Berlin/Hamburg. Wenn Olaf Scholz Kanzler wird, könnten Weggefährten in neue Ämter aufsteigen – aus guten Gründen halten sich alte Vertraute bedeckt.
„Völker hört die Signale. Auf zum letzten Gefecht!“ Am Ende einer langen Wahlnacht kannte die Freude keine Grenzen mehr: Das Tal der Tränen durchschritten, ein Ergebnis erzielt, dass keiner der SPD zugetraut hätte, mit Olaf Scholz an der Spitze – da stimmten freudetrunkende Jusos die Internationale an. Jungsozialistischer Überschwang eben, befeuert von vielen Stimmen und noch mehr Bier. So war es am 20. Februar 2011 in der Hamburger Fabrik: 48,4 Prozent der Stimmen hatte Olaf Scholz bei dieser Bürgerschaftswahl gewonnen, ein Plus von 14,3 Prozent. Den Sozialismus hat er dann aber nicht eingeführt.
Am Sonntag nahm sich der Zugewinn der Sozialdemokraten bei dieser Bundestagswahl etwas bescheidener aus: Im Vergleich zum Desaster von 2017, als der Schulz-Zug bei nur 20,5 Prozent aus den Gleisen sprang, holte Scholz nach ersten Hochrechnungen rund fünf Prozentpunkte mehr heraus – zweistellig hingegen war das Plus verglichen mit den Umfragen, in denen die SPD bis Ende Juli bei 14 bis 15 Prozent festgetackert schienen.
SPD feiert sich als stärkste Partei: Hamburger Verhältnisse
Entsprechend gut gelaunt feierte das sozialdemokratische Spitzenpersonal und Fußvolk am Sonntagabend in Berlin. Allerdings unter Corona-Bedingungen: Zusätzlich zum Impfnachweis musste man im Willy-Brandt-Haus auch einen tagesaktuellen negativen Corona-Test vorlegen – die Masken legten viele trotzdem nicht ab.
Um Punkt 18 Uhr brandete Jubel auf, als die großen Leinwände die Prognose des ZDF einblendeten: 26 Prozent für die SPD im Bund, 39 Prozent in Mecklenburg-Vorpommern, 23 Prozent in Berlin, überall stärkste Partei, zumindest nach Zahlen des Zweiten Deutschen Fernsehens. Hamburger Verhältnisse.
Die Sozialdemokraten hatten schon lange nichts mehr zu feiern – bis heute. Wobei zunächst offenbleibt, ob man nur ein überraschend gutes Ergebnis zelebrieren darf – oder wirklich den Einzug ins Kanzleramt.
Viele alte Scholz-Genossen mischten sich unter Feiervolk
Viele Hamburger Genossen, die schon vor zehn Jahren den ersten Wahltriumph von Olaf Scholz in der Ottenser Fabrik gefeiert hatten, mischten sich unter das Feiervolk. Bürgermeister Peter Tschentscher war nach Berlin gereist, auch Kultursenator Carsten Brosda hatte sich kurzentschlossen auf den Weg gemacht. Sein alte Büroleiter Andreas Meyer war ebenfalls der Einladung von Scholz gefolgt. Und viele ehemalige Hamburger hatte der SPD-Spitzenkandidat schon in den vergangenen Jahren an der Spree um sich geschart.
Als Finanzminister hatte Olaf Scholz 2018 Weggefährten aus den gemeinsamen sieben Jahren in der Hansestadt nach Berlin gelockt, für einige war es ein Weg zurück zu den Wurzeln. Der SPD-Politiker, der vor dreieinhalb Jahren aus dem Rathaus ins Finanzministerium an der Wilhelmstraße gewechselt war, kennt viele seiner engsten Vertrauten noch aus seiner Zeit als SPD-Generalsekretär (2002 bis 2004) und als Bundesarbeitsminister (2007 bis 2009).
Mancher Scholz-Vertraute könnte in der Hierarchie klettern
Sollte ihm nun auch der Kanzlercoup gelingen, könnte mancher Vertraute weiter in der Hierarchie nach oben klettern. Entsprechend war die Frage nach den möglichen Koalitionen denn auch die vorherrschende Frage: Nach den erste Daten scheint ein Bündnis aus SPD, Grünen und Liberalen nicht unwahrscheinlicher geworden zu sein. Eine Koalition namens R2G jedenfalls ist nach den ernüchternden Zahlen für Die Linke fast unmöglich – mit fünf Prozent scheint die Partei ein noch unsicherer Kantonist als ohnehin.
Es dauerte ein wenig, bis sich die Wahlgewinner den Genossen präsentierten. Olaf Scholz kam Glockenschlag 19 Uhr mit seiner Frau Britta Ernst auf die Bühne im Erdgeschoss des Willy-Brandt-Hauses. „Die Menschen wollen einen Wechsel“, sagte er unter dem Jubel der Genossen im Willy-Brandt-Haus, die zuvor „Olaf! Olaf!“ skandiert hatten.
Olaf Scholz engster Begleiter ist Wolfgang Schmidt
Scholz wohl engster Begleiter nach seiner Gattin ist Wolfgang Schmidt. Der gebürtige Hamburger war Büroleiter von Scholz als SPD-General und dann als Arbeitsminister. 2011 wurde er Staatsrat und Bevollmächtigter des Hamburger Senats in Berlin – der 51-Jährige war nicht nur „Außenminister“ der Hansestadt, er hielt auch stets den Kontakt in die Partei und zur Hauptstadtpresse.
Schmidt ist eine perfekte Ergänzung zu seinem Chef und bringt das mit, was seinem Mentor mitunter fehlt – Kommunikationsfreude, Fröhlichkeit und Zugewandtheit. Wenn Schmidt will, wäre er wohl erster Anwärter auf den Posten des Kanzleramtschefs. Wenn er denn will. Nach der ersten Hochrechnung äußerte sich Schmidt: „Keiner redet jetzt schon über Koalitionsoptionen – aber es gibt offensichtlich drei Wahlgewinner: Die SPD, die Grünen und auch die FDP – daraus ergibt sich ein gewisser Wunsch der Wähler.“ Und noch ein Scholz-Vertrauter, der einst in der Landesvertretung Hamburg Dienst tat, darf sich Hoffnungen machen: sein Sprecher Steffen Hebestreit.
Karriereoption auch für Hamburgs Kultursenator Carsten Brosda
Ein weiterer Hamburger Vertrauter ist Rolf Bösinger. Den Wirtschaftswissenschaftler aus dem Schwarzwald kennt Scholz seit seiner frühen Berliner Zeit als Generalsekretär. Als Bürgermeister holte er den heute 55-Jährigen als Staatsrat in die Wirtschaftsbehörde, Anfang 2018 wechselte Bösinger dann mit Scholz ins Finanzministerium und wurde Staatssekretär. Bösinger ist ein enger Vertrauter, der lieber im Hintergrund bleibt und nicht ins Licht der Öffentlichkeit drängt.
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Eine Karriereoption bietet sich auch für Hamburgs Kultursenator Carsten Brosda. Der über alle Parteigrenzen geschätzte Sozialdemokrat ist ebenfalls seit eineinhalb Jahrzehnten Teil des Machtsystems Scholz: Der Gelsenkirchener, der in dieser Woche 47 Jahre alt wird, arbeitete schon unter Scholz im Arbeitsministerium. 2011 schuf Scholz für ihn das Amt Medien in der Senatskanzlei und lockte den überzeugten Berliner an die Elbe.
Amt des Staatsministers wäre maßgeschneidert für Brosda
Der eloquente Sozialdemokrat, der schneller argumentiert als mancher Zuhörer folgen kann, stieg in Hamburg zum Staatsrat der Kulturbehörde und schließlich 2017 zum Senator auf. Hamburgs nicht eben einfache Kulturszene liegt ihm zu Füßen, wie Corny Littmann kürzlich auf den Punkt brachte: „Scholz kann meinetwegen Kanzler werden, aber Brosda bleibt in Hamburg.“ Diese Entscheidung treffen am Ende nicht das Urgestein des Schmidt-Theaters, sondern Scholz, Brosda und seine Familie. Das Amt des Staatsministers für Kultur und Medien jedenfalls wäre maßgeschneidert für Brosda.
Viele Beobachter verstanden seinen gemeinsam mit Scholz verfassten Gastbeitrag in der „Zeit“ unter dem Titel „Für den Schulterschluss von Geist und Macht“ als Fingerzeig. Es gehe darum, „das Vertrauen zwischen Kunst und Politik wiederherzustellen und einen gemeinsamen Raum für Dialog zu schaffen“, hieß es darin.
Nicht alle Wegbegleiter indes feierten mit Scholz im Willy-Brandt-Haus – sein langjähriger Sprecher und Vertrauter, Sport-Staatsrat Christoph Holstein, nutzte den Sommertag zum Surfen und erlebte den Wahlsieg auf der Autobahn.