Hamburg. Vor 50 Jahren geschah das Unfassbare: Aus einem Ferienflieger schlagen kurz nach dem Start in Hamburg Flammen. Der Pilot wagt alles.

Feierabend. Der 6. September 1971, ein Montag, war bis dahin ein ganz normaler Arbeitstag ohne spektakuläre Aufträge für den Abendblatt-Fotografen Hans-Günter Kiesel. Das ändert sich, als kurz vor 18.30 Uhr die Fotoredaktion bei ihm anruft: ein Flugzeugabsturz in der Nähe, mehr sei nicht bekannt. Hans-Günter Kiesel ist nicht begeistert, zumal in der jüngsten Zeit zwei kleinere Maschinen auf den Äckern in der Umgebung notlanden mussten und er etwas Ähnliches vermutet. „Ich habe den Auftrag also nicht ganz so ernst genommen“, erinnert sich der heute 80 Jahre alte Fotograf. „Außerdem hatte ich ja keine Ahnung, wo ich überhaupt fotografieren sollte.“

Der Zufall hilft ihm auf die Sprünge. Als er sein Haus im Norderstedter Ortsteil Garstedt verlässt, hört er das Martinshorn der Feuerwehr. Er fährt dem Löschfahrzeug von Norderstedt in Richtung Hasloh im Kreis Pinneberg hinterher. Später orientieren sich Feuerwehr und Hans-Günter Kiesel in seinem Privatauto an einer schwarzen Rauchsäule in Höhe der Autobahn 7, die erst am 9. Juli 1971 bis Bad Bramstedt für den Verkehr freigegeben worden war.

Passagiermaschine stürzt auf A7 ab

Als sie eintreffen, ist Kiesel ist entsetzt: Eine Passagiermaschine ist abgestürzt. Überall liegen Trümmerteile, Verletzte, Tote. Er sieht Leichenteile. Flammen lodern, ein Geruch von verbranntem Fleisch liegt in der Luft. Das hat er bis heute nicht vergessen.

Der Fotograf gehört zu den ersten Personen, die am Unfallort eintreffen. In diesen Minuten gelingen Hans-Günter Kiesel Fotos, die später um die Welt gehen und nicht nur vom Abendblatt, sondern auch von großen Magazinen gedruckt werden. Es sind Fotos, die sich in das Gedächtnis von Zeitungslesern einprägen. Das eindrucksvollste und bekannteste Foto zeigt den Piloten, der mit seiner um die Schulter gelegten Jacke benommen im Gras sitzt.

Fotograf Hans-Günter Kiesel (80) an der Absturzstelle. Vor 50 Jahren war er der erste Pressefotograf am Unglücksort.
Fotograf Hans-Günter Kiesel (80) an der Absturzstelle. Vor 50 Jahren war er der erste Pressefotograf am Unglücksort. © Frank Knittermeier | Frank Knittermeier

Zu diesem Zeitpunkt ahnt Hans-Günter Kiesel nur, dass es Pilot Reinhold Hüls ist, aber er weiß es nicht genau. Einige Männer, die sich um den benommenen Mann bemühen, können ihm auch keine Angaben machen. Gewissheit bekommt Kiesel über Umwege: Mitarbeiter der Universitäts-Klinik Eppendorf, wo der verletzte Pilot behandelt wird, identifizieren den Mann für ihn. Der Fotograf ist dort bekannt, weil er einige Tage vorher für eine Abendblatt-Reportage in der Klinik fotografiert hatte.

Flugzeugabsturz auf der A7: Für 22 Personen ein Flug in den Tod

Einige der Fotos hingen viele Jahre an den Wänden in der Abendblatt-Redaktion und erinnerten an ein spektakuläres Flugmanöver, mit dem Flugkapitän Reinhold Hüls vielen Passagieren das Leben rettete. Für 22 Personen aber ist es ein Flug in den Tod. 17 Passagiere und eine Flugbegleiterin sind sofort tot, vier Personen sterben später an ihren Verletzungen. Von den 99 Überlebenden werden 45 zum Teil schwer verletzt. Rund 60 Krankenwagen, elf Feuerwehren, zwei Unfalldienste sowie Hubschrauber der Polizei und Bundeswehr werden zum Unfallort beordert. 230 Polizisten sind im Einsatz.

Kurz nach dem Start um 18.19 Uhr an diesem Montag auf dem Hamburger Flughafen fangen die Triebwerke des voll besetzten Charterflugzeugs vom Typ British Aerospace 1-11 der Münchner Gesellschaft Paninternational nach Explosionen Feuer. Flugzeug-Kapitän Reinhold Hüls reagiert schnell und setzt zur Notlandung an. Er hat keine andere Wahl: Noch 42 Sekunden bis zum Aufsetzen hätten die Instrumente ihm angezeigt, berichtet der Pilot später. Keine Zeit also, zum Flughafen zurückzukehren. Im Cockpit sitzen außer ihm die beiden Co-Piloten Elisabeth Friske und Manfred Rhode.

Beide Tragflächen werden abgerissen

Er entscheidet sich zu einer Landung auf der A 7 in Fahrtrichtung Hamburg, weil auf der Gegenfahrbahn in Richtung Norden dichter Feierabendverkehr herrscht. Die Maschine setzt mit 200 Stundenkilometern hart auf, das linke Fahrwerk bricht ein, das Flugzeug gerät in Schräglage und rast auf einen Brückenpfeiler bei Kilometer 45,5 zu. Beide Tragflächen werden abgerissen, Seitenruder und Heck zerstört, der Rumpf zerbricht in drei Teile. Während das Cockpit seitlich wegschleudert, dreht sich der Rest des Flugzeugs unter der Brücke hindurch und kommt erst 100 Meter weiter zum Stehen.

Direkt über der Tragfläche sitzt der damals 25 Jahre alte Fliesenleger Werner Karneboge aus Bovenden bei Göttingen, der mit einem Freund in Torremolinos an der Costa del Sol in Südspanien Urlaub machen will. Beide waren in Hannover zugestiegen und saßen ursprünglich in der vierten Reihe. Nach dem Zwischenstopp in Hamburg setzen sie sich um und nehmen weiter hinten Platz. „Das war unser Glück“, sagt Werner Karneboge rückblickend. „Die meisten Toten hat es ja in den ersten Reihen hinter dem Cockpit gegeben.“

Er erinnert sich an einen lauten Knall nach dem Start und an das Absinken des Flugzeuges. „Obwohl alle gemerkt haben mussten, dass etwas nicht stimmt, herrschte keine Panik an Bord.“ Er beobachtet, wie die Maschine beinahe die Hochspannungsleitungen streift, bevor er für einen Moment die Orientierung verliert, dann aber beherzt über den Notausgang auf die Tragfläche gelangt. „Der Flügel lag auf der Leitplanke, wir mussten auf die Fahrbahn springen.“

„Den blauen Fleck wollte der Arzt gar nicht behandeln“

Werner Karneboge und sein inzwischen verstorbener Freund haben ein paar Schrammen und blaue Flecken abbekommen, ansonsten geht es ihnen gut. „Ich bin zwar noch ins Krankenhaus gebracht worden, aber den blauen Fleck wollte der Arzt gar nicht behandeln.“ Das Landungsmanöver des Flugkapitäns hält Werner Karneboge auch heute noch für eine herausragende fliegerische Leistung. „Damit hat er wahrscheinlich vielen Menschen das Leben gerettet.“

Eines der Bilder, die um die Welt gingen: Flugkapitän Reinhold Hüls sitzt nach  seiner Rettung benommen und blutend an der A 7.
Eines der Bilder, die um die Welt gingen: Flugkapitän Reinhold Hüls sitzt nach seiner Rettung benommen und blutend an der A 7. © Frank Knittermeier | Hans-Güntere Kiesel

So sehen es auch die Experten vom Luftfahrtbundesamt in Braunschweig: Sie simulieren den Flug mehrfach, aber bei keiner Simulation gelingt es ihnen, das Flugzeug bis zur Autobahn zu bugsieren. Die Ermittlungen ergeben, dass statt destilliertem Wasser irrtümlich eine mit brennbarem Kerosin gemischte Flüssigkeit in die Zusatztanks der One-Eleven gefüllt worden war. Destilliertes Wasser wird bei schwierigen Wetterverhältnissen und voller Beladung eingesetzt, um die Schubkraft der Maschine zu erhöhen, was in Hamburg für den Start des Flugzeugs nötig war. Aufgrund der falschen Betankung überhitzen die Flugzeugtriebwerke und geraten in Brand.

Als Schuldige werden 1976 ein Elek­triker und ein Flugzeugmechaniker von Paninternational zu je 1500 Mark Geldstrafe verurteilt. Wer die Kerosin- zu den Wasserbehältern gestellt hat, kann nicht ermittelt werden. Paninternational stellt den Flugbetrieb ein und geht 1973 in Konkurs.

Im abgerissenen Cockpit sitzen noch Menschen

Pilot Reinhold Hüls ahnt zwar, dass er mit seinem ungewöhnlichen Manöver vielen Menschen das Leben gerettet hat, der Tod von 22 Menschen belastet ihn aber auch Jahre später noch, wie er in einem Fernsehbeitrag des NDR vor zehn Jahren berichtete: „Wenn man 22 Tote auf dem Gewissen hat, ist das nicht leicht wegzustecken.“

Seinen Retter hat Reinhold Hüls nie kennengelernt. Er ist ohnmächtig, als ihn der Hasloher Feuerwehrmann Manfred Maier (heute 81) aus dem abgerissenen Cockpit zieht. Maier ist einer der ersten am Unfallort. „Ich war gerade dabei, das Fundament für meine Gartenmauer zu legen, als es knallte“, berichtet er. „Dann sah ich auch schon die schwarze Rauchsäule aufsteigen und dachte, oha, da ist ein Tanklaster gegen die Autobahnbrücke geknallt.“

Zusammen mit zwei Nachbarn fährt er die wenigen Hundert Meter bis zur Unfallstelle, wobei die Rauchsäule als Orientierung dient. Sie stehen vor einem riesigen Trümmerfeld und sehen, dass im abgerissenen Cockpit noch Menschen sitzen. Manfred Maier krabbelt mit Unterstützung seines Nachbarn in die Kanzel und hofft, dass es zu keiner Explosion kommt.

„Ich musste der Co-Pilotin eine Ohrfeige geben“

Der Pilot wollte aus dem kleinen Kabinenfenster klettern, aber ich habe ihn und anschließend den Co-Piloten herausgezogen.“ Schwieriger ist es mit Co-Pilotin Elisabeth Friske: Sie steht unter Schock und will das Cockpit nicht ohne ihre verschwundenen Sandaletten verlassen. „Ich musste ihr eine Ohrfeige geben, um sie wieder zur Vernunft zu bringen“, sagt Manfred Maier. „Ihre Puschen waren unwichtig.“ Bei dem Absturz wird ihr linker Unterschenkel zertrümmert.

Als anschließend die Rettungskräfte anrücken, stößt Manfred Maier zu seiner Hasloher Feuerwehr und nimmt seine Arbeit als Gruppenführer auf. Die besteht zunächst hauptsächlich darin, Löschwasser an die Unglücksstelle zu transportieren. In der einsetzenden Dämmerung blinkt das Blaulicht von unzähligen Einsatz- und Rettungsfahrzeugen, während überall kleine Flammen lodern. Die Szenerie wirkt auf jeden Beobachter gespenstisch. Von den Piloten und Co-Piloten hört ihr Retter Manfred Maier nie wieder etwas.

Pilot Reinhold Hüls nimmt seinen Beruf ein Jahr später wieder auf, Elisabeth Friske, damals die einzige Pilotin für Verkehrsflugzeuge in Deutschland, findet keine Anstellung mehr bei einer großen Fluglinie. Sensationslüsterne Reporter machen aus ihr die „Katastrophen-Frau im Cockpit“. Dieses Image bleibt. Den Traum vom Fliegen kann sich Elisabeth Friske seit Hasloh nur noch am Steuerknüppel kleiner Charterflugzeuge erfüllen. Zu ihren oft prominenten Passagieren zählen der Verleger Rudolf Augstein oder der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Uwe Barschel. Der Pfingstsonntag 1987 wird ihr Schicksalstag: Mit Uwe Barschel an Bord streift ihre Maschine beim Landeanflug in Lübeck-Blankensee einen Sendemast, kracht auf die Bahnlinie und explodiert. Der Ministerpräsident überlebt, Elisabeth Friske stirbt. Sie wird 48 Jahre alt.

Flugzeugkatastrophe hat auch politische Dimension

Die Flugzeugkatastrophe von Hasloh hat auch noch eine politische Dimension: Karl Wienand, damals Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, wird 1971 vorgeworfen, die Charterfluggesellschaft Paninternational gegen ein stattliches Beraterhonorar vor einer Prüfung durch das Luftfahrt-Bundesamt geschützt zu haben.

Ein Untersuchungsausschuss des Bundestages befasst sich mit diesem Thema, kommt jedoch im Parteienstreit zu keiner abschließenden Bewertung. Aufgedeckt wird immerhin, dass es bei der Fluggesellschaft schon länger große organisatorische Defizite gegeben hat. Der in zahlreiche politische Skandale verwickelte Wienand wird später als DDR-Spion entlarvt.