Hamburg. Die Linken-Fraktionschefinnen sprechen über Pandemiebekämpfung und die Kritik von Sahra Wagenknecht an der Gendersprache.

Dieses Interview mit den Chefinnen der Hamburger Linksfraktion, Sabine Boeddinghaus und Cansu Özdemir, lief anders als geplant. Eine Parteifreundin von Boeddinghaus hatte sich kurz vor dem Interviewtermin trotz doppelter Impfung mit dem Coronavirus angesteckt. Da beide für längere Zeit an einem Infostand gestanden hatten, blieb die Fraktionschefin zunächst in Quarantäne – obwohl auch sie doppelt geimpft ist.

Also führten wir das Gespräche per Videokonferenz und konnten auch keine neuen Fotos machen. Der Umgang mit der Pandemie, Impfanreize und bessere Informationen für Menschen mit Migrationshintergrund waren auch Thema des Interviews – wie auch Klimaschutz und Wahlkampf. Zunächst aber ging es um den jüngsten erschreckenden Ausfall eines Linken-Mitglieds.

Hamburger Abendblatt: Frau Boeddinghaus, Frau Özdemir, Ihr Hamburger Parteifreund Bijan Tavassoli hat laut Medienberichten gerade den Taliban zu Ihrem Sieg und zu von ihnen getöteten Bundeswehrsoldaten in Afghanistan gratuliert. Das ist vermutlich nicht Ihre Meinung, oder?

Sabine Boeddinghaus: Wir haben als Partei am Montag sofort eine Erklärung rausgegeben und später eine weitere, dass wir uns aufs Schärfste von diesen Äußerungen distanzieren. Das sind unzumutbare Haltungen, daher läuft auch bereits ein Parteiausschlussverfahren.

Herr Tavassoli ist seit vielen Jahren mit radikalen Aussagen in der Öffentlichkeit und bei Social Media unterwegs – und immer noch Mitglied der Linken, er war auch Vorsitzender der Linksjugend. Warum guckt sich die Partei das so lange an?

Cansu Özdemir: Seine jetzigen Äußerungen übertreffen schon alles, was er bisher gemacht hat. Man muss aber wissen: Er ist zwar Parteimitglied, hat aber schon lange keine Funktion in der Partei, nirgends, auf keiner Ebene. Er handelt also als Privatperson. Daher ist ein Ausschlussverfahren schwierig. Aber seine jetzigen Äußerungen sind derart inakzeptabel und parteischädigend, dass sich nun doch ein Ansatz für einen Ausschluss ergibt und das Verfahren nun bereits läuft.

Noch mal Afghanistan: Der Senat hat dem Bund angeboten, weitere 200 Ortskräfte und Flüchtlinge aufzunehmen – reicht das?

Boeddinghaus: Auf keinen Fall. Wir haben ja schon immer ein breit angelegteres Landesaufnahmeprogramm gefordert, etwa nach dem Vorbild Thüringens. Wir müssen jetzt alles dafür tun, dass alle Menschen aus Afghanistan herauskommen, die sich von den Taliban bedroht sehen. Alles andere wäre unwürdig. Die Bundesländer müssen diesen Menschen gemeinsam eine echte Bleibeperspektive bieten.

Die wichtigsten Corona-Themen im Überblick

Özdemir: Der Senat hatte ja schon vor längerer Zeit beschlossen, 200 Geflüchtete in Hamburg aufzunehmen – hat es aber nicht getan. Jetzt rühmt er sich dafür, dass er es erneut anbietet. Wenn man sich die bundesweite Diskussion anschaut mit Parolen wie „2015 darf sich nicht wiederholen“ oder „Wir brauchen eine europäische Lösung“, dann weiß man, wie lange wir noch auf eine konkrete Unterstützung warten können.

Fürchten Sie nicht, dass eine allzu großzügige Haltung eher der AfD in die Hände spielt?

Özdemir: Die AfD instrumentalisiert die Situation von Geflüchteten und von muslimischen Menschen, die im Mittelmeer ertrinken. Diese Partei darf aber nicht unser Maßstab sein, die AfD wird weiter hetzen – auch wenn die Menschen aus Afghanistan nicht bei uns aufgenommen werden.

Bei Corona sind sich Linke und AfD einig: 2G spaltet die Gesellschaft, deshalb sollte man bei 3G mit kostenlosen Tests für alle bleiben. Gibt Ihnen das zu denken?

Boeddinghaus: Nur weil wir an dieser Stelle mal eine Übereinstimmung haben, heißt das noch lange nicht, dass wir Positionen teilen. Wir sagen klar: Menschen, die aus bestimmten Gründen noch nicht geimpft sein können, müssen sich weiter testen lassen können. Wir merken ja gerade, dass immer häufiger auch vollständig Geimpfte sich infizieren und andere anstecken können. Es ist daher zu früh, vom Testen abzurücken und eine Spaltung der Gesellschaft herbeizuführen.

Bei Öffnungskonzepten wie 2G geht es ja auch und vor allem darum, dass Restaurants, Kneipen, Bars, Kinos, Theater und so weiter endlich wieder vernünftig arbeiten und Geld verdienen können. Da sind aber viele nicht so gut ausgebildete Menschen beschäftigt – und Sie sind dagegen?

Boeddinghaus: Wir haben immer mehr Beteiligung der Betroffenen eingefordert. Bars und Clubs haben angeboten, mit dem Senat in einen Dialog zu treten und über Konzepte zu sprechen. Das müsste man endlich machen und auch mal etwas ausprobieren. Was nicht sein darf, ist, dass Ungeimpfte ausgeschlossen werden.

Wie stellen Sie sich das denn vor? Soll man jemanden mit einem negativen Schnelltest auf eine Stufe mit Geimpften und Genesenen stellen, obwohl alle Experten sagen, dass diese Tests längst nicht so sicher sind?

Boeddinghaus: Wir sehen ja gerade, dass sich auch Geimpfte infizieren können. Deshalb ist das doch keine Grundlage, um Getestete auszuschließen. Wir müssen ausprobieren, was die richtigen Wege sind. Man muss dabei offen sagen, dass es immer ein Risiko geben wird. Es wird kein Konzept geben, dass absolute Sicherheit bietet.

Nach dem Motto: Wir akzeptieren auch, dass Menschen im Straßenverkehr oder durch Rauchen sterben, warum sollen wir ihnen verbieten, an Corona zu erkranken?

Boeddinghaus: Das ist eine harte Formulierung. Aber wir haben keine Wahl: Wir müssen mit dieser Pandemie leben. Und es wird irgendwann die nächste kommen. Deshalb regen wir schon lange an, die Erfahrungen aus diesen 18 Monaten Pandemie in einem Expertenrat auszuwerten und Bilanz zu ziehen. Dann wären wir auch auf die nächste Pandemie besser vorbereitet. Dennoch ist auch unser Appell: impfen, impfen, impfen. Dafür brauchen wir noch viel mehr dezentrale Angebote.

Das fordern Sie schon lange vom Senat. Mittlerweile gibt es diese dezentralen Impfangebote an jeder Ecke, täglich entstehen neue. Was muss darüber hinaus noch passieren?

Özdemir: Es muss noch mehr geworben werden und noch mehr Überzeugungsarbeit geleistet werden. Wir sind ja noch lange nicht bei den nötigen 85 Prozent Impfquote. Man könnte auch einen Bonus anbieten: etwa die kostenlose Nutzung des ÖPNV für Impfwillige. Wer wenig Geld hat, kann sich halt kein Ticket kaufen, um ins nächste Impfzen­trum zu fahren.

Aber die dezentralen Angebote sollen ja gerade zu den Menschen kommen, nicht umgekehrt. Wäre vielleicht die kostenlose Currywurst attraktiver?

Özdemir: Dazu gab es ein hämische Diskussion in den sozialen Medien. Nach dem Motto: Guckt her, für eine Bratwurst lassen sich die Menschen doch impfen. Das fand ich sehr arrogant. Viele Kommentatoren wissen doch gar nicht, was für einen Wert eine kostenlose Bratwurst für eine Familie hat, die jeden Cent umdrehen muss.

Die aktuellen Corona-Fallzahlen aus ganz Norddeutschland:

  • Hamburg: 2311 neue Corona-Fälle (gesamt seit Pandemie-Beginn: 430.228), 465 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (davon auf Intensivstationen: 44), 2373 Todesfälle (+2). Sieben-Tage-Wert: 1435,3 (Stand: Sonntag).
  • Schleswig-Holstein: 1362 Corona-Fälle (477.682), 623 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 39). 2263 Todesfälle (+5). Sieben-Tage-Wert: 1453,0; Hospitalisierungsinzidenz: 7,32 (Stand: Sonntag).
  • Niedersachsen: 12.208 neue Corona-Fälle (1.594.135), 168 Covid-19-Patienten auf Intensivstationen, 7952 Todesfälle (+2). Sieben-Tage-Wert: 1977,6; Hospitalisierungsinzidenz: 16,3 (Stand: Sonntag).
  • Mecklenburg-Vorpommern: 700 neue Corona-Fälle (381.843), 768 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 76), 1957 Todesfälle (+2), Sieben-Tage-Wert: 2366,5; Hospitalisierungsinzidenz: 11,9 (Stand: Sonntag).
  • Bremen: 1107 neue Corona-Fälle (145.481), 172 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 14), 704 Todesfälle (+0). Sieben-Tage-Wert Stadt Bremen: 1422,6; Bremerhaven: 2146,1; Hospitalisierungsinzidenz (wegen Corona) Bremen: 3,88; Bremerhaven: 7,04 (Stand: Sonntag; Bremen gibt die Inzidenzen getrennt nach beiden Städten an).

Ihr Fraktionskollege Deniz Celik hat Prämien angeregt, etwa drei freie Tage für Beamte, oder auch finanzieller Art. Wie viel könnte das denn sein?

Boeddinghaus: Wir können uns 30 bis 50 Euro pro Kopf vorstellen. Wenn man sich regelmäßig testen lässt, kommt man schnell auf solche Kosten, die ja auch der Staat trägt. Warum also den Menschen das Geld nicht als Anreiz für die Impfung anbieten? Wir wollen doch, dass sich möglichst viele impfen lassen.

Derzeit infizieren sich überdurchschnittlich viele Menschen in Stadtteilen mit hohem Anteil an Migranten wie Wilhelmsburg oder Veddel. Von Intensivstationen hört man, dass dort überwiegend Menschen mit eher niedrigem sozialen Status und Wurzeln im Ausland liegen. Unter den infizierten Reiserückkehrern war die Türkei ganz weit vorn. Das deutet darauf hin, dass sich Menschen dieser Gruppe seltener Impfen lassen und häufiger anstecken. Teilen Sie diese These?

Özdemir: Ich beobachte auch, dass in diesem Sommer sehr viele Hamburger in die Türkei gereist sind und sich dort infiziert haben. Auf unsere Anfrage hatte der Senat ja bestätigt, dass sich auf der Veddel und in Billstedt besonders viele Menschen infiziert haben und gestorben sind. Und da leben halt viele Menschen mit Migrationshintergrund, davon viele mit türkischem Hintergrund. Das schlägt sich in den Zahlen nieder. Auch das RKI hat gesagt, dass das Sterberisiko für ärmere Menschen um bis zu 70 Prozent höher ist. Die Gesundheitsversorgung in ärmeren Stadtteilen ist in Hamburg ein großes Problem. Das war es schon vor Corona, aber durch die Pandemie hat sich die Situation noch verschärft.

Tut der Senat genug dagegen?

Boeddinghaus: Nein. Er ist zu spät aufgewacht und hat zu zögerlich gehandelt, um in diesen Stadtteilen die Menschen präventiv aufzuklären und ihnen rasch ein Impfangebot zu machen. Stattdessen wurden Stelzenläufer durch Harburg geschickt, das war eine peinliche Nummer.

Das ist die Rückschau. Aber wie sieht es derzeit aus? In der muslimischen Community geht ja nach wie vor das Gerücht rum, Impfen mache unfruchtbar. Tut die Stadt genug, um die Menschen aufzuklären?

Özdemir: Mir persönlich ist diese Abneigung gegen die Impfung in muslimisch geprägten Kreisen nicht bekannt. Eher im Gegenteil: Viele wollen sich endlich impfen lassen, damit sie etwa wieder ihre Familien im Ausland besuchen können und aus der Isolation rauskommen. Ganz wichtig ist auch der Abschied von Verstorbenen, der findet normalerweise in sehr großem Kreis statt. Dass das zuletzt nicht möglich war, hat viele belastet und führt dazu, dass gerade Ältere sich unbedingt impfen lassen wollen.

Anderes Thema: SPD und Grüne streiten über die richtige Klimapolitik. Die Grünen wollen ehrgeizigere Ziele festschreiben, die SPD fordert zunächst eine genauere Analyse. Der DGB hat gefordert, Arbeitnehmerinteressen beim Thema nicht zu vergessen. Wo verortet sich die Linke in dieser Debatte?

Boeddinghaus: Mit der Erde lässt sich nicht verhandeln. Die Klimakrise hat uns vor kurzem im eigenen Land deutlich vor Augen geführt, dass es bereits fünf nach zwölf ist. Wir sind es unseren Kindern und Enkeln schuldig, das Schlimmste abzuwenden. Ich finde es daher erschreckend, wenn Olaf Scholz sagt, der Kohleausstieg sei nicht bis 2035 zu schaffen. Ich frage mich, mit wem er eigentlich koalieren will. Wir sind ganz klar: Wir müssen raus aus der Kohle bis 2030, erneuerbare Energien fördern und bis 2035 klimaneutral werden. Dafür brauchen wir auch eine andere Steuer- und Finanzpolitik: Mit der Schuldenbremse werden wir unsere Ziele nicht erreichen.

Glauben Sie, die Klimakrise ist vor allem durch neue Technologien zu überwinden, wie Scholz es glaubt, oder müssen die Menschen auch ihr Verhalten ändern, wie es die Grünen sehen?

Özdemir: Es reicht nicht, wenn jeder und jede Einzelne an seinem und ihrem Verhalten etwas ändert. Das ist zwar auch wichtig, daher muss der ÖPNV gestärkt und ausgebaut werden, zum Beispiel durch eine Stadtbahn. Aber wir müssen uns vor allem die Hauptverursacher der CO2-Emissionen vorknöpfen. Das sind nicht die Privatpersonen, sondern die Industrie, die Energieerzeuger, der Straßenverkehr, der Schiffsverkehr.

Im Bundestagswahlkampf spielt die Linke so gut wie keine Rolle. Sie dümpelt bei sechs bis sieben Prozent. Was muss anders werden?

Özdemir: Da ist noch Luft nach oben. Wir wollen zweistellig werden und kämpfen vor Ort darum, die Menschen zu überzeugen. Dabei spielt die soziale Frage natürlich eine zentrale Rolle.

Boeddinghaus: Uns motiviert, dass es für viele unserer Positionen in der Bevölkerung große Zustimmung gibt, etwa für die Frage nach einer einmaligen Vermögensabgabe oder nach einem Mietendeckel.

Die bundesweit bekannteste Linke ist noch immer Sahra Wagenknecht. Sie hat der Linken in ihrem Buch vorgeworfen, sie würde sich nicht mehr für die konkreten Probleme der Menschen interessieren, sondern sich lieber um Identitätspolitik kümmern – also auch ums korrekte Gendern oder die Interessen von gesellschaftlichen Kleinstgruppen. Könnte das ein Grund für die Schwäche Ihrer Partei sein?

Özdemir: Das sehe ich nicht so. Ich finde es seltsam, dass Menschen, die von Armut bedroht sind, immer unterstellt wird, dass sie sich nicht für solche Fragen interessieren. Nehmen Sie meine Biographie: Ich habe einen Migrationshintergrund, bin in einem Stadtteil aufgewachsen, in dem Armut eine zentrale Rolle gespielt hat, definiere mich aber als Feministin. Daher ist mir Gendern wichtig. So sind doch viele Menschen sozialisiert – in unserer Partei, aber auch unter den Wählern. Der Einsatz für soziale Gerechtigkeit und Identitätspolitik sind doch keine Gegensätze. Wir sagen ja auch nicht: Entweder ist man für höhere Löhne oder antirassistisch. Die meisten von uns sind beides gleichzeitig.

Rot-Rot-Grün ist aus Ihrer Sicht die einzige Option für eine Regierungsbeteiligung. Ist so etwas mit Olaf Scholz und Annalena Baerbock für Sie vorstellbar?

Özdemir: Warten wir mal ab, welche Bündnisse am Ende rechnerisch möglich sind. Dann geht es für uns darum, ob ein Politikwechsel möglich ist, ob es eine Bereitschaft für Umverteilung von oben nach unten und für armutsbekämpfende Maßnahmen gibt. Ein Weiter-so ist für uns keine Option.

Boeddinghaus: SPD und Grüne müssen am Ende beantworten, mit wem sie konsequenten Klimaschutz umsetzen wollen. Mit Armin Laschet und Christian Lindner? Da geht es dann auch um Glaubwürdigkeit.