Hamburg. Wo in der Stadt neue Quartiere entstehen. Heute: das Tarpenbeker Ufer in Groß Borstel – und viele Bauprojekte drum herum.
So stellen sich Architektur-Ästheten das Hamburger Neubaugetto der Gegenwart vor: eine Straße, eine Richtung, gesäumt von mehrgeschossigen Häusern, bei denen man sich scheinbar wenig Mühe mit den Fassaden gegeben hat. Die Eingänge unterscheiden sich bloß durch die Hausnummern. Das Großprojekt „Tarpenbeker Ufer“ in Groß Borstel hat mit diesen Klischees zu kämpfen – und sie fast alle widerlegt.
Zwischen dem sanft plätschernden Zufluss zur Alster und der durch einen Grünwall schallgedämpften Güterbahn, zwischen verschlafenen Vorstadtvillen und dem Grün der Kleingärten hat sich ein modernes Quartier entwickelt, in dem es sich augenscheinlich entspannt leben lässt. So, wie Agata Cudnik (37) das mit Mann und Sohn pflegt. Das gewaltige Neubau-Ensemble mit verschiedenen Baufeldern, mal hellen, mal dunkleren Fassaden, Innenhöfen und schnieken Grünflächen plus Spielplätzen ist jetzt ihre Nachbarschaft, ihre „Hood“, wie manche hier sagen.
Jede Wohnung hat hier Balkon, Minigarten oder Dachterrasse
Über Jahre hat sie fast nebenan gewohnt, in Eppendorf, zur Miete. „Das war gemütlich, da waren unsere Freunde.“ Wegziehen? Im Leben nicht. „Ich hätte mir nie erträumt, dass wir was kaufen.“ Aber lebenslang Miete? Auch Nachbar Henning Wienstroth (35) ist hergezogen. Man müsse schon auf den Preis schauen, sagt er. Aber er findet die Anlage optisch ansprechend mit ihrem Grün drin und drum, der modernen Ausstattung, der Energieeffizienz (KfW-55-Standard). Jede Wohnung hat hier einen Minigarten, Balkon oder Dachterrasse. Die Flachdächer sind begrünt, ein Blockheizkraftwerk liefert Wärme. Öko? Logisch, das ist Hamburger Standard.
Lesen Sie auch:
Eine Eigentumswohnung mit drei Zimmern und 90 Quadratmetern kostete beim Kauf vor rund zwei Jahren knapp 500.000 Euro. Beide Neu-Tarpenbeker sagen: Heute wäre es noch teurer. Viele Familien mit kleinen Kindern leben hier, für die das Hamburger Umland nicht infrage gekommen wäre. Aus der Metropolregion sind ältere Menschen hierhergezogen, weil sie sich verkleinern und in die Stadt wollten. „Hier entsteht was“, sagt Agata Cudnik. Henning Wienstroth freut sich auf den Austausch alter und neuer Groß Borsteler und hat bereits eine Facebook-Gruppe gegründet. 80 Nachbarn sind drin.
Über 900 Meter erstreckt sich Hamburgs längste Sackgasse
Auf den vorderen Baufeldern hin zu den Restaurants „Pulvermühle“ und „Lust auf Griechenland“ an der Einbiegung zum neuen Quartier wird noch gewerkelt. Das Leben auf einer Baustelle ist für Agata Cudnik nicht nur ein Nachteil, weil es schnell geht, wenn in ihrer Wohnung mal ein kleiner Mangel auffällt. „Dann habe ich in kurzer Zeit einen Handwerker hier.“
Über 900 Meter erstreckt sich Hamburgs längste Sackgasse. Elf Minuten zu Fuß, drei mit Auto oder Fahrrad. Der versprochene Quartiersbus ist noch nicht da, der Pendler ins Zentrum von Groß Borstel, zur U-Bahn nach Winterhude oder zum Nedderfeld bringen soll. Die Zahl der Autos auf der verkehrsberuhigten Zufahrt wird zunehmen, wenn viele aus dem Homeoffice in die Büros zurückkehren, glaubt Agata Cudnik.
Tarpenbeker Ufer hat eigene Kita
Offen ist das Tarpenbeker Ufer nach Osten und Norden nur über Fahrrad- und Fußwege. Eine Kita befindet sich mitten im Neubaugebiet. Der Fußballplatz des SV Groß Borstel liegt einen Torabstoß entfernt. Schulen für die Kinder sind gut erreichbar, Bäcker und Supermarkt zum Einkaufen schon weiter entfernt.
Projektentwickler Otto Wulff hat ein Quartiersmanagement eingesetzt, bietet ein Sharing-Modell mit Werkzeugen, Sackkarren, Stühlen und Bollerwagen zum Ausleihen. Zu den öffentlich geförderten Wohnungen hier (1,5 bis vier Zimmer) zählen auch 156 der insgesamt 210 Wohnungen der Baugenossenschaft freier Gewerkschafter. 113 von ihnen werden im sogenannten 1. Förderweg vergeben, also an Kleinverdiener. Sie zahlen 6,30 pro Quadratmeter kalt (plus Betriebs- und Heizkosten von 3,40 Euro pro Quadratmeter).
Groß Borstel: Vorbehalte wegen Kleingärten
Die frei finanzierten Einheiten aus diesem Kontingent kosten 13 Euro pro Quadratmeter plus Betriebskosten. Wie die Genossenschaft dem Abendblatt mitteilte, seien am Tarpenbeker Ufer viele Wohnungen an Neu-Mitglieder gegangen. Für die künftig 940 Wohnungen wurde nicht nur die einstige Brach- und Schuttfläche bebaut. Einen Teil der Kleingärten hat man zu Baubeginn geopfert.
Auch wenn der Bezirk an anderer Stelle einen Ausgleich dafür geschaffen hat, beförderte das die Vorbehalte gegen das Tarpenbeker Ufer. Die gut 2000 Neu-Nachbarn werden auf die Alt-Groß-Borsteler mehrheitlich mit offenen Armen und Augen zugehen. Henning Wienstroth sagt: „Ich würde mir wünschen, dass beide Teile zusammenwachsen. Das ist jetzt unsere Heimat.“
Eppendorf und Lokstedt: Neue Wohnungen in der Nachbarschaft
In der Nachbarschaft des Tarpenbeker Ufers sind bereits weitere größere Neubauprojekte entstanden und entstehen in Kürze, die die Hamburger Stadtteile Eppendorf, Lokstedt, Groß Borstel und Eimsbüttel nachhaltig verändern.
- Ebenfalls auf einer Brachfläche und einer alten Mülldeponie wuchs südlich direkt am UKE der Süderfeldpark. 395 Wohnungen wurden hier gebaut, die Flachdächer begrünt, eine Kita und ein Park integriert, ein Carsharing-System eingerichtet.
- An der Niendorfer Straße entstanden zuletzt 145 Wohnungen auf einem alten Bäckereigelände. Zwischen diesem Lokstedter Projekt und dem Tarpenbeker Ufer liegt ein Grünzug (Heckenrosenweg), an dessen Ende zwei nicht mehr genutzte Gewerbeflächen zur Kollaustraße freigeräumt werden. Hier sollen auf zwei Baufeldern direkt an der Güterbahn mehrere Dutzend Wohnungen entstehen.
- Nördlich des Tarpenbeker Ufers, ebenfalls auf einer alten Gewerbefläche zwischen Tarpenbek, Papenreye und Niendorfer Weg, wächst der Petersen-Park. Hier entstehen 400 neue Wohnungen. Ein gutes Stück entfernt von der Tarpenbek liegt das Neubaugebiet an der Julius-Vosseler-Straße Richtung Lenzsiedlung. Auch hier wachsen und wuchsen Hunderte Wohnungen. Im Vergleich zu Groß Borstel sind die Preise deutlich höher.
Eimsbüttel: Hunderte neue Wohnungen an der Lenzsiedlung
Zum Beispiel finden sich in einem Block mit 62 Wohnungen je zwei bis 4,5 Zimmer direkt an der Bahnlinie der U 2 im Internet diese Angebote:
- Haus A: Erdgeschoss, drei Zimmer, 80 Quadratmeter: 1493 Euro kalt plus Nebenkosten und Stellplatz für 365 Euro. 3. Obergeschoss, 3,5 Zimmer, 89 Quadratmeter: 1712 Euro kalt plus Nebenkosten in Höhe von 397 Euro.
- Haus B: 1. Obergeschoss, 4 Zimmer, 105 Quadratmeter, 1842 Euro kalt plus 452 Euro Nebenkosten. 4. Obergeschoss, zwei Zimmer, 56 Quadratmeter: 1251 Euro plus 287 Euro Nebenkosten. Diese Wohnungen haben eine Einbauküche, Balkon oder Dachterrasse. Es baut auch die dhu Baugenossenschaft hier, die für Kleinverdiener Wohnungen ab 6,60 Euro pro Quadratmeter anbieten will.
Die 20 Stadthäuser des Großprojekts an der Julius-Vosseler-Straße sind laut Internetangeboten bereits verkauft. Der Preis war mit „Auf Anfrage“ etikettiert, bevor alle Häuser weg waren. Eine Abendblatt-Anfrage zum Preis wurde nicht beantwortet. Die Stadthäuser haben sechs Zimmer, eine „gehobene Ausstattung“, 165 bis 169 Quadratmeter Wohnfläche, zwei Stellplätze in der Tiefgarage mit Zugang vom Keller, also quasi vier Geschosse. In der Objektbeschreibung hieß es über das Untergeschoss: „Hier finden auch Ihre Fahrräder, die Skier und das Golfbag einen sicheren Platz.“ An der Eimsbütteler Lenzsiedlung scheinen also jetzt viele Skifahrer und Golfer zu wohnen.