Hamburg. Vor 40 Jahren lief vor Neumühlen ein Tanker auf Grund. 300 Tonnen Erdöl flossen in die Elbe. Es drohte eine gigantische Explosion.
Der Lotsenwechsel ist Routine. Auf der Fahrt zur Shell-Raffinerie im Kattwyk-Hafen stoppt der Großtanker „Afran Zenith“ vor Övelgönne die Maschine. Auf der Brücke übernehmen zwei Hafenlotsen, und zur Weiterfahrt folgt das Kommando „Langsam voraus“.
In diesem Moment passiert eine technische Panne, die um ein Haar Hamburgs schlimmste Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst hätte: Die Hauptmaschine springt nicht wieder an. Der Blackout legt alle Aggregate lahm. Ohne Power auf dem Festpropeller treibt der Riese hilflos in den Strom. Ein altes Betonfundament schlitzt den Rumpf auf, die gefährliche Fracht ergießt sich in die Elbe und ein hochexplosives Luft-Gas-Gemisch droht die halbe City in die Luft zu jagen.
Bombe aus Rohöl: Was schützt Hamburg vor Mega-Explosion?
Der Unfall vom 25. Juli 1981 führt den Hamburgern zum ersten Mal vor Augen, in welcher Gefahr sie schon seit Jahren schweben. Als zweitgrößter Ölanlandeplatz nach Wilhelmshaven lebt die Stadt ständig mit einem Problem, über das sich bis dahin weder Politiker noch Experten wirklich im Klaren scheinen: Was schützt Hamburg eigentlich vor einer Mega-Explosion? Und was kann getan werden, wenn eine Ölkatastrophe die Elbe und ihre Ufer vergiftet?
Als der Ernstfall eintritt, bleibt für Theorie keine Zeit. Innerhalb von Minuten hat sich die „Afran Zenith“ in eine schwimmende Bombe verwandelt. 1974 als „Aframax-Tanker“ (eine Shell-Kategorie) mit 21 Ladetanks in Einhüllenbauweise auf der Werft Astilleros y Talleres del Noreste (ASTANO) im nordwestspanischen Ferrol gebaut, zählt das Schiff zu den größten seiner Zeit: 268 Meter lang, 40 Meter breit, Tiefgang 14 Meter, über 50.000 BRT, Tragfähigkeit über 96.000 Tonnen.
„Afran Zenith“ hatte knapp 80.000 Tonnen Rohöl geladen
Der 15.225 kW starke Schiffsdiesel schafft eine Höchstgeschwindigkeit von 16 Knoten (30 km/h). Der Tanker fährt unter der seit Jahren berüchtigten Billigflagge von Liberia. Eigentümer ist die Afran Transport Company in Monrovia.
In Angola hat die „Afran Zenith“ knapp 80.000 Tonnen Rohöl für Shell geladen. Die spezielle Konstruktion macht das Schiff zu einer schwimmenden Blase. „Die Außenhaut der Tanker ist im Verhältnis zur Ladung dünn wie eine Eierschale“, kritisiert der SPD-Bundestagsabgeordnete Horst Grunenberg aus Bremerhaven später, „der Innendruck der Ladung gleicht den Außendruck durch das Wasser aus. Darauf beruht die Stabilität eines Tankers.“
Der Sulzer-Schiffsdiesel wird mit Pressluft gestartet. Als er trotz wiederholter Versuche nicht wieder anspringt, macht der fortdauernde „Maschinenstopper“ den Koloss sofort manövrierunfähig. Im engen Fahrwasser packt der Flutstrom den Riesen und reißt ihn mit. Der Tanker legt sich quer und geht mit dem Bug am Nordufer auf Grund.
Betonklotz auf dem Grund des Stroms schneidet Schiff auf
Vier Jahrzehnte zuvor hatten die Nazis an dieser Stelle ein gigantisches Bauprojekt geplant. Nach Hitlers Vorstellungen sollte dort aus Altona ein deutsches Manhattan werden, mit einer Skyline aus Wolkenkratzern und einer 70 Meter hohen Brücke als „Tor zur Welt“. Doch Kriegsereignisse stoppten das Projekt, 1945 wurden die Brückenpfeiler gesprengt. Jetzt werden die Überreste dem Tanker zum Verhängnis. Um 10.28 Uhr schneidet ein Betonklotz auf dem Grund des Stroms den Rumpf auf. Aus dem 200 mal 60 Zentimeter großen Leck im vordersten Backbord-Tank strömen rund 300 Tonnen Öl aus, so viel, wie in 4000 Badewannen passt.
Schon nach kurzer Zeit wehen giftige Gase über die Ufer bis nach Stellingen und Schnelsen. Tausende Hamburger wählen den Notruf. Heinrich Detlev, Kapitän und Bergungsinspektor bei der Bugsier-Reederei, erkennt die Gefahr sofort. In kürzester Zeit hängen sich 14 Schlepper mit zusammen 30.000 Pferdestärken an den Havaristen. Mit vereinten Kräften ziehen und zerren sie an den dicken Stahltrossen. Denn wenn der gewaltige Flutstrom den Rumpf in Stücke reißt, droht eine Umweltkatastrophe von apokalyptischem Ausmaß: Tausende Tonnen einer giftigen Ölbrühe würden elbabwärts treiben und viele Kilometer weit alles pflanzliche und tierische Leben ersticken. Schon ein Millionstel Gramm Öl pro Liter Wasser schädigt empfindliche Organismen irreparabel, etwa weil dann keine gesunden Larven mehr aus Fischeiern schlüpfen.
Auch um die Trinkwasserversorgung der Millionenstadt sorgen sich die Experten: Damals zapfen die Hamburger Wasserwerke noch das Sickerwasser der Elbe, das Uferfiltrat, an. Jetzt stoppen sie die Förderung aus drei Brunnen: Schon ein einziger Liter Öl macht eine Million Liter Grundwasser ungenießbar.
Funke reicht, um Elbe in ein Flammenmeer zu verwandeln
Noch gefährlicher das Öl-Gas-Gemisch: Ein Funke reicht, um die Elbe in ein Flammenmeer zu verwandeln oder sogar eine Super-Explosion auszulösen. Experten rechnen vor, dass ein Kubikmeter solcher Gase etwa die gleiche Wirkung hat wie ein Kilo Dynamit. Für die „Afran Zenith“ errechnen sie die Sprengkraft einer „mittleren Atombombe“. Deshalb sperren Polizisten jetzt alle Zufahrten zur Elbe. Streifenwagen fahren durch die Straße und warnen die Menschen über Lautsprecher: „Rauchen Sie nicht! Machen Sie kein Feuer!“
Dreieinhalb Stunden lang kämpfen die stärksten Schlepper mit voller Kraft. In dieser Zeit breitet sich die Ölpest auf der Elbe und ihren Stränden bereits bis in die Haseldorfer Marsch aus. Dann endlich löst sich der leckgeschlagene Gigant aus dem Schlick, und die Bugsier-Kapitäne können ihn zu den Finkenwerder Pfählen retten. Um 22 Uhr eskortieren sieben Löschboote und fünf Polizeiboote den Schlepperzug mit der „Afran Zenith“ in den Kattwyk-Hafen. Dort kommt das Katastrophenschiff um Mitternacht an.
Bombe aus Rohöl: Schaden auf vier Millionen Mark geschätzt
Der auf dem Wasser treibende Ölteppich wird mit Plastikschläuchen eingedämmt und mit Spezialfahrzeugen auf dem Strom und an Land abgepumpt. In vier Tagen kommen dabei rund 1500 Tonnen Öl-Wasser-Gemisch zusammen. An den Stränden kämpfen Feuerwehren und Technisches Hilfswerk, Privatfirmen und Freiwillige teils mit bloßen Händen gegen die schwarze Flut. Tausende Vögel, verölt oder durch verseuchte Nahrung vergiftet, verenden qualvoll. Stockenten, Höckerschwäne und Brachvögel sterben als erste. Jungvögeln bringt oft schon ein schwarzer Fleck im Gefieder den Tod: Das Öl dringt durch die Fettschicht, macht das Opfer flugunfähig, und während es sich verzweifelt putzt, stirbt es an Unterkühlung, Vergiftung oder Nahrungsmangel.
Umweltsenator Wolfgang Curilla schätzt den Schaden damals auf vier Millionen D-Mark. Die „Afran Zenith“ fährt nie wieder nach Afrika. Sie wird zu einem stationären Tanklagerschiff umgebaut, mehrfach weiterverkauft und 2008 verschrottet.