Kiel. Die stellvertretende Bundesvorsitzende der SPD spricht im Abendblatt-Interview darüber, ob ihrer Partei ein Linksrutsch droht.

Vor der Wahl der neuen SPD-Spitze hatte sie öffentlich für die Partei-Linken Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans geworben – und sich damit gegen Olaf Scholz gestellt. Das Sieger-Duo revanchierte sich, der Parteitag wählte Serpil Midyatli im Dezember 2019 auf Vorschlag von Esken/Walter-Borjans zur stellvertretenden Bundesvorsitzenden der SPD. Im Abendblatt-Interview spricht sich die Tochter türkischer Einwanderer, die auch Partei- und Fraktionschefin der SPD in Schleswig-Holstein ist, für ein Dreierbündnis mit der FDP aus – sollte es für eine rot-grüne Koalition nach der Bundestagswahl nicht reichen.

Frau Midyatli, vervollständigen Sie bitte folgenden Satz: Auf in die Zukunft, aber nicht ...

Serpil Midyatli ... aufs Glatteis? Nee, auf roten Socken. Die Kampagne „Auf in die Zukunft, aber nicht auf roten Socken“ der CDU stammt aus dem Jahr 1994. Hätten Sie gedacht, dass die Union gut 25 Jahre später nochmals auf einen Lagerwahlkampf setzen würde? Das ist sehr, sehr traurig. Der Kanzlerkandidat der Union zündet gar nicht, Laschet ist zu lasch. Das Programm ist schwach, zusammengeschustert und ohne neue Ideen. Und weil es nicht zieht, greift man in die Mottenkiste und holt die Rote-Socken-Kampagne wieder raus. Das funktioniert aber nicht.

Aktuell vergeht kein Tag, ohne dass ein führender Politiker aus CDU oder CSU vor einer möglichen Linksregierung aus Rot-Grün-Rot warnt. Allmählich dürfte die Kampagne auch bei politisch weniger inter­essierten Menschen ankommen. Sorgt oder ärgert Sie das?

In erster Linie ärgert mich das, weil die Gesellschaft viel, viel weiter ist. In Berlin regieren wir mit der Linkspartei, in Bremen auch. In Thüringen hat auch die CDU Bodo Ramelow von der Linkspartei toleriert. In Rheinland-Pfalz regieren wir mit einer Ampel. Deutschland hat sich einfach verändert

.... also läuft die Kampagne der Union ins Leere?

Die Umfragen zeigen das. Zudem liegt die Linkspartei gerade mal bei fünf oder sechs Prozent. Die Union hilft ihr gerade zurück in die mediale Öffentlichkeit und Wahrnehmung.

Die FAZ hat die Tage getitelt „Ein Gespenst geht um – Saskia Esken“. Dieses Gespenst hat sich ziemlich rar gemacht, um den Wahlkampf von Olaf Scholz nicht zu gefährden. Droht nach der Wahl der von Ihrer Parteichefin betriebene „Linksrutsch“, den Unionspolitiker wie Markus Söder vorhersagen?

Wir sind sehr transparent in den Punkten, mit denen wir in Koalitionsverhandlungen gehen wollen. Die stehen im Programm. Dazu gehört ein Mindestlohn von 12 Euro. Auch wollen wir jedes Jahr 400.000 bezahlbare Wohnungen bauen, die Klimaschutzziele einhalten und dabei industrielle Arbeitsplätze sichern, und wir wollen die erneuerbaren Energien ausbauen.

Das klingt nach großen Schnittmengen mit den Grünen und der Linkspartei ...

Das ein oder andere geht auch mit der FDP. Am 26. September wird sich zeigen, für welches Bündnis es reicht. Mein Wunschbündnis wäre Rot-Grün, da gäbe es die größten Schnittmengen.

Aktuell ist aber in den Umfragen eine Mehrheit für Rot-Grün nicht in Sicht. Vieles spricht für ein Dreierbündnis. Welchen Dritten im Bunde bevorzugen Sie: FDP oder Linkspartei?

Wenn ich alle Punkte abwäge, die mir wichtig sind, dazu gehören ein souveränes Europa, eine verlässliche Außenpolitik, Bildungs- und gesellschaftspolitische Themen, dann tendiere ich eher zu einer Ampel mit der FDP, auch wenn es da Hürden gibt. Das liegt auch daran, dass ich ein sehr gutes Verhältnis zur Nord-FDP habe.

Aber ein kategorisches Nein zu einem Bündnis mit der Linkspartei gibt es von Ihnen nicht?

Wir schließen kategorisch aus, mit Faschisten zu sprechen. Ansonsten hängt alles von dem Wählerauftrag ab, den wir am 26. September erhalten. Mit dem müssen wir verantwortungsvoll umgehen und auf die Inhalte schauen.

Sie hatten sich bei der Urwahl zum neuen SPD-Vorsitz für das Duo Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans ausgesprochen – und damit gegen Olaf Scholz. Zurzeit ist von den beiden genauso wenig zu hören wie von Kevin Kühnert. Alle ordnen sich Ihrem Kanzlerkandidaten unter. Aber wann kommen die Partei-Linken aus der Versenkung – gleich am Wahlabend?

(Lacht) Sie sind gar nicht versteckt, also in der Versenkung. Und wenn, dann verstecken wir sie in Talkshows, also sehr sichtbar. Wir haben ein sehr starkes Programm, an dem unter anderem Kevin Kühnert, Saskia Esken und ich übrigens auch als Verantwortliche für wichtige Themenbereiche mitgearbeitet haben. Wir haben zudem sehr früh den Dialog mit der Partei und mit Multiplikatoren geführt. Es gibt keine inhaltlichen Gräben. Und wenn es keine Gräben gibt, sitzt auch keiner im Graben. Wir sind geeint.

Hätte es diese Einigkeit auch unter einem Parteichef Olaf Scholz gegeben?

Die Frage stellt sich nicht, weil die Mitglieder anders entschieden haben. Ich halte viel davon, die Arbeit auf mehreren Schultern zu verteilen. Man kann sehr gut auf der einen Seite eine Partei führen und auf der anderen Seite ein sehr kompetenter und erfahrener Spitzenkandidat sein.

Kommen wir zurück zu den Inhalten. Welches sind die drei Punkte, die die neue Bundesregierung als Erstes anpacken sollte?

Auf der Prioritätenliste steht der Mindestlohn von 12 Euro ganz oben. Davon werden zehn Millionen Menschen profitieren: jede vierte Frau, viele Menschen aus den ostdeutschen Bundesländern und auch viele Schleswig-Holsteiner. Um unsere Klimaschutzziele zu erreichen, müssen wir bestehende Hürden abbauen, sodass wir viel schneller erneuerbare Energien ausbauen können. Mein Herzensthema ist die Kindergrundsicherung, also das neue Kindergeld, damit wir endlich alle Kinder aus der Armut holen. Ein weiterer Punkt ist, dass bezahlbare Wohnungen in großer Zahl neu gebaut werden.

In Berlin unterstützt die Linkspartei das Volksbegehren zur Enteignung eines Wohnungsbaukonzerns. Wenn Ihnen Wohnungsbau so wichtig ist, können Sie kaum mit der Partei koalieren – oder?

Wahlkampf ist Wahlkampf, und da kommen ja manch verrückte Ideen auf. Wir haben einen pragmatischeren Ansatz.

Neben der Kindergrundsicherung ist für Sie das Thema Integration eine Herzensangelegenheit. Sollte es in der neuen Legislaturperiode ein eigenes Integrationsministerium geben, um dem Thema mehr Bedeutung zu verleihen?

Viele Organisationen und Verbände sehen das anders: Aber ich halte nichts von einem eigenständigen Integrationsministerium. Integration, das sagt schon der Begriff, bedeutet zusammenführen und zusammen denken. Es geht unter anderem um Arbeit, Schule, Wohnen, Soziales. Das kann ein einzelnes Ministerium gar nicht leisten. Aber die fachliche Zuständigkeit sollte auf jeden Fall aus dem Innenministerium herausgelöst und in ein Arbeits- und Sozialministerium gegeben werden. Das hätte eine viel größere Durchschlagskraft.

Verfolgt man die Debatten, könnte man meinen, nicht der Klimawandel, der gesellschaftliche Zusammenhalt oder die Gesundheitspolitik in Zeiten von Corona seien aktuell die wichtigsten Themen, sondern der Umgang mit der deutschen Sprache. So hat die schleswig-holsteinische Bildungsministerin Karin Prien von der CDU gerade das Gendern im Unterricht verboten und damit einen Krach mit dem Koalitionspartner heraufbeschworen. Wie verfolgen Sie die Debatte – amüsiert?

Wenn wir nicht große Probleme in den Schulen hätten, könnte ich mir eine Packung Popcorn nehmen und mir anschauen, wie Jamaika mal wieder zeigt, dass sie nicht zusammenpassen. Aber die Aufgaben drängen: Die Versorgung der Schüler mit digitalen Endgeräten, die Ausstattung der Lehrer, die Qualität des Wlan. Überall an den Schulen fehlen Lehrkräfte. Das heißt, es gibt reale Pro­bleme, die die Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler sowie Eltern tatsächlich massiv betreffen. Ich wünsche mir, dass sich die Bildungsministerin mal darum kümmert.