Hamburg. Von Harvestehude in den Kuhstall: Die Ise-Apotheke hat im Museum für vergessene Arbeit in Steinhorst ein neues Zuhause gefunden.
Die Morgensonne vertreibt die letzten Nebelschwaden von den dunklen Schollen der frisch gepflügten Felder. Kurz vor dem Ziel heißen die Straßen An der Meierei und Am Ziegeleiteich. Ein passender Auftakt für den Besuch der Ise-Apotheke, die jetzt nicht mehr im feinen Hamburger Stadtteil Harvestehude liegt, sondern in einem ehemaligen Kuhstall im Herzogtum Lauenburg: im Museum für vergessene Arbeit in Steinhorst.
Über einen gepflasterten Hof geht es auf ein riesiges Backsteingebäude zu, dann eine Rampe hinauf, über die früher Futter und Stroh angeliefert wurden. Durch eine Tür, die in das zweiflügelige Holztor eingelassen ist, betritt man einen Speicherboden – Sitz des vom Heimatbund und Geschichtsverein Steinhorst/ Sandesneben e. V. vor 16 Jahren gegründeten Museums, dem größten ehrenamtlich betriebenen Schleswig-Holsteins.
Ise-Apotheke: Reise in vergangene Zeiten
Die Nase vermeldet den typisch heimeligen Dachbodengeruch nach Staub und trockenem Holz, die Augen ein Sammelsurium historischer Arbeitsgerätschaften, die auf dem Boden stehen, auf Tischen ausgestellt sind oder an den Wänden und von der Decke hängen. Über all das hinweg fällt der Blick auf den altmodischen Namenszug, der früher an der gelben Gründerzeitfassade in der Klosterallee prangte und jetzt hinten, auf der anderen Seite des riesigen Raumes zu erkennen ist: Ise-Apotheke.
Vorbei an zwei lebensgroßen Puppen in Lauenburger Tracht betritt man den 1500 Quadratmeter großen Speicherboden. Der ist auf den zweiten Blick gar nicht mehr so chaotisch, sondern in Werk- und Wirkstätten (fast) ausgestorbener Berufen unterteilt. Zu sehen sind Drechslerei, Stellmacherei, Bürstenmacherei und Druckerei, Schuhmacherei und Tischlerei, Sicherungen und Schaltanlagen aus einem Jahrhundert Elektrizität, Utensilien aus der Haus-, Land- und Forstwirtschaft, deren Gebrauch sich Kinder von ihren Großeltern erklären lassen müssen, sowie Ausrüstungsgegenstände aus längst vergangenen Feuerwehrzeiten.
Eine schmale Treppe führt auf eine Art Galerie. Auch hier gibt es viel zu sehen: Wohnräume von anno dazumal – und hinter Glas eine umfangreiche Miniaturensammlung. Es ist wirklich beeindruckend, was der Verein da alles zusammengetragen hat.
Umzug in eine "echte" Apotheke
Sogar einen Tante-Emma-Laden gibt es. Hier, zwischen Lebensmitteln, Spirituosen, Spielzeug, Waschpulver und Zigaretten, wurden – nicht ganz einwandfrei, aus wissenschaftlicher Sicht – bislang auch das Apothekenzubehör ausgestellt, die das Museum für vergessene Arbeit zusammengetragen hatte. Dass diese jetzt in eine „echte“ Apotheke umziehen konnten, freut den Vereinsvorsitzenden Paul Petersen enorm.
„Hier in Steinhorst eröffnete seinerzeit die erste Landapotheke im Herzogtum Lauenburg“, sagt er. Daher sei er sofort interessiert gewesen, als die Inhaberin der Ise-Apotheke, Lucia Mötting, ihn vor etwa drei Jahren fragte, ob der Verein die komplette Apotheke übernehmen wolle. „Aber hinsichtlich der Finanzierung war ich skeptisch“, so der Landwirt (74). „Wie sollten wir als kleiner Verein die Kosten für den fachgerechten Abbau, den Umzug und den Wiederaufbau bezahlen? Zumal die komplette Apothekeneinrichtung denkmalgeschützt ist ...“
Zeit und Geld: Viele investieren gerne
Dass die 1910 von den Apothekenbaumeistern W. Schmidt und Sohn errichtete Ise-Apotheke tatsächlich in Steinhorst eine neue Heimat gefunden hat, ist dem Engagement von Petersen und etlichen Vereinsmitgliedern zu verdanken. „Es war fünf Monate fast ein Vollzeitjob“, sagt der Vorsitzende, der die komplizierten Förderanträge beim Hamburger Denkmalschutzamt, dem Bund und dem Land Schleswig-Holstein stellte und Spenden akquirierte. Insgesamt 110.000 Euro kamen so zusammen, darunter eine Großspende von Lucia Mötting sowie Mitgliedsbeiträge. Mit dem Geld wurde unter anderem der vorbereitende Ausbau des Speicherbodens bezahlt, indem eine völlig neue Fläche für die Apotheke hergerichtet werden musste, sowie die Transportkosten.
Den Auf- und Abbau erledigten Paul Petersen und sein Stellvertreter Reinhard Mielke, ein professioneller Tischler, mit einigen weiteren Helfern, dazu kam die Medizinhistorikerin Andrea Grotzke, die die wissenschaftliche Beratung übernahm und den Wiederaufbau überwachte, sowie einige Handwerker aus der Umgebung, die ihre Dienste ebenfalls unentgeltlich anboten. Der Fliesenleger Dieter Gloss etwa, der die historischen Wandfliesen im Labor der alten Ise-Apotheke vorsichtig abschlug, reinigte und wieder anbrachte – so, dass die hellblauen und cremefarbenen Kacheln auch am neuen Standort den Hintergrund für die historische Destillieranlage bilden.
Denkmal mit viel Liebe zum Detail
Die Detailtreue fällt schon vor dem Betreten der Räume auf: Die gelbe Hausfassade wurde nachgebildet, ebenso der Eingang mit dem geschwungenen Dach. Sogar ein Fenster gibt es, mit einem Bild von Lucia Mötting dahinter. Auch der Verkaufsraum mit der Inneneinrichtung und der Verkaufstheke aus dunkel gebeiztem Holz, der alten Registrierkasse, den historischen Waagen und der Rezeptur, hinter der Salben und Tinkturen angemischt wurden, sieht aus wie früher.
„Wir haben in Absprache mit dem Denkmalschutzamt lediglich zwei Schränke nicht wieder aufgebaut, um einen besseren Zugang zu den hinteren Räumen zu ermöglichen“, so Petersen. Anders als in den über mehrere Ebenen verteilten Räumlichkeiten an der Klosterallee liegt alles hintereinander. Der Vorbereitungsraum mit seinem großen Tisch und den Gerätschaften zum Salbenanmischen, Pillendrehen und Mixturenherstellen. Die Materialkammer mit ihren unzähligen Gläsern, Tiegeln und Töpfen. Und das Labor mit Trockenschrank und Destillierapparat, in dem auch die kleine, abschließbare Giftkammer nicht fehlt.
Die rot-weißen Fußbodenfliesen aus dem Hamburger Verkaufsraum konnten dagegen nicht mit umziehen. Sie sind nur noch auf den ausgestellten Fotos zu sehen, die für den korrekten Wiederaufbau angefertigt wurden und jetzt hinter Glas gezeigt werden. Was Petersen wurmt: Genau solche Fliesen wurden ihm angeboten – allerdings erst, nachdem die Apotheke bereits wieder aufgebaut worden war. Anders als auf den Bildern sind auch viele Schränke jetzt noch ziemlich leer. Das wird sich aber noch ändern. „Wir müssen noch etwa 40 Umzugskartons auspacken“, sagt Petersen. Dafür sei der Verein auf die Eigentümerin angewiesen, die dann extra aus dem Hamburger Westen kommt.
Besichtigung und Führungen der alten Apotheke bis Ende Oktober
Am morgigen Donnerstag ist die Apothekerin wieder im Museum – nicht nur, um mit anzupacken. Denn auf Lucia Möttings Initiative liest um 18.30 Uhr „Spiegel“-Bestsellerautorin Lena Johannson erstmalig aus ihrem Buch „Die Frauen vom Jungfernstieg“. Da sie darin die Geschichte des Pharmaunternehmers Oscar Troplowitz erzählt, passt die szenische Lesung perfekt zu dem Museums-Neuzugang (Einlass 17.30 Uhr, Anmeldung unter lesung@lena-johannson.de).
Eine Besichtigung der Ise-Apotheke lässt sich laut Paul Petersen übrigens gut mit einer Radtour oder dem Abstecher an einen der umliegenden Seen verbinden. Doch auch, wenn das Museum der einzige Grund für den Ausflug ist, lohnt sich die knapp einstündige Anreise.
Museum der vergessenen Arbeit, Schulstraße 10, Steinhorst; www.museum-steinhorst.de (Achtung: Wegen technischer Probleme meldet das Internet immer noch, dass das Museum geschlossen hat); geöffnet zwischen April und Oktober immer mittwochs zwischen 9 und 12 Uhr sowie jeden ersten Sonnabend im Monat von 14 bis 17 Uhr. Führungen, auch durch die Ise-Apotheke, können verabredet werden. Der Eintritt ist frei, Spenden werden gerne entgegengenommen.