Hamburg. Die Nato-Truppen haben das Land verlassen, damit steigt die Gefahr durch die Taliban. In Hamburg betrachtet man die Lage mit Sorge.

Das zerrüttete Land liegt rund 7000 Kilometer entfernt – aber die Folgen der dortigen Konflikte sind auch in Hamburg spürbar: Der Abzug der letzten 1100 deutschen Soldaten aus Afghanistan und das Ende des dortigen Einsatzes sorgt auch in der afghanischen Community in der Hansestadt für Unsicherheit und Ängste.

Teilweise haben deren Angehörige noch Familie in Afghanistan und sind um ihre Sicherheit besorgt. Die afghanische Community in Hamburg ist nach Angaben verschiedener Quellen mit zwischen 35.000 und 40.000 Menschen eine der größten Europas.

Lage am Hindukusch: Hamburger Afghanen fühlen sich hilflos

Nach Angaben des Vereins „First Contact“, der Kinder und Jugendliche betreut, könnten sich gerade Fluchtkinder nur zu gut vorstellen, was ihre Angehörigen vor Ort durchmachen müssen. „Ausgeliefert, hilflos, entmachtet“, so beschreibt der Vereinsleiter Yama Waziri die Gefühlslage, die er bei sich und anderen Afghanen in Hamburg beobachtet.

Die Nato hat fast 20 Jahre Präsenz in Afghanistan gezeigt. Nun hat der Abzug auch laut der gebürtigen Afghanin Nadia Nashir schwerwiegende Folgen. „Dadurch, dass man so abrupt vorgegangen ist, ist ein Machtvakuum entstanden. Die Sicherheitslage und die humanitäre Situation haben sich dramatisch zugespitzt.“

Kritik am Abzug deutscher Soldaten aus Afghanistan

Nashir engagiert sich seit bald 30 Jahren beim Afghanischen Frauenverein. Sie kritisiert die aus ihrer Sicht falsche Prioritätensetzung der deutschen Regierung beim Engagement in ihrem Heimatland. So seien seit 2001 rund 12,5 Milliarden Euro in militärische Mittel und nur 3,5 Milliarden Euro in humanitäre Hilfe geflossen. „Man hat verpasst, mehr in die nachhaltige Stärkung der Zivilgesellschaft zu investieren. Sie wäre für eine friedliche Entwicklung Afghanistans jetzt essenziell“, so Nashir.

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Auch Ali Ruhani, Vorsitzender des Vereins Afghanischer Muslime Hamburg, empfindet den Abzug der deutschen Soldaten als ernüchternd: „Wenn man die afghanische Bevölkerung fragt, welche Länder ihnen helfen, dann würden sie sagen: Deutschland, weil die wenigstens mal Brücken gebaut haben, die die Amerikaner nachher alle zerbombt haben.“

Kommen nun mehr Afghanen nach Hamburg? Wahrscheinlich nicht

Schon in den 70er- Jahren kamen durch den florierenden Teppichexport viele Afghanen nach Hamburg. Auch im Zuge der Flüchtlingskrise 2015 kamen mehrere Zehntausend Afghanen in die Hansestadt.

Doch ist aufgrund der Lage in Afghanistan nun eine neue Fluchtbewegung nach Deutschland zu erwarten? Nach Einschätzung von Nadia Nashir ist das nicht der Fall. Es seien zwar drei Millionen der 34 Millionen Einwohner Afghanistans auf der Flucht. Aber: „87 Prozent der Menschen, die Afghanistan verlassen, suchen Schutz in den direkten Nachbarländern“, sagt sie – also vor allem in Pakistan und dem Iran.

Angst vor "Flüchtlingswelle" behindert Integrationarbeit in Hamburg

Yama Waziri vom Verein „First Contact“ bestätigt das: Ein afghanischer Bürger mit einem normalen Einkommen zwischen 50 und 100 Euro monatlich „wird versuchen, über die Grenze zu kommen, um dem Kugelhagel auszuweichen, der Folterung und der ethnischen Säuberung“.

Die Angst vor einer „Flüchtlingswelle“ behindere aber die Integrationsarbeit, die der Verein First Contact leistet. Gleichzeitig werde es immer schwieriger, an Informationen zu kommen, da Journalisten in Afghanistan unter gefährlichen Umständen arbeiten und teils die Internetverbindung vonseiten der Taliban in bestimmten Regionen gekappt wird.

Neben den Unruhen bedroht eine Dürre die Menschen in Afghanistan

Wieder andere Hindernisse behindern die Vereinsarbeit des Afghanischen Frauenvereins Hamburg. Neben den politischen Unruhen herrscht in Afghanistan eine Dürre, die laut den Vereinten Nationen aktuell elf Millionen Menschen im Land hungern lässt.

Der Verein versuche die Arbeit vor Ort zusätzlich zu den laufenden Projekten auszuweiten, um möglichst viele Familien in Not mit Überlebenshilfe zu erreichen. Ihre Arbeit in oft stark umkämpften Gebieten erfordere auch eine fortlaufende Bewertung der Sicherheitslage, um lokale Helferteams beim Transport von Medikamenten nicht zu gefährden.

Immer mehr Bitten um Hilfe in Hamburg

In der Hansestadt erreichen den Afghanischen Frauenverein vermehrt Anfragen von Menschen, die sich um Familienmitglieder vor Ort sorgen. Diesen Anliegen können sie nicht gerecht werden. „Unsere Aufgabe ist es, innerhalb Afghanistans die wirklich ärmste Bevölkerung in ihrem Überlebenskampf zu unterstützen und ihnen in ihrer Heimat eine Perspektive zu geben.“

Für den Verein First Contact stellt die Entwicklung zu einem noch lange andauernden Konflikt die größte Gefahr dar. Von der Stadt Hamburg würde sich Yama Waziri ein Gremium wünschen, in dem Parteien gemeinsam mit Bürgern über den Umgang mit der Situation in Afghanistan beraten, so der Verein.

Verein spricht von "Stellvertreterkrieg" in Afghanistan

Nadia Nashir betont, dass der Konflikt in Afghanistan auf dem Rücken der einfachen Bevölkerung ausgetragen werde. „Es ist ein Stellvertreterkrieg zwischen verschiedenen internationalen Akteuren.“ Leidtragend seien vor allem ohnehin arme Afghanen.

Seit Kriegsbeginn sind etwa 250.000 Afghanen ums Leben gekommen. Die Bevölkerung braucht eine Perspektive. „Die Menschen sehnen sich nach Frieden, sie wollen Ruhe.“ Es sei wichtig, ihr Leid wahrzunehmen und sie auch von Hamburg aus zu unterstützen.

Hilfe für Afghanistan:

Der Afghanische Frauenverein in Hamburg setzt sich seit 1992 für Wiederaufbau und Frieden in Afghanistan ein. Auf Basis von Spenden unterhält der Verein Mädchenschulen, Gesundheitsstationen, bohrt Brunnen und leistet Überlebenshilfe für Vertriebene. Spendenkonto:  IBAN DE28 5708 0070 0680 8505 00,  afghanischer-frauenverein.de

First Contact e. V. leistet Kinder- und Jugendsozialarbeit insbesondere mit minderjährigen unbegleiteten geflüchteten Menschen und bietet ihnen verschiedene Angebote in Form von Beratung, Sport, Kunst. Spendenkonto:  IBAN: DE07 2019 0003 0084 3664 00, firstcontact-ev.com