Hamburg. Wissenschaft trifft Wirklichkeit: Chefredakteur Lars Haider spricht mit Uni-Präsident Dieter Lenzen über die großen Themen unserer Zeit.
Chefredakteur Lars Haider und Uni-Präsident Dieter Lenzen sprechen in „Wie jetzt?“, einem Gemeinschaftsprojekt von Hamburger Abendblatt und der Universität Hamburg, über Fragen, die Wissenschaft und Journalismus gleichermaßen bewegen. Diesmal geht es um die Rückgabe von geraubten Kulturgütern anderer Länder, die in deutschen Museen stehen.
Lars Haider Was ist eigentlich mit all den Kulturgütern, die aus anderen Ländern, vor allem aus Afrika, nach Europa gebracht wurden und hier in unseren Museen zu sehen sind? Die Diskussion ist wieder hochaktuell, obwohl die Europäer sich des Problems spätestens seit den 70er-Jahren bewusst sind, und damit der Frage: Wem gehört die Kultur?
Dieter Lenzen Das Thema hat mehrere Seiten. Die eine ist, dass eine Handvoll Wissenschaftler die Frage der geraubten Kulturgüter zum Gegenstand ihrer Forschungen gemacht hat, in Frankreich genauso wie in Deutschland. Deshalb wird heute darüber wieder vermehrt gesprochen, in Deutschland zum Beispiel im Zusammenhang mit dem Humboldt-Forum in Berlin. Die andere Seite ist die eigentliche Eigentumsfrage, also der Kern des Themas: Wem gehört die Kultur?
Fakt ist, dass ein großer Teil afrikanischer Kulturgüter in europäischen Museen stehen, und im schlimmsten Fall geraubt ist. Die Forderung lautet zu überprüfen, wie die Museen in den Besitz der einzelnen Kulturobjekte gekommen sind und sie gegebenenfalls an die rechtmäßigen Besitzer zurückzugeben.
Für mich stellt sich generell die Frage, ob die Eigentumsfrage bei Kulturgütern sinnvoll ist.
Ich finde es schon sinnvoll, dass zum Beispiel meine Bücher meine Bücher bleiben und mir nicht von jemandem anderen weggenommen werden.
Aber ist es nicht so, dass Kultur etwas sein müsste, was der ganzen Welt gehört? Zumindest, wenn das entsprechende Bild oder die entsprechende Skulptur das Leben aller besser macht oder bereichert? Dann ist es auch egal, wo das Original steht, weil man heute ja täuschend echte Kopien machen kann, die überall ausgestellt werden können. Überhaupt stellt sich die Frage, was der Besucher eines Museums dort überhaupt will. Will er erfahren, wie die Menschen früher gelebt haben? Will er sich darüber wundern, was vor 300 Jahren alles schon möglich war? Oder interessiert ihn nur, wie groß der Kopf der Nofretete in Wirklichkeit ist? Diese und viele andere Fragen kann man auch beantworten, wenn man sich nur einer Kopie des Kunstwerks gegenübersieht. Die interessante Frage für die Zukunft der Welt ist doch, wie wir all das, was kulturell relevant ist, für alle Menschen verfügbar machen. Wir müssen im Grunde Objekte, die es nur einmal gibt, replizierbar machen, so, wie es mit Opern, die überall aufgeführt werden, jetzt schon möglich und üblich ist.
Es bliebe aber ungerecht, dass Menschen in Afrika die Kunst, die von dort kommt, nur als Kopie erleben können, während die Originale zuhauf in den Museen in Europa stehen.
Das ist ein Missverständnis. Die Originale muss man natürlich zurückgeben, die Kopien bleiben dann hier. Aber das Entscheidende ist doch, dass wir in die Zukunft schauen und uns fragen, was wir mit Kultur für die Welt tun wollen.
Hat nicht trotzdem jeder, der im Besitz solcher Kulturgüter ist, jetzt mindestens die moralische Pflicht, sich zu fragen oder fragen zu lassen, wo die Dinge herkommen?
Es geht nicht nur um die öffentliche, also die zur Schau gestellte Kultur, sondern auch um die private. Kauft also jemand etwas, von dem er nicht ganz genau weiß, woher es stammt und hat damit ein Unrecht mitgekauft?
Dürfen wichtige Kulturgüter überhaupt in Privatbesitz sein?
Ich würde sagen: Die Kultur gehört der Welt, weil sie mit dieser Kultur gewachsen ist.
Kriegen ihre Wissenschaftler von Museen jetzt viele Anfragen, ob sie Ihnen bei dieser Detektivarbeit helfen und herauskriegen können, wo ein Kulturgut seinen Ursprung hat? Im Zweifel muss sich ein Museum ja die die Herkunft von Zehntausenden Dingen ansehen …
Ansehen reicht nicht. Das Wesentliche ist, ob es Informationen darüber gibt, wie es in den Besitz eines Museums gekommen ist
Letztlich ist es ja so, dass in unseren Museen Raubgüter hängen, das wäre sogar strafrechtlich relevant und es reicht im Zweifel nicht, wenn Verantwortliche sagen: Wir haben gar nicht gewusst, dass das gestohlen wurde.
Das ist vollkommen klar. Um all die offenen Fragen beantworten zu können, müsste man allerdings Tausende von Kunsthistorikern beschäftigen, die es gar nicht gibt. Wir haben an der Universität eine Handvoll Wissenschaftler, die das beurteilen können, und weil das überall so ist, wird man sich auf die Kulturgüter bei der Recherche beschränken müssen, auf die andere Ansprüche erheben.
Heißt das, das wir in Sachen geraubter Kultur wieder intensiv eine Debatte in bestimmten Kreisen führen, sich an der Sache selbst aber gar nichts ändern kann und wird, weil es schlicht viel zu wenig Experten gibt?
Das kann passieren, und man würde ja auch in der jetzigen Situation niemandem erklären können, dass die Ausbildung und Beschäftigung von Kunsthistorikern Vorrang vor der Bewältigung der Pandemie und des Klimawandels hätten. Das wäre einfach absurd. Trotzdem werden wir uns mit dem Thema beschäftigen und dabei besondere Epochen auswählen müssen, in denen viel Unrecht geschehen ist.
Einfacher wäre tatsächlich, wenn man sich darauf einigen könnte, dass allen alles gehört. Aber dann müssten auch alle Menschen in alle Museen der Welt kostenlos gehen können.
Wenn Kultur einen Aufklärungsauftrag hat, dann müssen wir doch wollen, dass alle Menschen die Chance zu dieser Aufklärung haben. Das ist schon fast ein verfassungsrechtlicher Auftrag, und deshalb können wir eigentlich nicht von Menschen verlangen, dass sie dafür etwas bezahlen.
In anderen Staaten ist der Museumsbesuch bereits kostenlos, um gar nicht erst eine Schwelle aufzubauen, ein Museum zu betreten.
Das bloße Durchlaufen durch ein Museum, ob kostenlos oder kostenfrei, ist nicht sehr hilfreich für jemanden, der eigentlich keinen Zugang dazu hat. Die eigentliche Leistung muss darin bestehen, Kontextwissen zu vermitteln. Denn man sieht nur, was man weiß. Mit anderen Worten: Es ist völlig sinnfrei, sich ein Bild anzuschauen, ohne etwas über die Bedeutung der einzelnen Elemente zu wissen. Wenn ich nicht weiß, was eine bestimmte Handhaltung bedeutet, muss ich mir das Bild nicht anschauen. Denn es geht nicht darum, ob mir ein Bild oder ein Kunstwerk
gefällt,das mag auch interessant sein, ist aber keine aufklärerische Fragestellung.
Wobei es mir immer noch lieber ist, wenn Menschen ins Museum kommen und mit anderen über Kultur sprechen und was die in ihnen auslöst, als wenn sie Museen fernbleiben.
Vielleicht entsteht dadurch tatsächlich der Drang, Kunst und Kultur besser zu verstehen. Mein Rat wäre, dass man nicht ins Museum geht, um sich dort hundert oder mehr Bilder anzusehen, sondern eins – und versucht, das zu verstehen. Und am nächsten Tag dann ein anderes, und immer so weiter.
Was nur geht, wenn es nicht zu teuer ist …