endlich lernen, wirklich zusammenzuleben, damit andere gar nicht erst in die Versuchung kommen, sich zu segregieren. Diese Integration ist unvermeidlich, das beginnt bei der Sprache und endet bei unseren Alltagsgewohnheiten, über die wir dann nachdenken müssen, wenn sie für andere komisch oder befremdlich sind. Das geht nicht anders, das bedarf großer Programme und der Bereitschaft jedes Einzelnen, sich um neue Nachbarn zu kümmern. Wir müssen alles dafür tun, dass sich Fremdenfeindlichkeit nicht weiter entfaltet.
Interessanterweise war all das, worüber wir hier sprechen, im Wahlkampf nur selten ein Thema, ich kann mich nicht erinnern, dass es dazu Fragen in den drei Triellen gab. Warum reden Politiker vor Wahlen – und auch sonst – so ungern darüber?
Viele Parteistrategen haben Angst, dass ein solches Thema Wähler abschreckt und sich negativ auf die Zustimmung zu ihren Spitzenkandidaten auswirkt. Deswegen versucht man, das Thema zu vermeiden, außer bei einer Partei, die per se gegen Einwanderung ist. Dabei wäre es gut, wenn man über eine differenzierte Migrationspolitik diskutieren würde. Wobei Migration das falsche Wort ist, weil das übersetzt ja Bewegung heißt und signalisieren könnte, dass jemand, der zu uns kommt, auch wieder geht. Und das kann nun gerade nicht in unserem Interesse sein.
Das sagt viel über die Parteien aus. Eine macht das Thema zum Markenkern, und die anderen reden ungern darüber, weil sie Angst haben, Wähler abzuschrecken.
So ein Thema muss man sehr gut und sehr lange vorbereiten. Und man muss es positiv aufladen, eine „Tatort“-Folge mit dem bösen Deutschen und dem lieben Migranten hilft da nicht.