Hamburg. Der Grünen-Politiker über Klimaschutz, die Politik seiner Partei und lachende Kanzlerkandidaten in Katastrophengebieten.
Es ist nicht lange her, dass die Grünen wie ein möglicher Sieger bei der Bundestagswahl aussahen. Inzwischen sehen Umfragen sie nur noch auf Rang drei, Annalena Baerbocks Werte als Kanzlerkandidatin sind deutlich gesunken.
Was ist da schiefgelaufen, warum kommt eine junge Frau in Deutschland nicht an – und ist jetzt sogar eine Regierungsbeteiligung der Grünen in Gefahr? Darüber spricht Lars Haider in der Reihe „Entscheider treffen Haider“ mit dem grünen Spitzenpolitiker Cem Özdemir.
Das sagt Cem Özdemir über …
… die Frage, was aus ihm geworden wäre, wenn es vor vier Jahren eine Koalition von CDU/CSU, FDP und Grünen gegeben hätte:
„Es hätte vor vier Jahren gute Chancen gegeben, dass ich einer Jamaika-Regierung angehört hätte. Aber Christian Lindner wollte damals nicht regieren, jetzt will er es auf einmal, interessanterweise mit deutlich stärkeren Grünen und mehr Klimaschutz. Wir Grünen wollten und wollen dieses Land regieren und empfinden das, anders als andere, nicht als Beleidigung, sondern als Ehre.“
… den Traum, Minister zu werden:
„Ich habe nicht vergessen, von wo ich komme. Ich komme aus einer Arbeiterfamilie, sogenannte Gastarbeiter, bin heute Mitglied im Deutschen Bundestag und durfte schon einmal über die Geschicke des Landes mitverhandeln, eben bei den Gesprächen mit CDU/CSU und FDP, war zehn Jahre Vorsitzender meiner Partei Bündnis 90/Die Grünen. Darauf blicke ich mit Demut, Ehrfurcht und Stolz zurück und bin gespannt, was da noch kommt.“
… das Thema aller Themen:
„Fast alle in der Gesellschaft sagen, dass wir mehr Klimaschutz brauchen und dringend in die Puschen kommen müssen und endlich entschieden handeln. Wir Grünen haben das Thema sehr früh erkannt, und ich wünschte, wir hätten uns mit unseren Prognosen geirrt und noch viel mehr Zeit, um umzusteuern. Tatsächlich waren selbst die Grünen zu vorsichtig mit ihren Aussagen, wenn man sich die Dramatik ansieht, die die Klimakrise genommen hat. Den Willen zum Klimaschutz würde ich weder Olaf Scholz noch Armin Laschet oder Christian Lindner absprechen. Aber die Fähigkeit, das Richtige zu tun, Mut zu Entscheidungen zu haben und zu handeln, wenn harte Lobbyinteressen dagegenstehen, die fehlt. Das ist der Unterschied zu Annalena Baerbock, Robert Habeck und den Grünen.“
… über Plagiate und lachende Kanzlerkandidaten in Katastrophengebieten:
„Was die ganzen Nickligkeiten der Kandidaten angeht, die kann man sich jetzt natürlich gegenseitig um die Ohren schlagen. Man kann aber auch über wichtige Themen reden. Wird die Welt unserer Kinder und Kindeskinder noch eine lebenswerte sein? Oder werden sie uns verfluchen und sagen: Ihr Vollidioten, ihr habt alles gewusst, warum habt ihr nichts getan? Wer die Grünen wählt, muss wissen: Auch mit uns wird es eine Klimakrise geben, wir werden nur alles dafür tun, sie beherrschbar zu machen. Der Unterschied zu den anderen Parteien ist, dass bei denen das Reden und Handeln beim Klimaschutz nicht zusammenpasst. Das reicht angesichts der Dramatik aber nicht. Wir müssen jetzt alle Hebel in Bewegung setzen und handeln, und Deutschland muss vorn mit dabei sein. Und wir müssen die Erneuerer in der Wirtschaft, von denen es viele gibt, vor ihren falschen Freunden in der Politik schützen.“
… die Grünen als Verbotspartei:
„Das ist der Versuch der Konkurrenz, ihr Nichthandeln zu rechtfertigen. Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Die Politik hat es in der Hand. Natürlich müssen wir den Leuten sagen, dass sich ihr Leben ändern wird, aber natürlich muss es auch weiter möglich sein z. B. zu fliegen, nur anders als sonst. Meine Frau hat Verwandtschaft in Südamerika, da kann man nicht mit dem Fahrrad hinfahren. Und ja, einige Sachen werden wir auch verbieten müssen, zum Beispiel den fossilen Verbrennungsmotor, aus dieser Technologie müssen wir raus. Aber das sehen jetzt ja auch die großen deutschen Automobilkonzerne so.“
… die Frage, ob die Grünen eine Regierungsbeteiligung auf jeden Fall sicher haben:
„Sicher ist gar nichts. Es besteht die Gefahr, dass die jetzige Stillstandskoalition aus CDU und SPD mit dem Auspuffliberalismus der FDP noch mal vier Jahre weitermacht. Das kann schon passieren, wenn man nicht aufpasst.“
… eine politische Nähe zu den Grünen, die dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk von Kritikern nachgesagt wird:
„Das ist ein beliebtes Klischee, das von Rechtsaußen genährt wird. Mir fällt auf, dass überall dort, wo Populisten Einfluss gewinnen, der öffentlich-rechtliche Rundfunk zerschlagen wird. Warum machen die das? Weil sie Journalistinnen und Journalisten fürchten, die gucken, ob die Politiker korrupt sind, ob sie eine Nähe zu Despoten haben. Das wollen die nicht. Das Erste, was autoritäre Herrscher überall tun, ist, die freie Presse zu bekämpfen. Ich bin stolz darauf, dass wir in einem Land leben, in dem jeder seine Meinung sagen kann, auch wenn ich bei öffentlichen Auftritten leider Polizeischutz brauche. Ich bin dankbar, dass die Polizistinnen und Polizisten gut auf mich aufpassen.“
… die Regeln für Einwanderung:
„Wir wollen eine geregelte Zuwanderung, dafür brauchen wir ein Einwanderungsgesetz, in dem steht, wer unter welchen Bedingungen nach Deutschland kommen darf. Vor allem aber auch, was mit den Menschen hier passiert: Sie müssen die Sprache genauso lernen wie die Bedeutung der Gleichberechtigung von Mann und Frau, sie müssen in Integrationskursen etwas über gewaltfreie Erziehung und unser Grundgesetz erfahren. Und wir müssen genau wissen, wer zu uns kommt. Das wichtigste Ziel ist aber, dass Menschen dort, wo sie auf die Welt kommen, vernünftig leben können, damit sie gar nicht erst dazu gezwungen werden, ihre Heimat zu verlassen. Deshalb dürfen wir despotische Herrscher nicht unterstützen oder gar mit Waffen versorgen. Die Bilder aus Afghanistan zeigen doch, dass viele Menschen dort die gleichen Träume haben wie wir. Sie wollen nicht unterjocht werden, sondern in Wohlstand leben und eine gute Bildung für ihre Kinder bekommen. Deshalb müssen wir alle, die guten Willens sind, gemeinsam gegen die Fanatiker auf dieser Welt kämpfen.“
… die Abhängigkeit Deutschlands von ausländischen Arbeitskräften:
„Wir werden in den kommenden Jahren auf Arbeitskräfte aus dem Ausland angewiesen sein. Wer pflegt uns denn, wenn wir alt sind? Wer versorgt uns, wenn wir im Krankenhaus liegen? Wer macht die Arbeit, die sonst keiner machen will? Hierfür ist Zuwanderung nach klaren Regeln ein Teil der Antwort.“
… Frauen:
„Für weniger Kriege, Korruption und mehr Klimaschutz in der Welt muss die Unterdrückung der Frauen in weiten Teilen der Welt bekämpft werden. Sie brauchen Zugang zu Verhütung, Bildung, Geld und Macht.“
… die Angst von Teilen der Wirtschaft vor einer Kanzlerin Annalena Baerbock:
„Es gibt tatsächlich eine Furcht vor Frauen, die jung sind und Karriere machen wollen, da funktionieren die alten Netzwerke der Männer noch, die gern unter sich bleiben wollen. Gucken Sie sich die jüngste Kampagne an, die gegen uns Grüne gestartet worden ist. Dahinter steckt viel Geld, und man fragt sich natürlich: Woher kommt das? Offensichtlich gibt es mächtige Akteure, die die Grünen nicht wollen. Dass eine junge Frau als Kanzlerkandidatin polarisiert, wundert mich nicht. Viele andere Frauen werden sich aber in Annalena Baerbock wiederfinden. Übrigens höre ich von vielen Wirtschaftsbossen, dass sie auf Grüne in der Regierung setzen, damit ihre Klima-Investitionen nicht umsonst waren und wir endlich vorankommen beim Klimaschutz.“
… Gendern:
„Das kann jeder und sollte jede und jeder für sich entscheiden. Was ich aber erwarte, ist, dass jeder darüber nachdenkt, wie man mit Worten Menschen ausschließen und kränken kann. Ich habe früher auf dem Schulhof auch Worte benutzt, die ich heute nicht mehr verwenden würde. Aber daraus einen Vorwurf an Ältere abzuleiten, halte ich für Quatsch. Da tut uns allen ein bisschen Gelassenheit gut, wir sollten die Vielfalt, die wir einfordern, auch bei der Sprache zulassen. Lasst die Leute doch selbst zu ihren Erkenntnissen kommen. Bestimmte Wörter sollten aber wirklich nicht benutzt werden, weil sie schlicht und einfach diskriminierend sind. Dazu gehört zum Beispiel das N-Wort. Das braucht unsere Sprache nicht mehr.“
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Fragebogen: Vorbild ist, wer gegen Unterdrückung kämpft
Was wollten Sie als Kind werden und warum?
Schaffner oder Rockstar. Vielleicht auch beides auf einmal.
Was war der beste Rat Ihrer Eltern?
Vertraue nicht allen (habe ich leider früher zu wenig beachtet). Und: Versuche ein guter Mensch zu sein (versuche ich zu beachten).
Wer war bzw. ist Ihr Vorbild?
Alle, die tagtäglich gegen Ungerechtigkeit, Unterdrückung und die Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlage kämpfen.
Was haben Ihre Lehrer/Professoren über Sie gesagt?
Wenn er nur etwas mehr lernen würde …
Wann und warum haben Sie sich für den Beruf entschieden, den Sie heute machen?
Aus demselben Grund, warum ich jeden Morgen aufstehe, mich rasiere und dann zur Arbeit radle: weil ich die Welt etwas besser machen möchte. Dass wir unsere wunderbare Natur erhalten, Mädchen und Jungen gleichberechtigt ein menschenwürdiges Leben überall auf der Welt führen können.
Wer waren Ihre wichtigsten Förderer?
Einige großartige Lehrer/-innen, tolle Nachbar/-innen und meine Eltern, die mit ihren bescheidenen Möglichkeiten alles für mich gegeben haben.
Auf wen hören Sie?
Auf meine Kinder, meine Frau und meine exzellenten Mitarbeiter/-innen.
Was sind Eigenschaften, die Sie an Ihren Chefs bewundert haben?
Mut, Unbequemes zu sagen und zu tun.
Was sollte man als Chef auf keinen Fall tun?
Undankbar sein und alles besser wissen.
Was sind die Prinzipien Ihres Führungsstils?
Alles anhören, alles hinterfragen, dann entscheiden.
Wie wichtig war/ist Ihnen Geld?
Früher zu wenig, jetzt im Sinne der schwäbischen Hausfrau oder des Hausmannes.
Was erwarten Sie von Mitarbeitern?
Ein offenes Wort, Neugierde, Loyalität.
Worauf achten Sie bei Bewerbungen?
Erfahrungen jenseits von Beruf und Studium, gerne auch im Ausland. Hauptsache, man blickt über den Tellerrand.
Duzen oder siezen Sie?
Ältere im Regelfall erst mal Sie, sonst gerne duzen.
Was sind Ihre größten Stärken?
- Ich muss nicht auf jedem Bild sein.
- Ich muss nicht alles machen.
- Ich kenne meine Schwächen.
Was sind Ihre größten Schwächen?
Siehe oben!
Welchen anderen Entscheider würden Sie gern näher kennenlernen?
Pete Buttigieg, den US-Verkehrsminister.
Was würden Sie ihn fragen?
Bei unserem letzten Austausch haben wir darüber gesprochen, wie wir die Mehrheit noch stärker vom Klimaschutz überzeugen können. Daran würde ich gerne anknüpfen.
Was denken Sie über Betriebsräte?
Wir sollten stolz auf unsere betriebliche Mitbestimmung sein, sie ist eine große Stärke unseres Standorts!
Welche Entscheidung hat Ihnen auf Ihrem Karriereweg geholfen?
Meine Kandidatur für den Bundestag 1994.
Wie gehen Sie mit Stress um?
Viel lachen, auch über mich selbst. Gelegentlich Yoga, wandern, Filme und Musik.
Wie kommunizieren Sie?
Auf viel zu vielen Kanälen, leider (SMS, WhatsApp, Signal, Threema, Instagram, Twitter, Facebook, E-Mail, …). Am liebsten aber im persönlichen Gespräch.
Wie viel Zeit verbringen Sie an Ihrem Schreibtisch?
Immer stehend, schätzungsweise zwei bis drei Stunden pro Tag im Schnitt. Die meiste Zeit bin ich aber vor Ort bei den Leuten oder in Gesprächen.
Wenn Sie anderen Menschen nur einen Rat für ihren beruflichen Werdegang geben dürften, welcher wäre das?
Nutze die Erfahrungen anderer und mache deine eigenen Fehler.
Was unterscheidet den Menschen von dem Manager Özdemir?
Nichts Entscheidendes, solange ihr Herz für den VfB schlägt.
Und zum Schluss: Was wollten Sie immer schon mal sagen?
Es gibt nicht die Politiker/-innen, Journalist/-innen, Muslim/-innen, Schwäb/-innen, Türk/-innen etc.!