Hamburg. Viele Millionen Menschen sind in Krisenländern auf der Flucht. Plan-Chefin Kathrin Hartkopf über das Leid – und was zu tun ist.

Sie ist seit rund 100 Tagen die Chefin des Kinderhilfswerks Plan International Deutschland: Zeit, mit Kathrin Hartkopf (55) eine erste Bilanz ihrer Arbeit zu ziehen. Ein Gespräch über gerechte Impfstoffverteilung, Patentfreigaben und große Rückschritte in der Entwicklungsarbeit infolge der Corona-Pandemie.

Frau Hartkopf, sind Sie gegen Corona geimpft?

Kathrin Hartkopf: Ja, ich hatte sehr viel Glück, konnte bei meiner Hausärztin nachrücken. Ich bin jetzt vollständig geimpft.

Was war das vorherrschende Gefühl: Erleichterung über den Schutz oder schlechtes Gewissen vor dem Hintergrund der ungerechten Impfstoffverteilung auf der Welt?

Eher das Zweite. Ich habe mich auch gefreut und bin sehr erleichtert wegen meiner Verantwortung gegenüber der Familie und dem Team bei Plan. Aber natürlich denkt man auch global. Meine Kolleginnen in Sambia oder Malawi beispielsweise kommen an keinen Impfstoff. Eine Kollegin in Peru berichtet, dass ihre komplette Familie an Corona erkrankt ist, ihr Vater ist fast erstickt, weil es keinen Sauerstoff gab. Eine Sauerstoffflasche kostet dort aktuell 1000 Dollar. Wenn Sie das hören, werden Sie sehr bescheiden.

Mehr als 33 Millionen Deutsche oder umgerechnet rund 40 Prozent genießen einen vollständigen Impfschutz. Wie hoch sind die Impfquoten in Ländern, in denen sich Plan International engagiert?

Laut den jüngsten Zahlen der Weltgesundheitsorganisation WHO sind nur 0,2 Prozent der Impfstoffdosen an Länder mit niedrigem Einkommen gegangen. Und geimpft wird auch nur die Elite. 87 Prozent gingen an Länder mit hohem oder mittlerem Einkommen.

Auch vor diesem Hintergrund hat US-Präsident Joe Biden vorgeschlagen, den Patentschutz für Vakzine vorübergehend aufzuheben – ist das eine gute Idee?

Plan-International-Chefin Kathrin Hartkopf im Fotostudio des Abendblatts.
Plan-International-Chefin Kathrin Hartkopf im Fotostudio des Abendblatts. © Marcelo Hernandez / FUNKE Foto Services

Absolut, es muss eine gerechtere Verteilung der Impfdosen auf der Welt geben. Alle Menschen haben das gleiche Recht, sich vor dieser Krankheit zu schützen. Außerdem reicht es reicht nicht, die Pandemie nur in einkommensstarken Ländern zu bekämpfen und im Rest der Welt nicht. So wird das Virus zu einem Dauer-Bumerang. Es handelt sich um eine globale Krise, die global bekämpft werden muss. In Afrika wütet aktuell die dritte Welle mit der Delta-Variante. Wir als Organisation mahnen deshalb dringend an, die Patente freizugeben.

Aber würde durch die Patentfreigabe auch nur eine neue Produktionslinie in einem unterentwickelten Land aufgebaut werden?

Das ist unsere große Hoffnung, schließlich wird es ja nicht bei dieser einen Pandemie bleiben.

Wäre es nicht sinnvoller, die Produktion in der EU und den USA weiter hochzufahren, um dann fertigen Impfstoff beispielsweise nach Afrika liefern zu können?

Wenn der Impfstoff bezahlbar wäre für diese Länder, wäre das sicherlich auch eine fantastische Möglichkeit. Alle Wege sollten geöffnet werden.

Die Staats- und Regierungschefs der G7 haben den Entwicklungsländern bei ihrem Treffen Mitte Juni in Cornwall die Lieferung von mehr als zwei Milliarden Impfdosen bis Ende 2022 zugesagt. Reicht das aus?

Sicherlich nicht. Aber jede einzelne Impfdosis wird benötigt.

Sehen Sie nicht die Gefahr, dass sich bei einer Patentfreigabe vor allem Länder wie China daran „bedienen“ würden?

Das mag passieren. Aber diese außerordentliche Krise erfordert außerordentliches Handeln. Unsere Forderung ist ganz klar die nach einer kompletten Öffnung der Impfpatente und einer gerechtere Verteilung der Impfstoffe.

Als Hauptleidtragende der Pandemie gelten – bei uns wie in Entwicklungsländern – die Kinder. Welche Versäumnisse hat Ihre Organisation, die sich um Schutz und Entwicklung von Mädchen und Jungen kümmert, bei uns in Deutschland ausgemacht?

Es gibt eine ganz große Parallele: Die Folgen der Schulschließungen sind auch bei uns erschreckend. In jeder Klasse gibt es hier zwei bis drei Kinder, die unter interfamiliärer Gewalt leiden. Das Gleiche beobachten wir global. Hinzu kommen natürlich noch die psychischen Belastungen der Kinder. Die Familien bei uns haben wenigstens noch Zugang zu Strom, die Möglichkeit, dass die Kinder sich mit ihren Lehrern am Bildschirm austauschen oder telefonieren. In den Ländern, in denen wir arbeiten, ist das so gut wir gar nicht möglich. Was wir deshalb zum Beispiel in Sierra Leone gemacht haben, ist, eine Viertelmillion Radios zu verteilen. Damit werden die Kinder erreicht und können beschult werden. Wir haben aber auch viele einfache Handys verteilt, um Kindergruppen so über SMS zu erreichen oder Lehrerinnen und Lehrern die Möglichkeit zu geben, sich zu vernetzen. Viele von ihnen sind in der Pandemie in den Schulen geblieben, aber eine kontinuierliche Beschulung ist trotzdem in den meisten Ländern, in denen wir arbeiten, seit knapp zwei Jahren nicht mehr möglich. Ein Land wie Peru ist im permanenten Lockdown, die Kinder gehen nicht zur Schule, die Eltern können nicht arbeiten. Eine furchtbare Situation.

Der Einsatz von Plan wäre in der Krise wichtiger gewesen als je zuvor. Stattdessen wurde Ihre Arbeit durch die Pandemie-Bedingungen sehr erschwert. Was haben Sie noch leisten können?

Als Organisation haben wir weltweit 18.000 Mitarbeitende. Im März und April 2020 hatten wir große Sorge, wie wir unsere Programme unter den Corona-Beschränkungen umsetzen können. Denn der Lockdown bedeutete für die Kolleginnen und Kollegen vor Ort, dass sie nicht mehr in die Dörfer und Gemeinden durften, in denen wir arbeiten. Wir haben das aber ziemlich schnell in den Griff bekommen – auch dank des Einsatzes der freiwilligen Helferinnen und Helfer in den Ländern. Was aber nicht mehr ging, war Projektarbeit in großen Gruppen. Wir haben uns dann umgestellt und die Gruppen verkleinert. Wir sind sehr stolz, dass wir die Krise national und international so weit gut gemeistert haben.

Wie haben sich das Spendenaufkommen und die Zahl der übernommenen Patenschaft bei Plan in der Pandemie entwickelt?

Sehr, sehr erfreulich. Die Patenschaften haben sich sehr gut entwickelt, wir sind jetzt bei 380.000 Paten in Deutschland. Das ist ein enormer Zuspruch. Wir spüren einen sehr großen Rückhalt, auch weil vielen Menschen in der Krise wieder bewusst wurde, wie gut es uns geht – und dass es eine globale Aufgabe gibt. Beim Spendenvolumen gibt es eine ähnlich positive Entwicklung. Unterstützung gab es auch aus der Politik: So konnten wir für das Auswärtige Amt ein großes Hilfsprojekt zur Covid-19-Bekämpfung in 14 Ländern mit einem Volumen von rund fünf Millionen Euro umsetzen.

Hat die Pandemie die Entwicklungshilfe zurückgeworfen?

Die Erfolge der vergangenen Jahre sind in Gefahr. Die UN-Nachhaltigkeitsziele, die sich die Weltgemeinschaft bis 2023 gesteckt hat, werden wir so nicht erreichen. Die Rückschritte sind enorm. Bei uns in Deutschland diskutieren wir die Folgen, wenn Kinder mehrere Wochen nicht in die Schule durften. In Lateinamerika haben Kinder zwei Jahre keinen Unterricht mehr besuchen können. Wegen der Pandemie-Beschränkungen werden etwa elf Millionen Mädchen zusätzlich nie wieder an die Schulen zurückkehren, weil sie verheiratet wurden, schwanger sind oder verschleppt wurden. In Malawi beispielsweise müssen jetzt viele Kinder, statt zur Schule zu gehen, auf Tabakplantagen arbeiten.

Sind Mädchen, deren Förderung im Mittelpunkt der Arbeit von Plan stehen, die ganz großen Verlierer der Pandemie?

Die Auswirkungen der Pandemie und die Rückschritte, die wir sehen, betreffen vor allem Mädchen und junge Frauen. Aus zwei einfachen Gründen: weil sie jung sind und weil sie weiblich sind. Das gilt im Übrigen für alle Krisen. Die aktuellen Krisen in Venezuela, Tigray oder Äthiopien sind vor allem Krisen, unter denen Frauen und Mädchen leiden.

Corona beherrscht seit rund eineinhalb Jahren die Nachrichtenlage, andere Themen rücken vollkommen in den Hintergrund. Tigray, Syrien oder Jemen – was dort passiert, findet bei uns kaum noch statt. Wie dramatisch ist die Lage?

Große Krisen werden durch die Pandemie extrem verstärkt. Wie in Venezuela, von wo aus Menschen monatelang auf der Flucht durch Lateinamerika sind – ohne Zugang zu einer Gesundheitsversorgung und vom Hungertod bedroht. So dramatisch ist die Lage in den Krisengebieten, in denen wir arbeiten. Jegliche Worte, die die Lage beschreiben, sind geschönte Worte. Wir können uns gar nicht vorstellen, was Jugendliche weltweit erleiden; was der Junge auf der Flucht in Venezuela mitmacht, der nichts hat als die Kleidung, die er trägt, oder was es für das junge Mädchen in Tigray bedeutet, täglich ums Überleben kämpfen zu müssen. Man kann die Berichte der Kollegen über systematische Vergewaltigung oder Verschleppung kaum ertragen. Das Leid von weit mehr als 420 Millionen Kindern in Krisengebieten ist unbeschreiblich.

Der neue Entwicklungshilfeminister oder die neue Ministerin soll 2022 rund 8,6 Milliarden Euro investieren dürfen und damit so viel wie 2020, teilte der Bundestag kürzlich mit. Der Betrag war 2020 um 1,55 Milliarden Euro aufgestockt worden, um Entwicklungsländer beim Umgang mit der Pandemie besser zu unterstützen. Reicht die Aufstockung auf ein Investitionsvolumen von 8,6 Milliarden Euro aus?

Natürlich nicht. Und natürlich würden wir uns sehr viel höhere Beträge wünschen. Noch wichtiger wäre, wenn die Entwicklungshilfe weiblicher würde. Sie sollte sich klar auf Programme ausrichten, die Gleichstellung fördern. Wir wissen in der Entwicklungspolitik: Frauen und Mädchen zu fördern, ist der nachhaltigste Schlüssel, um Veränderungen herbeizuführen. Mit der Mädchen- und Frauenförderung haben wir die Jungen und die Männer mit im Blick. Aber die Motoren des Wandels sind die Frauen und die jungen Mädchen.

Um die Folgen der Pandemie zu bekämpfen, hat die Bundesregierung für Konjunkturpakete eine „Bazooka“ ausgepackt, wie Finanzminister Olaf Scholz sagte. In der Folge dürfte der Schuldenstand Deutschlands bis 2022 auf 2,7 Billionen Euro steigen, schätzt das Institut der Deutschen Wirtschaft. Sorgen Sie sich als Hilfsorganisation, dass, wenn staatsseitig begonnen wird zu sparen, die Entwicklungshilfe besonders leidet?

Es gibt die Sorge, aber das können und dürfen wir uns gar nicht leisten als Weltgemeinschaft. Aktuell sind rund 82 Millionen Menschen auf der Flucht. Wir haben als Europäer eine globale Verantwortung.

Welche neue Themen sollte die Bundesregierung nach der Wahl in den Fokus nehmen?

Ich wünsche mir einen stärkeren Einsatz für die Kinderrechte in Deutschland. Wir sind erschüttert, dass die Kinderrechte nicht ins Grundgesetz aufgenommen wurden. Die Bundesregierung muss sich stärker für das Recht auf Bildung für alle Kinder in Deutschland einsetzen. Wichtig wäre, Kinder, die nicht den gleichen Zugang zu Bildung haben, also auch die vielen Kinder mit Migrationshintergrund, besser zu unterstützen. Wir haben viele von ihnen auf dem langen Bildungsweg verloren – nicht weil sie nicht klug wären, sondern weil ihnen familiäre oder finanzielle Unterstützung fehlte.

Und international?

Nur wenn vier Dinge zusammenkommen, sehen wir die Chance auf Verbesserungen für die Menschen: Permanente Zusammenarbeit müssen wir kombinieren mit humanitärer Hilfe, wir müssen zudem die Friedensprozesse unterstützen, ohne die es keine Entwicklung gibt, und wir müssen den Fokus legen auf die Unterstützung von Mädchen und Frauen. Dann können wir viel erreichen.

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