Hamburg. Die Entwicklung setzte ein, als sich viele Amerikaner ihre Häuser schlicht nicht mehr leisten konnten und umzogen: in Tiny Houses.
Dieser Blick hier ist gigantisch“, sagt Inka. Die 38-Jährige sitzt mit einem Glas Weißwein in der Hand auf ihrem senfgelben Sofa. Durch eine tiefe Fensterfront schaut sie über eine Pferdekoppel in die Weite. Sofern Inka die Gartenpforte öffnet und ihr Grundstück betritt, fühlt sie sich wie im Urlaub. Sie genießt die Natur um sich herum.
Die Ruhe. Den Frieden. Anfang Mai hat sich die Hamburgerin ihren Traum vom eigenen Mobilheim, der etwas größeren Variante des Tiny House, erfüllt. Wann immer sie möchte, nimmt sich Inka eine Auszeit und flüchtet aus der Großstadt in ihr 36,5 Quadratmeter kleines Feriendomizil am Mözener See.
In Wittenborn entsteht eine Siedlung mit 17 Tiny-Häusern
Auf dem Campingplatz Weisser Brunnen in Wittenborn (Kreis Segeberg) ist in den vergangenen Jahren eine Siedlung mit 17 Tiny-Häusern entstanden – eine 160 Quadratmeter große Parzelle gehört Inka. Sie möchte ihren Nachnamen nicht in der Zeitung lesen. Die Öffentlichkeit muss nicht wissen, wo sie ihre Freizeit verbringt.
Die alternative Wohnidee, die ursprünglich aus den USA stammt, hat sich in Deutschland zu einem Hype entwickelt. Menschen reisen extra an, um sich die Minihäuser am Mözener See anzusehen. Inka nennt sie liebevoll „Die Gucker“ oder „Tiny-House-Touristen“. „Einmal lag ich in der Badewanne, und ein Mann schlich mit seinen Töchtern um mein Haus herum“, berichtet sie. Zum Glück sei das Badezimmerfenster verspiegelt. An Wochenenden erklimmen „bestimmt 30 Leute“ den Hügel, auf dem die Häuser stehen, schätzt Inka.
Hamburgerin besichtigte vorher Tiny-Häuser
Die Mobilheim-Besitzerin kann die Neugierde verstehen. „Diese minimalistische Lebensform ist super interessant. Ich bin dankbar, dass ich mir meinen Traum, der Natur nahe zu sein und den Trubel der Stadt hinter mir zu lassen, erfüllen konnte – das möchten andere vielleicht auch.“ Auch sie habe Recherchearbeit betrieben und vor dem Kauf die Tiny-Häuser auf dem Campingplatz besichtigt. „Ich war eine von ihnen.“
Inka ist Weltenbummlerin. 2016 war sie zehn Monate lang auf Weltreise. In Thailand, Indonesien, Australien. „Ich kenne es, auf kleinem Raum und aus dem Koffer zu leben. Ich bin ein großer Fan vom Minimalismus“, sagt sie. Wenn die Assistentin der Geschäftsleitung des Otto-Konzerns Zeit in ihrem Mobilheim verbringt, merkt sie, wie wenig sie zum Leben braucht. „Ich habe vorher bei Zalando gearbeitet und besitze viel zu viel Kleidung. Hier draußen beschränke ich mich auf das Wesentliche.“
Hamburgerin verzichtet für Tiny House auf Urlaub
In Hamburg lebt Inka in einer 33-Quadratmeter-Wohnung, zieht bald innerhalb der Stadt auf 52 Quadratmeter um. Das dauerhafte Wohnen ist auf Campingplätzen verboten. Sie dienen ausschließlich der Erholung. „Ich lebe in einer kleinen Wohnung, um mir mein Mobilheim finanzieren zu können. Früher habe ich zweimal im Jahr eine Fernreise gemacht. Nun verzichte ich auf das Reisen. Aber hier fühle ich mich immer wie im Urlaub.“
Rund 60.000 Euro hat das „nackte“ Tiny House gekostet. Inka hat es mittels 3-D-Modell selbst entworfen und in Polen bauen lassen. Weitere 15.000 Euro steckte sie in Möbel, Terrasse, Heizungsanlage, Küche und Boden. Allein der aufwendige Transport von Polen nach Wittenborn, der unter Polizeibegleitung stattgefunden hat, kostete sie 10.000 Euro. „Mit allem Drum und Dran habe ich 85.000 Euro bezahlt. Im Vergleich zu einem ,normalen‘ Hauskauf ist das noch günstig – ein Haus am See kann man sich normalerweise gar nicht leisten.“
Bad Segeberg öffnet sich für den Tiny-House-Trend
Trotz des großen Hypes sind die Möglichkeiten, in einem Tiny House zu leben, in Deutschland noch rar. Man darf es nicht einfach auf irgendeine freie Fläche stellen und darin wohnen. Baurechtlich wird das Miniheim wie ein klassisches Einfamilienhaus behandelt. Dauerhaftes Wohnen ist nur mit Baugenehmigung möglich. Die Häuser müssen mit Strom und Wasser versorgt sein, brauchen einen zweiten Rettungsweg, Dusche und Toilette und ausreichend Raumhöhe.
Einige Städte und Gemeinden im Norden öffnen sich für den Trend. In Bad Segeberg etwa hat die Politik zwei Grundstücke ins Auge gefasst, auf denen in den kommenden Jahren Tiny-Häuser feste Plätze finden sollen. Unzählige Leute meldeten sich nach Bekanntwerden dieser Pläne bei der Stadtverwaltung und wollten sich auf die – noch nicht einmal existierende – Warteliste setzen lassen.
Tiny Houses am Großen Segeberger See
Außer auf dem Campingplatz Weisser Brunnen stehen auch am Großen Segeberger See mehrere Tiny Houses – und vielleicht bald auch am Itzstedter See. Vor knapp eineinhalb Jahren hat Stephan Diehn den Campingplatz Seerögen gekauft. Der schwarze Acker und die 200 „Blechbüchsen“, wie Diehn die alten Campingwagen der früheren Bewohner bezeichnet, sind einer grün bewachsenen Fläche gewichen. Der Henstedt-Ulzburger arbeitet jeden Tag hart daran, seine Vision wahr werden zu lassen: Auf der 2,5 Hektar großen Fläche soll eine Tiny-House-Siedlung mit 65 ökologisch-nachhaltigen Mobilheimen entstehen.
Diehn will ein völlig neues Wohnkonzept auf dem Campingplatz etablieren. Doch der Eröffnungstermin zögert sich hinaus. Die nötige Infrastruktur fehlt noch. Bis jetzt stehen nur zwei Tiny-Häuser auf dem Grundstück – eines gehört Bettina Laabs und Ulf Trübel.
Preise für Tiny Houses gestiegen
Nach Absprache führt Laabs Interessenten durch ihr Musterhaus in Itzstedt. Lange dauert die Besichtigung der 34 Quadratmeter natürlich nicht. Das Miniheim besteht aus einem Wohnraum, Schlafzimmer sowie Bad mit Dusche und Toilette. Gebaut ist das Häuschen aus heimischer Lerche. „Wir konstruieren das Haus nach Vorstellungen des Kunden. Mit uns kann man immer sprechen. Wir lieben es unkompliziert“, sagt Laabs.
Der Kaufpreis liegt aktuell bei 108.000 Euro. Die Gründer von „Mobiltraumhaus“ mussten den Preis von anfänglichen 80.000 Euro stark anheben. Wie viele in der Branche leiden auch sie extrem unter dem derzeit herrschenden Baustoffmangel. „Die Lager laufen leer. Das ist dramatisch. Holz ist extrem teuer geworden und schwer zu bekommen“, erklärt Laabs. Normalerweise braucht Ulf Trübel zwei Monate, um ein Tiny House zu fertigen. Zurzeit ist es schwer vorherzusagen, wann Baustoffe nachgeliefert und verarbeitet werden können.
Tischler durch Corona ohne Aufträge
Schon zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit befinden sich die Freunde in einem Dilemma. Bereits die Idee, Mobilheime zu verkaufen, ist aus der Not heraus geboren. Vergangenes Jahr im Februar hatte Ulf Trübel seinen Transporter vollgepackt. Tische, Stühle und Vitrinen hatte der selbstständige Messebauer mühsam in seinen Mercedes-Sprinter eingeladen.
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In zwei Tagen wollte er zur Internationalen Eisenwarenmesse nach Köln aufbrechen und die Stände der Kunden aufbauen. Doch kurz vorher wurde die Veranstaltung abgesagt. Corona legte von da an die gesamte Messebranche lahm. Plötzlich saß der gelernte Tischler ohne Aufträge zu Hause im niedersächsischen Benefeld. Zwar baute er hin und wieder einen Wintergarten oder ein Vordach für Freunde. Aber davon konnte der 53-Jährige nicht leben. Eine Lösung musste her.
Mobile Minihäuser als Projekt während Corona
Bettina Laabs erging es ähnlich. Die 53-Jährige ist im Vertrieb einer Hamburger Messebauagentur tätig, befand sich in Kurzarbeit. Untätig zu Hause sitzen ist so gar nicht das Ding der Hamburgerin. Sie wollte aktiv werden. Der Traum, ein gemeinsames Projekt aufzuziehen, geisterte schon lange in Laabs’ und Trübels Köpfen herum. Mobile Minihäuser wollten die Freunde bauen. Für Ulf Trübel als Handwerker kein Problem. Doch der Mut fehlte. Erst die coronabedingte Zwangspause gab ihnen den fehlenden Anstoß. „Das Projekt hat uns durch die Zeit gerettet und motiviert“, sagen sie.
Nach etwas über einem Jahr haben sie drei Häuser verkauft – nach Hessen, Schleswig-Holstein und Niedersachsen. Laabs ist damit ganz zufrieden, es dürften aber gern mehr sein. Wegen der Materialknappheit sind einige Aufträge weggebrochen. Alles hinzuschmeißen, noch einmal umzusatteln – das kommt für Laabs und Trübel aber nicht infrage. Sie glauben an ihr Produkt. Ihr mobiles Traumhaus. An den Tiny-House-Trend. „Wir waren immer überzeugt, dass es klappt.“
Bewegung kommt aus Amerika
Immer mehr Menschen wollen sich räumlich verkleinern – zunehmend mehr Tischlereien, Bauunternehmen und andere Firmen sehen ein lukratives Geschäft in der Entwicklung und wollen die Nachfrage bedienen. Die in der Regel zwischen 15 und 45 Quadratmeter kleinen und auf Rädern oder Trailern stehenden Häuser verkörpern eine nachhaltige Lebensweise mit geringem ökologischen Fußabdruck.
So romantisch, wie die Bewegung in den Medien häufig dargestellt wird, sieht Peter L. Pedersen sie aber nicht. „Nach der Finanzkrise 2007 konnten sich viele US-Amerikaner das Leben in ihren großen Häusern nicht mehr leisten. Sie mussten raus. In höchster Not sind sie in die kleineren Tiny-Häuser gezogen“, sagt der 63-Jährige. Der Unternehmer verkauft selbst Miniheime.
„Rolling Tiny House“: Häuser für die Straße
„Ich habe genauso naiv angefangen wie alle anderen.“ Sein Sohn wollte zum Studieren nach Greifswald ziehen. Doch eine Wohnung war schwer zu finden, die Mieten teuer. „Dann baue ich dir eben in irgendeinem Hinterhof ein Tiny House“, sagte der Vater damals zu seinem Sohn. Das Studium ist inzwischen lange beendet. In einem Minihaus hat sein Sprössling nie gewohnt. Dafür hat Pedersen ein neues Geschäftsmodell für sich entdeckt.
Seine Firma „Rolling Tiny House“ sitzt in Neumünster. Zwei Jahre lang hat Pedersen mit einem Team an der Entwicklung seines Modells gearbeitet und 800.000 Euro in die Forschung gesteckt. Nicht nur aus baurechtlicher Sicht sollte sein Konstrukt einwandfrei sein, sondern auch für die Straße zugelassen. „Ich wollte unbedingt ein legales Haus schaffen“, sagt er.
Tiny Houses oft nicht legal
Dies sei nämlich häufig nicht der Fall. Um einen Bauantrag zu stellen, braucht ein Architekt unter anderem eine geprüfte Statik, eine Bauzeichnung und einen Wärmeschutznachweis. Seine Tinys seien sogar erdbebensicher, sagt Pedersen. Im Vorjahr hat er 65 Stück verkauft – überwiegend an ältere Singles. 90 Prozent davon stehen auf Grundstücken mit Baugenehmigung. Den Rest vermieten Campingplätze als Ferienhäuser.