Hamburg. Zehn Jahre nach dem Eingriff: Schmerzensgeld für Jungen mit Hirntumor. Doch der erschütternde Fall ist vermutlich noch nicht zu Ende.
In einem erschütternden Fall hat das Hamburger Landgericht zehn Jahre nach einer verspäteten Tumor-Operation jetzt zugunsten eines Jungen aus dem Hamburger Süden entschieden. Das Universitätsklinikum Eppendorf muss 450.000 Euro Schmerzensgeld an den inzwischen 24-Jährigen zahlen, der als 100 Prozent schwerbehindert gilt (Aktenzeichen 336 O 438/17). Die Eltern des Patienten, die ihn pflegen, müssen sich mit der Versicherung des UKE außerdem darauf verständigen, wie hoch die Summe ist, die ihnen zusteht, weil ihr Kind nie erwerbstätig sein oder einen Haushalt selbstständig führen kann.
Nach Aussage des Anwalts der Familie, Malte Oehlschläger, geht es dabei um eine siebenstellige Summe – und zwar nicht im unteren Bereich. Während des Prozesses soll die Versicherung des UKE bereits eine Million Euro angeboten haben, unter dem Vorbehalt, dass die "Gremien" zustimmen. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.
Behandlungsfehler am UKE: Schmerzensgeld für 24-Jährigen
Der Fall klingt nach den Akten des Gerichts und der Einschätzung mehrerer Gutachter für den unbefangenen Beobachter abenteuerlich. Insgesamt acht Expertisen wurden bis zum Urteil eingeholt. Der damals 13-jährige Junge hatte im Frühjahr 2011 über Kopfschmerzen, Erbrechen und neurologische Ausfallerscheinungen geklagt. Nach der Behandlung beim Kinderarzt kam er am 20. April zu einer Neurologin, da schon mit Sprechstörungen, einem „Doppelsehen“ und absoluter körperlicher Schwäche.
Sie ließ sofort eine Magnetresonanztotomografie (MRT) machen, die einen Hirntumor mit bis zu sieben Zentimeter Durchmesser zeigte. Die Radiologen empfahlen eine sofortige Operation noch vor Ostersonntag (24. April). Der Junge kam ins UKE, wo eine Ärztin alle Unterlagen erhielt, inklusive der MRT-Bilder. Dann gehen die Angaben darüber auseinander, ob diese Bilder verschwanden. Denn sie wurden bei der Radiologischen Praxis am nächsten Tag erneut angefordert.
Keine Operation kurz vor Ostern?
Und die Familie und das UKE stritten sich darüber, ob damals eine sofortige Operation besprochen wurde. Geplant wurde der Eingriff für den 26. April – nach Ostern. Bis dahin sollte der Junge mit einem Cortisonpräparat (Forticon) behandelt werden. Doch sein Zustand verschlechterte sich erheblich. Was genau in der Nacht vom 24. auf den 25. April passierte, ist weiter strittig. In jedem Fall musste der Junge am Morgen des 25. notoperiert werden. Am Abend führten die Ärzte einen weiteren Eingriff aus, denn das Leben des Patienten war weiter akut bedroht.
Er blieb auf der Intensivstation, kam danach für knapp ein Jahr in eine Reha-Klinik. Der Junge erlitt schwere neurologische Schäden. Das stellte auch das Gericht fest und verwies auf die „Einblutung des zystischen Tumors“, die der Junge während des Aufenthaltes im UKE vor der Operation erlitten habe. Es sei ein Behandlungsfehler gewesen, dass die Operation erst für ein späteres Datum geplant worden sei. Schon die MRT-Bilder seien ein „Alarmsignal“ gewesen, sofort zu handeln, so das Urteil des Landgerichts. Und: Das UKE hätte nicht bis nach Ostern warten dürfen.
UKE äußert sich nicht zum Urteil des Landgerichts
Auch ohne einen speziellen Kinder-Experten hätte jeder „Oberarzt mit Expertise im Bereich der Tumorchirurgie“ den dringend notwendigen Eingriff durchführen können. Mit Personalmangel über die Ostertage könne das UKE nicht argumentieren, so die Richter. Denn am Ostermontag habe man nach der Einblutung ja letztlich dann doch operiert. Alle Hirnschäden, schreiben die Richter, hätten dem Jungen erspart werden können, hätte man ihn früher operiert. „Wäre der Tumor bereits spätestens am 23.04.2011 operativ entfernt worden, hätte es zwangsläufig keine Einblutung in diesen Tumor am 25.04.2011 geben können.“ Das ist in den Augen des Gerichts ein „grober Behandlungsfehler“.
Die Familie des heute 24-Jährigen würde sich mit der Versicherung des UKE vergleichen, denkt nach Auskunft des Anwaltes dabei aber an eine Millionensumme, um unter anderem die Kosten für die Pflege aufzubringen. Das Gericht sprach ihr schon fünf Prozent Zinsen auf das Schmerzensgeld seit Prozessbeginn im Jahr 2017 zu. Da sie keine Rechtsschutzversicherung hatte, musste sie die Prozesskosten vorschießen.
Das UKE teilte dem Abendblatt auf Nachfrage mit, man äußere sich grundsätzlich nicht zu laufenden Verfahren.