Hamburg. SPD-Kanzlerkandidat ist auffallend oft in der alten Heimat. Das dürfte eine Strategie für die Bundestagswahl sein. Die Hintergründe.
Die zwei Brüder sind so schüchtern wie Sechs- und Neunjährige halt sind, wenn sie plötzlich einer Gruppe fremder Erwachsener gegenüberstehen. Aber weil sie nun mal auch neugierige Kinder sind und ihnen der Mann mit dem weißen Hemd, der sich gerade einen Kaffee aus dem „Hofladen“ im Pergolenviertel geholt hat, irgendwoher bekannt vorkommt, fragt der Kleine ganz offen: „Willst du Bürgermeister werden?“
Großes Gelächter. Nein, sagt Olaf Scholz grienend, Bürgermeister sei er ja schon gewesen. Doch bevor er den Jungs seine Lebensplanung erläutern kann, klärt der Neunjährige den kleinen Bruder auf: „Der will Kanzler werden.“ Oha. So erheiternd die Frage in dieser Situation war, so berechtigt schien sie aus Kindersicht. Tatsächlich ist Olaf Scholz auffallend oft in Hamburg: Vorige Woche tingelte er einen Tag lang durch die Stadt, am Sonntag besuchte er eine Veranstaltung auf dem Dom, und an diesem Donnerstag tourte er erneut von morgens bis abends durch seine alte Heimat.
Bundestagswahl: Olaf Scholz auffallend oft in Hamburg
Alles nur Zufall, heißt es dazu aus seinem Umfeld. Der SPD-Kanzlerkandidat werde auch vielen anderen Regionen im Lande Besuche abstatten. Natürlich wird er das. Schließlich will er Angela Merkel beerben und nicht Peter Tschentscher. Doch dass Scholz dieser Tage so oft in der Hansestadt ist, hängt sicher nicht nur damit zusammen, dass er es nach eigener Aussage immer noch genießt, in seiner Wohnung in Altona aufzuwachen und morgens an der Elbe zu joggen. Sondern es dürfte auch Teil einer Strategie sein.
Scholz predigt schon seit Monaten, selbst aus dem tiefsten Umfragekeller heraus, dass die Menschen sich erst kurz vor der Wahl entscheiden werden – und zwar anhand der Frage, wen sie eigentlich als Kanzler oder Kanzlerin wollten. Und dann werde er schon gewinnen. Was lange wie das Pfeifen im Walde klang, wird nun in den Umfragen langsam realistischer. In der Kanzlerfrage liegt der Sozialdemokrat deutlich vor Armin Laschet (CDU) und Annalena Baerbock (Grüne), auch seine Partei holt auf.
Der Name Scholz ist mit Hamburg verbunden
Das Storytelling im Scholz-Lager, ihrem Kandidaten würden die Wähler am Ende am ehesten das Land anvertrauen, wird aber nicht nur durch immer neue Patzer der Konkurrenz genährt, es lebt auch von einem anderen Faktor: Hamburg. Zwar hat Scholz auch auf Bundesebene bewiesen, dass er sein Handwerk versteht, er hat an großen Gesetzen mitgewirkt und als Bundesfinanzminister das Geld erst zusammengehalten und es dann im richtigen Moment (Corona, Flut) zur Verfügung gestellt.
Aber all das ist längst nicht so stark mit seinem Namen verbunden wie die sieben Jahre zuvor als Bürgermeister. Hier sind die Spuren seines Wirkens allerorten zu besichtigen, daher ist es für ihn nahe liegend, den Rest der Republik jetzt daran teilhaben zu lassen.
Olaf Scholz schwelgt in Erinnerungen
Und so steht die versammelte Hauptstadtpresse, von der ARD bis zur „Süddeutschen“, vom „Focus“ bis zum „Spiegel“, am Donnerstagmorgen in einem Hinterhof in Harburg. „Jugendberufsagentur“ steht vorn am Gebäude. „Mein Baby“, sagt Scholz und schwelgt in Erinnerungen. Bei Amtsantritt 2011 habe er sich gefragt, warum Ausbildungsanfänger im Schnitt schon 19 Jahre alt seien: Was machen die in der Zwischenzeit? Mit Mühe habe man ermittelt, dass von den Abschlussjahrgängen der 9. und 10. Klassen in Hamburg fast 2000 junge Leute vom Radar verschwanden – keine Behörde wusste, was die machten.
Als Bürgermeister, so erzählt es Scholz an diesem Tag nicht zum ersten Mal stolz, habe er dann alle Beteiligten, Schul- und Sozialbehörde, Bezirksämter und Jobcenter, zur Zusammenarbeit verdonnert, um die jungen Menschen „an die Hand zu nehmen“. Heraus kam die Jugendberufsagentur. Heute würden pro Jahrgang nur noch zehn Schulabgänger durchs Rost fallen, nicht mehr 2000. Viel mehr von ihnen bekämen jetzt direkt nach der Schulzeit einen Ausbildungsplatz. „Ich finde, das ist ein Weg für ganz Deutschland“, sagt Scholz, und die zahlreich vertretenen Weggefährten von damals nicken. Jetzt muss es nur noch das ganze Land erfahren.
Auch im Pergolenviertel lobt Scholz sich selbst
Ähnliches Schema im Pergolenviertel. Scholz erzählt die Geschichte, die in Hamburg bald jedes Kind aufsagen kann: Wie er 2011 eine Stadt mit brach liegendem Wohnungsbau übernommen und für eine „völlige Trendumkehr“ gesorgt habe: Erst 6000 Wohnungen pro Jahr, später sogar 10.000. Gelungen sei auch das nur, weil er als Bürgermeister die Beteiligten in ein „Bündnis für das Wohnen“ gedrängt habe: Politik, Verwaltung, Wohnungswirtschaft. Deren Vertreter bestätigen das artig: Ja, Hamburg habe gezeigt, wie man das mache.
Zwischendurch nutzt Scholz das brodelnde Stahlwerk von ArcelorMittal als Kulisse für seine Vision vom Klimaschutz. Der sei nämlich „ein Industrieprojekt“: Statt die Bevölkerung mit Verzichten und Verboten zu drangsalieren, so seine Botschaft, müsse man Wissenschaft und Wirtschaft dazu bringen, umweltfreundliche Prozesse zu entwickeln und anzuwenden. Was passt da besser als ein Stahlwerk, das als Vorreiter in Sachen CO2-Einsparung gilt und das perspektivisch auf Wasserstoff setzen will – wenn der Staat das fördert. Der Kanzler Scholz, so die Botschaft des ebenfalls angereisten Bürgermeisters Peter Tschentscher, würde das durchsetzen.
Hamburg beinhaltet auch Risiken für Scholz
Später auf Kampnagel wird es subtiler. Dass der Bundesfinanzminister mit dafür gesorgt hat, dass die maroden Hallen des Kulturzentrums für 120 Millionen Euro saniert und erweitert werden können, erwähnt Intendantin Amelie Deuflhard gar nicht. Dankbar ist man ihm hier dennoch. Bei einer auf Englisch geführten Gesprächsrunde mit Künstlern aus dem Aus- und Inland darf Scholz ein bisschen internationales Format beweisen – schadet ja nicht, schon gar nicht, wenn ein Konkurrent etwas provinziell daherkommt.
So sehr Hamburg sich als Blaupause für seinen nächsten Karriereschritt vorführen lässt, so vermint ist das Gelände hier aber auch mitunter für Scholz. Dass er einst die Stadtbahn beerdigt, einem 200-Meter-Hochhaus an den Elbbrücken zugestimmt und der HafenCity ein Mega-Einkaufszentrum beschert hat, vor dem die ganze Innenstadt bangt – das alles wird ihm natürlich nur in Hamburg aufs Brot geschmiert.
Hamburger haben G 20 nicht vergessen
Zwei Punkte ragen dabei heraus: G 20 und Cum-Ex. Dass Scholz, der schon als Bürgermeister gern in internationalen Dimensionen dachte, sofort zugegriffen hat, als Angela Merkel ihn um die Austragung des G-20-Gipfels 2017 in der Hansestadt bat, dass er dann auch noch die Gefahr im Vorfeld heruntergespielt hat, das haben ihm viele Bürger nicht vergessen. Mitunter schlägt das noch heute in Wut um: „Sie sollten sich schämen, was Sie den Menschen antun“, blökte ihm kürzlich in Eimsbüttel ein junger Mann hinterher. Ob er damit auf G 20 anspielte, blieb zwar offen – lag aber nah. Vor allem in linken Kreisen wird das Feindbild Olaf Scholz seit G 20 so hingebungsvoll gepflegt, als hätte er die Stadt höchstpersönlich angezündet.
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Auch der Skandal um die Cum-Ex-Geschäfte wird wohl nirgends so aufgeladen debattiert wie in Hamburg. Zwar haben außer Scholz selbst auch diverse andere Zeugen im Untersuchungsausschuss der Bürgerschaft beteuert, dass es keinerlei politische Einflussnahme auf die Entscheidung des Finanzamtes gab, 2016 eine zweistellige Millionensumme nicht von der Warburg-Bank zurückzufordern.
Hamburg: Chance und Risiko für Scholz
Doch da sich schwerlich beweisen lässt, dass etwas nicht stattgefunden hat, halten vor allem CDU und Linkspartei ihre These aufrecht, dass es ja doch so gewesen sein könnte. Was legitim ist – ebenso wie die These, dass das etwas mit Wahlkampf zu tun haben könnte. So bleibt Hamburg für den Kanzlerkandidaten Scholz immer beides – Chance und Risiko zugleich.